Kapitel 1:
Atemberaubende Schönheit
Aber aus Ehrfurcht vor Gott hielten sich die Hebammen nicht an den königlichen Befehl, sondern ließen die Jungen am Leben. 2. Mose 1,17
Es war ein absolut bezaubernder Moment, als mein jüngster Sohn geboren wurde – natürlich meine ich „bezaubernd“ nicht im Sinne von Zauberei, aber ich meine dieses Walt-Disney-Gänsehautgefühl, wenn man sich fühlt wie im Himmel. Ich liebte ihn schon, bevor er geboren worden war. Auf den ersten Ultraschallbildern sah er zwar noch ein bisschen wie eine ungelenke Transformers-Actionfigur aus, aber dennoch liebte ich meinen Sohn, noch bevor wir uns das erste Mal in die Augen sahen.
Das Leben und die Schönheit darin sind Geschenke. Ich spreche dabei nicht von der Art Schönheit, die vermarktet und in Flaschen und Formeln verkauft wird, sondern von der Art Schönheit, die sich schreiend in dem zerknitterten, kleinen Körper eines Neugeborenen zeigt. Das Leben in dieser zerbrechlichsten Form ist ein Geschenk an die Welt – ein Zeichen für etwas Größeres, Gewaltigeres, Tieferes.
Ich komme ständig mit Leuten ins Gespräch – Menschen, die stark und furchteinflößend sind, Menschen, die Narben und Lederjacken tragen und viele Tattoos haben – und diese Menschen sagen, dass die Geburt eines Babys ihren ganzen Schmerz wegnahm. All ihre Verbitterung verließ sie, als sie ein kleines, 3000 Gramm schweres Bündel aus Haut und Knochen in ihren Armen hielten. Ein kleines Baby, das noch nichts allein tun kann, schaffte es, dass diesen Menschen plötzlich bewusst wurde, was für ein riesiges Geschenk das Leben ist. Ein kleines Baby raubte ihnen den Atem.
Als sie mir ihre Geschichten erzählten, verstand ich sie. Auch ich habe Momente, in denen ich ganz neu über das Geschenk des Lebens staune. Es muss nicht immer ein neugeborenes Baby sein, das mich daran erinnert; dieses Geschenk zeigt sich in jedem Ausdruck von Freundlichkeit und Güte. Es liegt in der Schönheit und in der Hoffnung, die wir jeden Tag in den kleinen Momenten unseres Lebens finden können.
Leben hat Macht. In Schönheit ist Stärke. Wenn man länger darüber nachdenkt, ist das sehr beeindruckend, und es ist wichtig, sich immer wieder an diese Wahrheit zu erinnern.
Ich erinnere mich an einen Mann, der jahrelang alkoholabhängig war. Er war überall unerwünscht und wurde von allem ausgeschlossen. Die Polizei brachte ihn regelmäßig aus der Stadt heraus. Er erzählte mir davon, wie es war, auf Entzug zu sein: Er wollte von den Drogen loskommen und sehnte sich danach, dass es ihm endlich besser ging, doch als der Alkohol dann langsam seinen Körper verließ, fing er heftig an zu zittern und ihm würde speiübel. Er war elend und fühlte sich am Ende.
Die Erinnerungen an diese schreckliche Zeit sind inzwischen verschwommen, doch an eines erinnerte sich dieser Mann noch ganz genau: Eine nette Krankenschwester saß bei ihm, hielt seinen Kopf in ihrem Schoß und strich ihm liebevoll übers Haar, wie es seine Mutter getan hätte – hätte sie ihn je geliebt. Er erzählte mir, er hätte nur noch geweint – dort, im Schoß der Liebe –, denn er hatte sich nicht mehr daran erinnern können, wann ihn zuletzt jemand so freundlich berührt hatte.
Die erfahrene Freundlichkeit hinterließ einen tiefen Eindruck bei ihm. Er spürte die Kraft der Liebe. Heute ist er ein leidenschaftlicher Mann Gottes, der jeden Tag für andere Menschen in Not kämpft und versucht, Güte in eine dunkle und einsame Welt zu bringen. Als er mir diese Geschichte erzählte, war er mein Supervisor in der Heilsarmee. Seine Geschichte ist ein großartiges Beispiel dafür, was ein einziges Leben – und die Kraft der Freundlichkeit – in dieser Welt bewirken kann.
Das ist es, was ich an der Exodus-Geschichte so liebe. Die Geschichte, wie Gott sein Volk aus der Sklaverei in Ägypten befreit, hat eine gewaltige Kraft – und ist bis heute aktuell. Gottes Befreiungsgeschichte ist kein Märchen; Menschen aus Fleisch und Blut haben sie erlebt. Menschen, die das wahre Leben kannten und wussten, wie schwer es sein kann. So ist die „Hintergrundkulisse“ dieser Geschichte in der Tat sehr düster, so als wollte Gott zeigen, dass er wirklich weiß und versteht, wie hart die Umstände sein können, die uns Angst machen und gefangen nehmen. Doch die Schönheit des Lichts und die Kraft der Liebe, Güte und Wahrheit sind vor dieser dunklen Kulisse umso überwältigender. Vor allem die Kraft der Freundlichkeit und Güte zeichnet sich vor diesem Hintergrund in atemberaubender Intensität ab.
In vielerlei Hinsicht ist die Geschichte vom Auszug aus Ägypten auch die Geschichte eines neuen Lebens. Es ist die Geschichte, wie Gottes Volk „geboren“ wird. Die Geschichte, die mit einer Tragödie von Sklaverei, Gebundenheit und Angst beginnt, ist in Wahrheit die Geschichte der Geburt von etwas Neuem; die Geschichte von Hoffnung, Güte und Schönheit – die Geschichte, die die Welt verändern wird.
