DER AUFSTIEG
Lenins Tod war Stalins politische Geburtsstunde. Spätestens jetzt, Anfang 1924, war der Aufstieg des Mannes, der bald die unumschränkte Herrschaft über die Sowjetunion erringen sollte, besiegelt. Die Grundlage für diese Entwicklung hatte der Bürgerkrieg der Jahre 1918 bis 1922 geschaffen. Es war ein langer Kampf, den die Bolschewisten gegen die Gegner der Revolution im Innern und Äußeren zu bestehen hatten.
Durch die Entbehrungen während des Krieges, durch Hunger und Elend war in der Bevölkerung der revolutionäre Elan der ersten Jahre versiegt. Doch nicht nur die Stimmung im Volk hatte der Bürgerkrieg verändert. Er hatte auch einen strukturellen Wandel innerhalb der bolschewistischen Partei bewirkt, der sich für Stalins Karriere als hilfreich erweisen sollte. Bis zum Bürgerkrieg war die Partei kaum mehr als ein Zusammenschluss Gleichgesinnter gewesen. Während des Krieges wurde ihr administrativer Charakter nun so gestärkt, dass sie schrittweise zum bürokratischen Machtapparat mutierte. Nicht nur schuf man den Posten des Generalsekretärs des Zentralkomitees, den Stalin 1922 einnahm. Auch das Politbüro, das ursprünglich nur die Entscheidungen zwischen den Sitzungen des Zentralkomitees zu verantworten hatte, entwickelte sich jetzt zum eigentlichen Führungsorgan.
Nicht lange nach dem Ende des Bürgerkriegs hatte Lenin, Kopf der bolschewistischen Partei und Vordenker der Oktoberrevolution, einen Schlaganfall erlitten, weshalb er die Regierungsgeschäfte nur noch mit Mühe führen konnte. Sein Gesundheitszustand hatte sich bereits zuvor kontinuierlich verschlechtert, weitere Zusammenbrüche waren gefolgt, sodass er in seinen letzten Lebensmonaten kaum zu sprechen imstande war. Allen musste klar sein, dass sein Ableben und damit eine Neuformierung der Parteispitze unmittelbar bevorstand. Aber auch wenn die Nachfolgekämpfe im Politbüro längst offen ausgebrochen waren, schien man nicht vorbereitet auf jenen Augenblick, als Lenin am 21. Januar 1924 im Alter von 53 Jahren starb.
Wenige Tage später, am 27. Januar, wurde er in Moskau beigesetzt. Nicht nur die Bevölkerung trauerte um den Mann, der wie kein anderer für die Versprechen der Revolution stand: für eine Gesellschaft von gleichen und freien Menschen. Erschütterung herrschte auch im Politbüro. Nikolai Iwanowitsch Bucharin, von 1918 bis 1922 Chefredakteur der «Prawda» und Verfasser des Programms der Kommunistischen Internationalen, rang vor dem aufgebahrten Leichnam um Worte, der Verlust des Revolutionsführers ging ihm offenbar allzu nahe. Lew Kamenew, der Moskauer Parteichef, hielt eine lange emotionale Rede. Grigori Sinowjew schließlich, einer der engsten Vertrauten Lenins und Chef der Komintern, stand zu Tränen gerührt am Sarg.
Ein anderer Genosse war gar nicht erschienen – Leo Trotzki, der zweite Mann nach Lenin, Held der Revolution und Schöpfer der Roten Armee, der in der Bevölkerung größtes Ansehen genoss. Trotzki hielt sich in Lenins letzten Lebenswochen aus gesundheitlichen Gründen im Kaukasus auf. Statt sofort nach Erhalt der Todesnachricht aufzubrechen, um in dieser politisch heiklen Lage Präsenz zu zeigen und die Geschicke vor Ort in Moskau zu regeln, verharrte Trotzki fernab in der Provinz und zog es vor, sich die Trauer über Lenins Tod von der Seele zu schreiben.
In seinen Memoiren gibt Trotzki Stalin die Schuld an seinem Fernbleiben, habe dieser ihm doch einen falschen Beerdigungstermin mitteilen lassen, der es ihm unmöglich gemacht habe, rechtzeitig in Moskau einzutreffen. Dass er es auch danach nicht für nötig hielt, ins Zentrum der Macht zurückzukehren, zeugt gewiss von mangelndem Instinkt. Vor allem zeigt es, wie sehr Trotzki auf seinen eigenen Nimbus und das Ansehen im Volk vertraute. Dass er die sicher geglaubte Position als Thronfolger verteidigen musste, kam ihm nicht in den Sinn. Es war auch Hochmut im Spiel: Trotzki hielt – was Stalin betraf, vielleicht zu Recht – seine Widersacher für intellektuell unterlegen, deshalb unterschätzte er sie.
Wie anders reagierte Stalin! Er war seit zwei Jahren Generalsekretär des Zentralkomitees und eines von sieben Mitgliedern des Politbüros. Sofort hatte er erkannt, dass die Beisetzung Lenins die Gelegenheit bot, seine Machtposition entscheidend auszubauen. So war er es gewesen, der dafür sorgte, dass gegen Lenins letzten Willen und gegen den Widerstand seiner Witwe Nadeschda Krupskaja das Begräbnis als ein großer feierlicher Akt inszeniert wurde.
