KEIN PLASTIK
Um das mal vorwegzunehmen: Veganer zu sein und ohne Plastik zu leben ist so gut wie unmöglich, es sei denn, man reduziert das Essverhalten ausschließlich auf frisches Marktgemüse und lose Getreideprodukte. Jede Soja-, Hafer-, Reis- oder Mandelmilch kommt im praktischen Tetrapak daher. Tofu ist verpackt in Plastik, ebenso Sojajoghurt, Lupinenschnitzel, Seitangulasch oder auch Margarine. Muss jemand, der tierproduktfrei leben will, notgedrungen dazu beitragen, den Planeten mit einer Plastikschicht zu überziehen?
Mein Gang durch den Biosupermarkt endet schnell. Cornflakes gehen nicht, ebenso wenig wie jedes Müsli. Ich finde Haferflocken und Hirsegries in der Papiertüte. Das Kichererbsenglas hat einen Aludeckel. Aus Mangel an Alternativen kaufe ich eine Hafermilch und meine vegane Lieblingsmargarine. Zwei Punkte Abzug, und der Tag hat kaum begonnen. Mit „demeter“-Milch in der Glasflasche für meinen Sohn beende ich diesen unbefriedigenden Lebensmitteleinkauf und begebe mich ein Stockwerk höher in die Kosmetikabteilung.
Ich stehe hilflos vor Shampooflaschen in Plastik. Das darf doch nicht wahr sein. Kein einziges Shampoo ist in der Glasflasche zu haben. Die nette Verkäuferin beruhigt mich. Immerhin ist dieses Plastik recycelbar und enthält nicht die schädlichen Stoffe normaler Verpackungen. Aber ist nicht jedes Plastik angeblich recycelbar? Sie scheint mir keine Expertin, legt mir aber ein Shampoo ans Herz, das ausschließlich auf Lebensmittelbasis und komplett giftbefreit hergestellt wurde. „Das Haarspray haben wir hier sogar getrunken.“ Ich wende mich irritiert ab und erstehe – und jetzt kommt’s – eine Olivenölseife zum Haarewaschen und eine Glasflasche mit Obstessig, um daraus – wie ich im Netz gelernt habe – Essigwasser zu machen (statt Conditioner). Klo putzen kann ich damit auch noch. Halleluja. Das Ganze mag kostengünstig sein, schlechte Laune habe ich dennoch.
Ich kaufe Ökowindeln aus Maisstärke in der kompostierbaren Verpackung. Außerdem finde ich abbaubare Wattepads in einer ebensolchen. Ein Stimmchen spricht zu mir: Wäre es nicht ökologisch sinnvoller, sich mit einem Stofftuch abzuschminken? Ich summe laut, die Stimme verstummt. Beim Klopapier sieht es dagegen finster aus, ebenso bei den Spülmaschinentabs, die allesamt einzeln in Plastik- oder Alufolie verpackt sind. Ich beschließe, mich dazu noch einmal kundig zu machen und mich bis dahin mit Restbeständen durchzumogeln.
An der Kasse treffe ich die Haarspray-Dame wieder. Angesichts meiner Einkäufe fühle ich mich in Erklärungsnot und erzähle von meinen hehren Plänen. Die Frau sinniert säuselnd. Sie findet ja, es komme nicht auf die Vermeidung an, sondern auf eine andere Bewusstseinsebene. Die Lösung sei schlicht: Liebe. Wenn es gelänge, Plastik nicht abzulehnen, sondern es in Liebe anzunehmen, würde Mutter Erde uns den Weg weisen, wie diese von Menschen erschaffenen Moleküle auf natürlichem Wege wieder abgebaut werden könnten. Wer spreche denn noch mit den Bäumen auf der Straße und frage: Bruder Baum, wie geht es dir? Tja.
Ich fühle mich wie Harry Potter, der Dumbledore anschnauzt, er solle ihm nicht ständig mit seinem Geschwafel von der Macht der Liebe auf die Nerven fallen (oder so ähnlich).
Sie spricht weiter. Von einem grandiosen Putzwasser, das alle Flächen absolut rein hinterlässt, und von ihrer erhellenden Zusammenarbeit mit der wunderbaren Jasmuheen. Dieser Name lässt in mir die Alarmglocken schrillen. Ich habe vor einiger Zeit einiges über den von der Esoterikerin Jasmuheen – wie sie sich nennt – initiierten „Lichtnahrungsprozess“39 gelesen: Leben ohne Essen und Trinken, ausschließliche Ernährung von Prana (Atem) und Licht. Neben vielen erleuchteten Prana-Essern40 gibt es bei dieser Praxis offenbar immer wieder Fälle von recht weltlichem Sterben durch Verhungern oder aufgrund fehlender Flüssigkeitszufuhr. Die konnten dann wohl ihr Herz dem Göttlichen nicht weit genug öffnen …
Ich bin durchaus offen für Spiritualität, glaube an die Macht des Geistes, an Homöopathie und eine größere, meinetwegen göttliche Kraft, die mich leitet. Aber ich habe auch erfahren, wie gerade unter allzu dogmatischen Esoterikern recht unschöne Energien aufkommen können, durch mehr oder weniger subtilen Druck und die sanft-aggressive Aura derer, die es besser wissen.
Als hätte sie meine Gedanken gehört, eröffnet mir die Dame, dass nur wirklich weit ist, wer auch Hitler als das, was er war und getan hat, annehmen und lieben kann. Ich sage, dass ich nicht denke, jemals auf diese Bewusstseinsstufe vorzudringen. Mit mitleidigem Lächeln entschwebt sie, möglicherweise um sich ein weiteres Schlückchen Haarspray zu genehmigen.