Der revolutionäre Anfang
Der Auszug in die Freiheit begann nicht erst, als Mose vor dem Roten Meer stand und darauf wartete, dass es sich teilte. Er begann auch nicht, als Mose vor dem Pharao stand und ihn bat, sein Volk ziehen zu lassen. Er begann nicht, als Mose vor dem brennenden Busch stand und Gottes Stimme hörte. Und es war auch nicht der Anfang der Geschichte, als Mose realisierte, dass er fliehen musste, weil er gerade einen ägyptischen Sklaventreiber getötet hatte. Es waren zwei Frauen, mit denen die Exodus-Geschichte begann, noch bevor Mose überhaupt geboren worden war.
Zwei Frauen – in einer Welt, in der Frauen kaum etwas zählten. Und es waren noch nicht einmal ägyptische Frauen, die wenigstens etwas Einfluss oder Macht besessen hätten. Die bekannteste biblische Befreiungsgeschichte beginnt mit zwei einfachen hebräischen Hebammen, doch in den Augen der damaligen Welt hatte ihr Leben kaum eine Bedeutung.
Eines Tages forderte der König Ägyptens, getrieben von Wut und Angst, diese beiden hebräischen Frauen auf, etwas Böses und unvorstellbar Grauenvolles zu tun. Er wollte, dass sie alle neugeborenen Jungen der Hebräer töteten. Als Hebräerinnen war ihnen der Wert des einzelnen Lebens gelehrt worden, was diese ohnehin schon schreckliche Tat für sie noch grausamer gemacht haben musste. So wurden im Schöpfungsbericht der Hebräer alle Menschen hochgeachtet und wertgeschätzt – nicht aufgrund dessen, was sie taten, sondern schlicht und ergreifend deshalb, weil Gott sie geschaffen hatte. Sie waren wertvoll an sich. Einfach nur geboren zu werden, war der Beweis dafür, dass Gott einen „sehr gut“ nannte.
Der Pharao hatte jedoch eine ganz andere Weltsicht. Für die alten Ägypter hatten Menschen keinen Wert, sondern einen Nutzen. Und Frauen waren das Eigentum der Männer. Die hebräischen Jungen wurden zu einer potenziellen Bedrohung, die eliminiert werden musste. Ich bezweifle, dass der Pharao bei seinem grausamen Befehl eine persönliche Betroffenheit verspürte; das ist bei Bösen selten der Fall. Es war sehr wahrscheinlich eine kalte, rationale Entscheidung: Es war besser, wenn die hebräischen Jungen starben.
Die ägyptischen Hebammen wären wahrscheinlich eher in der Lage gewesen, dem Befehl des Pharaos Folge zu leisten und seine Argumentation zu schlucken, dass diese Babys eben „unnötig“ waren. Schließlich hatten auch sie ein anderes Menschenverständnis.
Tatsächlich können wir in unserer heutigen Kultur ebenso „überzeugende“ Gründe dafür finden, warum Kinder gar nicht erst geboren werden sollten. Doch das galt nicht für die alten Hebräerinnen. Die hebräischen Hebammen wussten etwas, das ihre ägyptischen Kolleginnen nicht wussten: Sie wussten, dass jedes Leben ein Geschenk ist. Sie wussten, dass Babys nicht vom Storch gebracht wurden oder von Menschen geplant werden konnten. Sie wussten: Jedes neue Leben kommt von Gott. Und dass das Leben ein Geschenk ist.
Also taten diese zwei Frauen etwas äußerst Mutiges: Sie sagten Nein. Und wissen Sie was? Jede revolutionäre Tat beginnt mit einem Nein. Als diese zwei Frauen, die zu den Machtlosesten der Gesellschaft gehörten, dem mächtigsten (menschlichen) Herrscher die Stirn boten, geschah etwas. Es war, als würde die Zeit für einen Augenblick stillstehen. Die Welt wurde auf den Kopf gestellt – wenn auch nur für einen kurzen Moment. Doch dieser Moment reichte aus, und alles veränderte sich. Die größte biblische Befreiungsgeschichte fand ihren Anfang mit zwei Frauen, die an Gott glaubten, an die Schönheit und an das Leben – und die bereit waren, ein Risiko einzugehen, um das Richtige zu tun, egal, was es sie kosten würde. Durch ihren Glauben und ihren Mut kam Licht in eine unglaublich düstere Zeit.
Wir kennen sogar die Namen dieser beiden Frauen: Schifra und Pua. Der Name des damaligen Pharaos ist nicht eindeutig bekannt – aber hey, was ist schon Besonderes an einem tyrannischen König, dass man seinen Namen kennen müsste? Doch hebräische Hebammen, die sich einem tyrannischen König widersetzen, das ist wirklich etwas Bemerkenswertes! Ihre Namen wurden verewigt, weil sie einem despotischen Herrscher die Stirn boten, um Gott, den König des Lebens, zu ehren. Sie ließen die Jungen am Leben.
Zu jener Zeit wurde ein kleines Baby geboren, und die Eltern sahen, dass ihr Junge schön, besonders und wertvoll war – das, was (hoffentlich) alle Eltern sehen, wenn sie ihr Kind anschauen.
Doch dieses Kind war nicht nur subjektiv betrachtet etwas Besonderes. Das kleine Baby wuchs heran und wurde zu dem außergewöhnlichen Helden Mose, der einmal das Volk Gottes aus der Sklaverei in die Freiheit führen würde....