Eine weinende Figur sitzt, die Hände ihr Gesicht bedeckend, vor dem Eingang eines Gebäudes, dessen bronzene Türen verschlossen sind. Vor der Figur auf der Treppe liegen zerrissene sienafarbene Leinwände. Was ist geschehen? Warum weint diese gesichtslose Gestalt? Gezeigt wird das Ergebnis einer vorangegangenen Handlung, die trotz aller Andeutungsversuche unsichtbar bleibt. Der Raum hinter den Türen ist für die sitzende Figur genau so verschlossen wie die Bedeutung der Szene für den Beobachter geheimnisvoll wirkt.
Eine historische Analyse über die Entstehung und die Autorschaft dieses Bildes könnte hier etwas Licht ins Dunkle bringen. Jedoch würde dieses Licht nur die äußeren Bedingungen des Kunstwerkes beleuchten. Das Bild an sich bliebe dabei als rückblickende Darstellung eines unsichtbaren Geschehens unberührt. In ihrer Verschlossenheit ist die entworfene Szene vollkommen und offen zugleich. Es ist ein Verdienst der mimetischen Malerei, nicht nur illusorische Barrieren zu sprengen und mit diesen auf rätselhafter Weise zu spielen, sondern auch die lineare (zeitlich gebundene) Erzählung einer Begebenheit in die zeitlose Präsenz eines mehrdeutigen Augenblickes zu verwandeln. Von einem ausgewählten Standpunkt ausgehend erzählt dieses Bild eine tragische Geschichte, deren Einzelheiten man nicht erfahren muss, um das intensive Gefühl einer unerträglichen Hoffnungslosigkeit nachempfinden zu können. Man befindet sich außerdem in der außergewöhnlichen Situation, dass der ausgehende Standpunkt zugleich das Ende einer Tragödie repräsentiert oder zu repräsentieren scheint: eine besondere Ruhe vor und nach dem Sturm, der in der Spannung einer unaufhörlich mitleiderregenden Bildkomposition eingefroren ist.
Wie können Wörter dieses Bild beschreiben, welches alle Erzählmöglichkeiten in seiner Verschlossenheit auszuschließen scheint? Wie kann ein derart offenes Kunstwerk ohne jegliche schriftliche Anhaltspunkte – seien diese aus der Kunstgeschichte, der Literatur oder der religiösen Überlieferung – mit einem zeitlich gebundenen Medium wie dem Wort gebührend beschrieben, verinnerlicht, zelebriert oder, je nach Dreistigkeit „des schreibenden Künstlers“, in eine höhere oder tiefere (etwa parodierende) Kunstebene befördert werden? Gewiss liegt Foucault nicht falsch, wenn er sagt: „Sprache und Malerei verhalten sich irreduzibel: vergeblich spricht man das aus, was man sieht: das, was man sieht, liegt nie in dem, was man sagt; und vergeblich zeigt man durch Bilder, Metaphern, Vergleiche das, was man zu sagen im Begriff ist“ (Foucault 1974, S. 38). Sowohl der Maler als auch der Lyriker stehen in jedem Augenblick der Schöpfung vor einem Übertragungsproblem seiner eigenen Vorstellungen. Die Schwierigkeit ist kognitiver Natur und damit auf die Sinnprozesse der künstlerischen und lyrischen Kreation übergreifend. Sollte man auf Grund der unterschiedlichen Gestaltungs- und Wahrnehmungserwartungen beider Disziplinen die Übertragbarkeit von Malerei in Dichtung und viceversa verneinen? Man kann mit unterschiedlichen Medien die gleiche Idee nicht ganz wiedergeben und ihre beabsichtigte Wirkung nicht hundertprozentig erzielen, da die materiellen Unterschiede dieser Medien und vor allem die mit ihnen verbundenen Erwartungen der Rezipienten dies nicht erlauben. Aber jede Disziplin des Kunstschaffens bedient sich ihrer eigenen Mittel, um Ähnliches auszudrücken. Wenn man von Kunstbeschreibung in der Literatur spricht, steht eine umfangreiche Vielfalt an schriftlichen Ansätzen zur Verfügung. Gerade diese Vielfalt macht es beinahe unmöglich, von übersetzbaren Kunstkategorien zu sprechen.