WELT AUS PLASTIK
Um mich zu motivieren, sehe ich mir als erste Maßnahme den Film „Plastic Planet“41 von Werner Boote an. Der Enkel des Geschäftsführers eines Plastikwerks beschreibt darin, wie es kam, dass unsere Welt sich in einen „Plastik-Planeten“ verwandelt hat, und welche Gefahren das birgt.
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In den Meeren treibt inzwischen sechsmal mehr Plastik als Plankton, im Zentrum der gigantischen Plastikstrudel steigt es zum Teil gar auf ein Verhältnis von 60:1. Tiere sterben mit plastikverklebten Mägen, Gifte, die das Hormonsystem beeinflussen, werden in Babyspielzeug gefunden, und auch in Blut und Urin der meisten Menschen (bis hin zu Amazonas-Indianern und Inuit) lassen sich Chemikalien aus Plastikprodukten nachweisen. Industrieunabhängige Wissenschaftler haben einen Zusammenhang zwischen bestimmten Plastikzusatzstoffen wie Bisphenol A (BPA), Phthalaten, Quecksilber, Flammschutzmitteln etc. und der Zunahme von Krebs, Allergien, ADS, Lernbehinderungen und anderer „moderner Krankheiten“ nachgewiesen. Die Weichmacher in Plastikflaschen und Tupperware treten besonders bei Wärme aus, wobei diese Chemikalien wie Östrogen funktionieren und so unter anderem die Spermaproduktion und den Testosteronhaushalt bei Männern beeinflussen können. Unfruchtbarkeit oder Fehlgeburten können die Folge sein. Allein in den letzten 50 Jahren habe sich die Spermaproduktion bei Männern um 53 Prozent reduziert. Ich denke an einige Freunde und Bekannte, die mit zunehmend verzweifelten Maßnahmen versuchen, Kinder zu bekommen, und an den Boom, den in meiner Wahrnehmung Kinderwunschzentren erfahren haben. Kann das tatsächlich mit der Omnipräsenz von Kunststoffen zu tun haben? Immerhin leben wir und werden zumindest in der westlichen Welt auch immer älter. Wissenschaftler, mit denen Werner Boote spricht, erklären dazu: Die Gifte wirken langsam, nicht tödlich, sondern auf subtilere Weise gesundheitsschädigend. Einer davon rät, auf dem Weg zur Chemotherapie darüber nachzudenken, ob Plastik unsere Lebensqualität tatsächlich verbessert hat.
Die zuständige EU-Kommissarin erklärt dem Filmemacher sehr offen, über die Gefahren Bescheid zu wissen. Es wird versucht, die Verpackungsindustrie zur genaueren Kennzeichnung ihrer Produkte zu verpflichten, doch der EU-Kommission sind international die Hände gebunden. Zwar gibt es EU-weit immer mehr Verbote, doch Importprodukte mit kaum nachvollziehbaren Inhaltsstoffen unterwandern diese Kontrollen. Das System ist mir aus anderen Zusammenhängen bekannt: Es ist nicht Aufgabe der Produzenten, zu beweisen, dass ein Produkt unbedenklich ist, sondern der Verbraucher und die zuständigen Behörden müssen nachweisen, dass eine Gefahr besteht.
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Mich beeindruckt in dem Film besonders eine Szene, in der Werner Boote von dem Biologen und Plastikforscher Frederick vom Saal von der Universität Missouri-Columbia das Ergebnis seiner Blutuntersuchung unterbreitet wird. Die deutliche Verunreinigung seines Bluts mit BPA führt dem Wissenschaftler zufolge dazu, dass Boote gerade noch fruchtbar genug ist, geistig oder körperlich beeinträchtigte Kinder zu zeugen. In der Szene ist der Filmemacher kein souveräner Beobachter, sondern ihm ist deutlich die Angst anzusehen. In einem Interview auf seiner Website zum Film beschreibt er diese Panik, die ihn bei seinen Recherchen irgendwann überkam. Als wäre die Welt von einer unsichtbaren Gefahr bedroht – nur merkt es keiner.
Ein weiterer Aspekt, den ich mir absurderweise noch nie so richtig klargemacht habe, ist die Bedeutung von Worten wie „Einweg“ oder auch „Wegwerfprodukt“.
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Plastik ist biologisch nicht abbaubar (es zerfällt lediglich in Kleinstteile), und zu seiner Herstellung wird Energie und Erdöl benötigt. Etwa vier Prozent des Rohöls werden für die Kunststoffherstellung benutzt. Endliche, nicht nachwachsende Ressourcen werden zur Produktion von Dingen verwendet, die von vornherein zum einmaligen Gebrauch bestimmt sind.
Natürlich gibt es Wertstofftonnen, doch Recycling ist bei Plastik notgedrungen ein „Downcycling“: Die Materialien sind nach dem Recyceln minderwertiger. Die unterschiedlichen Kunststoffe werden in Recyclingtonnen zusammengeworfen und können nicht vollständig getrennt werden. Aus dem neu gewonnenen Kunststoff werden dann beispielsweise Rohre gefertigt, durch die unser Wasser fließt. So haben wir alle Chemikalien auf einen Schlag in unserem Grundwasser. Nice.
Noch dazu ist Plastik nicht unendlich wiederverwertbar und taugt irgendwann nur noch als Brennstoff. Die austretenden Gifte werden zwar herausgefiltert, doch diese Filter müssen ja irgendwo hin. Was läge näher, als sie zusammen mit...