Lenins Leichnam war auf Stalins Betreiben auf dem Roten Platz in Moskau aufgebahrt worden. Zu den Klängen der Internationale wurde der offene Sarg zum eigens errichteten Mausoleum getragen, einem provisorischen Holzbau, an dem Stalin mit anderen die Totenwache hielt. Eine halbe Million Menschen, die in klirrender Kälte Schlange stand, nahm Abschied vom Führer der Revolution. Genau um 16 Uhr, als der Sarg langsam in die Gruft hinabgelassen wurde, heulten in ganz Russland die Sirenen. Im Radio vernahm man die Worte: «Erhebt euch, Genossen, Iljitsch wird ins Grab gesenkt.» Dann folgte Schweigen, und alles stand still – Züge, Schiffe, Fabriken –, bis im Radio zu hören war: «Lenin ist tot – aber der Leninismus lebt!» Wie um zu beweisen, dass der Leninismus wirklich lebte, präsentierte Stalin einen Körper, der wie die Heiligenreliquien gegen Verwesung gefeit war. Daher wurde der Leichnam einbalsamiert – gegen den Widerspruch Trotzkis, Bucharins und Kamenews.
DER SCHWUR
Aber nicht nur seine Präsenz auf der Beisetzung sollte Stalin die Aufmerksamkeit des trauernden Volkes sichern. Vor allem war es die Rede, die er zum Tode Lenins hielt – mit ihr zeigte er sich im entscheidenden Moment als pragmatisch agierender Realpolitiker, der, wenn es darauf ankam, den richtigen Ton traf.
Stalin trauerte nicht, er schwor. Er verlor sich nicht in sentimentalen Erinnerungen. Er zeigte keine Schwäche. Keine Orientierungslosigkeit. In knappen, verständlichen Sätzen, die klangen, als seien sie einem Gebetbuch entnommen, gelobte er, Lenins Vermächtnis zu erfüllen.
Schon der Auftakt der Rede zog die Zuhörer in den Bann: «Wir Kommunisten sind Menschen von besonderem Schlag. Wir sind aus besonderem Material geformt», hob Stalin an: «Wir sind diejenigen, die die Armee des großen proletarischen Strategen bilden, die Armee des Genossen Lenin. Es gibt nichts Höheres als die Ehre, dieser Armee anzugehören. Es gibt nichts Höheres als den Namen eines Mitglieds der Partei, deren Gründer und Führer Genosse Lenin ist. Nicht jedem ist es gegeben, Mitglied dieser Partei zu sein. Nicht jedem ist es gegeben, die Unbilden und Stürme zu bestehen, die mit der Mitgliedschaft in unserer Partei verbunden sind.»
In diesen Sätzen findet sich bereits vieles, was für den Stalinismus typisch werden sollte: der Vergleich der Partei mit einer Armee (unter Marx und Engels undenkbar), die starke Betonung ihrer führenden Rolle im Staat, die Verherrlichung des Führers – in diesem Falle noch Lenins –, und schließlich jenes elitäre Bewusstsein, «aus besonderem Material geformt zu sein», das die Genossen in Zukunft über so manche Entbehrung hinwegtragen sollte.
Dann gab Stalin kurz und prägnant die wesentlichen Errungenschaften und Ziele Lenins wieder und schloss jeweils mit einer fast gleichlautenden Formel: «Als Genosse Lenin von uns schied, hinterließ er uns das Vermächtnis, den erhabenen Namen eines Mitglieds der Partei hochzuhalten und in Reinheit zu bewahren. Wir schwören dir, Genosse Lenin, dass wir dieses dein Gebot in Ehren erfüllen werden!»
Indem er die Schlussformel wiederholte, verlieh Stalin seinen Worten einen fast litaneiartigen Charakter. Selbst jene Passagen, die das Wirken Lenins preisen, zeugen von geradezu religiöser Verehrung. Lenin habe, heißt es da, den unterdrückten Massen gezeigt, dass «die Hoffnung auf Erlösung nicht verloren» sei und dass «das Reich der Arbeit auf Erden und nicht im Himmel errichtet werden muss». Insgesamt sechsmal spricht Stalin die Schwurformel. Und schließt mit einem emphatischen Ausblick auf eine große Zukunft:
«Als Genosse Lenin von uns schied, hinterließ er uns das Vermächtnis, den Grundsätzen der Kommunistischen Internationale die Treue zu bewahren. Wir schwören dir, Genosse Lenin, dass wir unser Leben nicht schonen werden, um den Bund der Werktätigen der ganzen Welt, die Kommunistische Internationale, zu festigen und zu erweitern!»
Stalins Rede war ein brillanter Schachzug. Schon ihre Form war ganz und gar ungewöhnlich. Bewusst hatte Stalin sich für die religiöse Rhetorik entschieden, um seiner Rede Intensität zu verleihen. Von Weltrevolution kein Wort mehr. Er hatte in seiner Jugend ein Priesterseminar besucht und war mit den Regeln der Liturgie zur Genüge vertraut. Wie sonst wäre es zu erklären, dass er ausgerechnet den Schwur wählte, der der üblichen Sprache der Bolschewisten vollkommen fremd war!
Die Zuhörer waren beeindruckt. Stalins Redekunst hatte ihre Wirkung voll entfaltet. Im Gegensatz etwa zu Bucharin oder Kamenew, die durch den Tod Lenins wie gelähmt wirkten, beschwor Stalin als Einziger die Kraft der kommunistischen Idee und zeigte sich gewillt, diese Idee im Sinne Lenins fortzuführen. Am wichtigsten aber war: Genau in dem Moment, als die Parteispitze ein Bild der Auflösung bot, stiftete er inneren Zusammenhalt und gab den verunsicherten Genossen neuen Mut.
Hier offenbarte sich erstmals eine seiner wichtigsten Fähigkeiten: Stalin besaß ein untrügliches Gespür dafür, wie man Stimmungen im Volk für die eigenen Ziele nutzen konnte. So hatte er mit seiner Totenrede ein erstes...