Eine Kunstbeschreibung, welche sich nicht mit der Zelebrierung eines Bildes begnügen will und sich auf den Kern des betreffenden Kunstwerkes konzentriert, seine Grundsteine erschüttert und wieder aufbaut, bietet durchaus eine Gelegenheit, den ausführlichen Prozess der Ekphrasis in einer selbstreflektierenden Arbeitsweise zu untersuchen. Aber wo findet man derartige Texte? Man mag hier etwa an den Ausdruck ut pictura poesis denken, wie Horaz diesen in seiner Epistula ad Pisones – bekannter als Ars Poetica (Verse 361-365) – prägte. Das Gedankengut hinter diesen Worten mag er einem Zitat aus Plutarchs Werk De Gloria Atheniesium (I 346f) entnommen haben. Plutarch schrieb dort den Satz τὴν μὲν ζωγραφίαν ποίησιν σιωπῶσαν [...] τὴν δὲ ποίησιν ζωγραφίαν λαλοῦσαν (lt. poema pictura loquens, pictura poema silens; dt. die Malerei [sei] schweigende Poesie, die Poesie sprechende Malerei) dem Dichter Simonides von Keos zu. Im Grunde genommen unterstützen beide Zitate das gleiche Argument: Der Literatur wird die der Malerei zugeschriebene Fähigkeit eingeräumt, ästhetischen Genuss im Betrachter zu wecken. Es geht hier jedoch nicht um eine einfache Gleichung, sondern um die Begründung einer äquivalenten Wirkung durch unterschiedliche Methoden. Simonides bedient sich via Plutarch Oxymora, um den Parallelismus beider künstlerischer Ausdrucksmethoden zu pointieren. Horaz vertieft seinerseits Simonides’ Idee der Malerei als schweigender Poesie und der Poesie als sprechender Malerei, indem er weitere parallele Argumente durch die Wiederholung einer gleichartigen Syntax anführt: Die Malerei wird durch die Nähe zum Objekt (si propius stes) genossen, die Dichtung eignet sich eher für das Zuhören aus einer gewissen Entfernung (si longius abstes); die Malerei setzt für ihre Wahrnehmung Licht voraus (volet [...] sub luce videri), die Dichtung kann besser im Dunkeln (obscurum) zur Geltung kommen; die Malerei gefällt auf den ersten Blick (placuit semel), ein Gedicht gefällt am besten, wenn dieses mehrmals wiederholt wird (deciens repetita placebit). Die unterschiedlichen Produktions- und Wahrnehmungsbedingungen beider Gattungen (ἐιδῶν) wurden bereits in der Antike ausdifferenziert, jedoch als ebenbürtige Ausdrucksformen betrachtet. Gleichwohl hat die mimetische Naturrepräsentation in der Malerei und in der Literatur seit der Entstehung dieses theoretischen Ansatzes für nicht wenige Interpretationen gesorgt.[2] Unabhängig davon, wie die synästhetische Korrelation von Dichtung und Malerei, deren umstrittene Ähnlichkeiten und Überlegenheitsansprüche, vom jeweils herrschenden Diskurs beleuchtet werden, sind beide Schöpfungstätigkeiten gleichberechtigte Ausdrucksformen. Im schlimmsten Fall ensteht aus der Praxis der Ekphrasis eine subalterne Bilddialektik.
Das Bildgedicht wird immer an den kulturellen Ansprüchen seiner Entstehungsepoche gemessen. Dass die besten Bildgedichte der Moderne hauptsächlich Vorlagen aus dem reichen Becken der zeitgenössischen Kunst beachteten, ist also kein Wunder.[3] Wie verhält sich dann Dichtung aus der Gegenwart zu Renaissance-Malerei? Wie kann eine Sprache, die seit der Moderne ihre Selbstverständlichkeit aufgegeben hat, ein Bildgedicht nach einer naturalistischen Vorlage komponieren? Steckt in diesem Unternehmen nicht von Vornherein eine Art lyrische Kunstregression? Oder handelt es sich vielmehr um eine Revidierung bislang unbeachteter Kulturwerte anderer Epochen?
Zahlreiche Dichter der Postmoderne haben neue Wege der Ekphrasis erforscht und zu einem umfassenden forschungswürdigen Thema ausgebaut. Dabei handeln ihre Texte nicht immer von Bildern, die in derselben Zeitepoche des Dichters zu verankern sind.[4]
Dass Spanien traditionell ein Dichterland ist, mag wohlbekannt sein. Was man aber dabei beachten soll, ist, dass gerade die Technik der Ekphrasis in der Heimat von Cervantes im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts eine florierende Zeit erlebt hat. Einige Namen wie Gil de Biedma, Carmen Martín Gaite, José Angel Valente oder Ana Rosetti stechen mit neuartigen Ekphrasisansätzen in der westlichen Lyrikszene heraus.
Dennoch müsste man, um den passenden Gegenstand dieser Studie, welche das postmoderne Bildgedicht in vitro erforschen möchte, zu finden, einen Dichter aufspüren, der zugleich ein guter Maler und Übersetzer ist und diese Tätigkeiten bewusst in seine Lyrik einfließen lässt. Nach diesen Vorgaben reduziert sich das Exerzierfeld dieser Studie augenblicklich auf wenige Namen.
Die passende Figur kommt etwas unerwartet aus dem Reich der verkannten Dichter. Das Lebenswerk des Dichters, Malers und Übersetzers Aníbal Núñez (1944-1987) entwickelte sich unbemerkt auf einer dem poststrukturalistischen Diskurs verwandten Ebene, die seine Zeitgenossen nur begrenzt verstanden.
Nachdem man zugeben musste, dass „der gefallene Ikarus“ den (stillen) Krieg der Sinnprozesse aus dem Grab unaufhaltsam weiter führt, erscheint sein Name immer wieder in Anthologien zur spanischen Lyrik. Er erscheint darin zu Recht, wenn auch mit unzureichenden Erläuterungen, um seine singuläre Position in der Lyrik der Postmoderne zu erläutern.[5] Die unvollendete Perfektion seines Lebenswerkes öffnet auch neue Wege der literarischen Kreation.[6] Vor diesem Hintergrund versteht sich die vorliegende Studie als Versuch zwischen kreativem Impuls und akademischer Leistung. Um sein lyrisches Design...