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E-Book

Antibiotika-Overkill

So entstehen die modernen Seuchen

AutorMartin Blaser
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl352 Seiten
ISBN9783451811043
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis20,99 EUR
Wir Menschen werden von zehntausenden Bakterien besiedelt. Vor allem in unserem Verdauungstrakt spielen diese Kleinstlebewesen, mit denen wir seit vielen Jahrtausenden in einer heilbringenden Symbiose leben, eine entscheidende Rolle für unser Wohlbefinden und unsere Gesundheit. Aber das fein austarierte Gleichgewicht in dem sogenannten Mikrobiom gerät seit einigen Jahrzehnten ins Wanken - paradoxerweise durch den übermäßigen und falschen Gebrauch eines unserer wirkungsvollsten Medikamente. Die These des Autors: Durch den falschen und übermäßigen Gebrauch von Antibiotika, aber auch durch zu viele Kaiserschnittgeburten ist es zu einem fatalen Artensterben in unserem Mikrobiom gekommen - was wiederum zur massiven Zunahme der modernen Zivilisationskrankheiten Diabetes, Übergewicht, Asthma und Nahrungsmittelallergien geführt hat. Der Autor ist Professor an der NYU und einer der weltweit führenden Experten zum Thema. Seine aufrüttelnden Thesen haben weltweit für Aufsehen gesorgt.

Prof. Dr. med. Martin Blaser, Leiter des Human Microbiom Program der New York University, erforscht seit 30 Jahren, welche Rolle Bakterien in unserem Verdauungstrakt (das sogenannte Mikrobiom) bei Erkrankungen wie Übergewicht, Diabetes und Asthma spielen.

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Leseprobe

1. Moderne Seuchen


Zwei der Schwestern meines Vaters lernte ich nie kennen. In dem kleinen Dorf, in dem sie Anfang des vergangenen Jahrhunderts zur Welt kamen, erlebten sie ihren zweiten Geburtstag nicht. Sie litten an hohem Fieber und vielen anderen Symptomen. Es war so schlimm, dass mein Vater ins Gebethaus ging und die Namen der Töchter änderte, damit der Engel des Todes sie nicht finden konnte. Er tat dies bei beiden Mädchen. Es half nichts.

1850 starb eines von vier amerikanischen Babys vor seinem ersten Geburtstag. Tödliche Epidemien wüteten in den übervölkerten Städten, die Menschen saßen in finsteren und schmutzigen Räumen mit stickiger Luft, aber ohne fließendes Wasser fest. Cholera, Lungenentzündung, Scharlach, Diphtherie, Keuchhusten, Tuberkulose und Pocken waren nur allzu wohl vertraute Gäste.

Heute stirbt in den Vereinigten Staaten nur noch eines von tausend Neugeborenen, bevor es das erste Lebensjahr vollendet – das ist ein erstaunlicher Fortschritt. Im Laufe der vergangenen anderthalb Jahrhunderte sind meine Nation und die anderen Staaten der Ersten Welt gesünder geworden.1 Das ist, unterm Strich, das Verdienst verbesserter hygienischer Zustände, von Rattengift, sauberem Trinkwasser, pasteurisierter Milch, Kinderimpfungen, modernen medizinischen Verfahren wie der Anästhesie und – natürlich – auch von siebzig Jahren Antibiotika.

Heute wachsen Kinder ohne verkrümmte Knochen auf, die das Ergebnis eines Vitamin-D-Mangels sind, und ohne Nasen­nebenhöhlenentzündungen. Achtzigjährige, die man früher auf die Veranda verbannte, spielen heute dank künstlicher Hüftgelenke Tennis.

Und doch ist in den vergangenen beiden Jahrzehnten, allen medizinischen Fortschritten zum Trotz, irgendetwas ganz schrecklich falsch gelaufen. In vielerlei Hinsicht werden wir wieder kränker. Man liest es jeden Tag in den Schlagzeilen. Wir leiden an einem ganzen Spektrum von dem, was ich »moderne Seuchen« nenne: Adipositas, Diabetes bei Kindern, Asthma, Heuschnupfen, Nahrungsmittelallergien, Ösophagusreflux sowie Krebs, Zöliakie, Morbus Crohn, Colitis ulcerosa, Autismus und Neurodermitis. Vermutlich ist jemand in Ihrer Familie, jemand, den Sie kennen, oder sogar Sie selbst daran erkrankt. Anders als die tödlichen Seuchen der Vergangenheit, die schnell und hart zuschlugen, mindern diese chronischen Krankheiten die Lebensqualität der Opfer oft über Jahrzehnte.

Die sichtbarste dieser Seuchen ist die Adipositas.2 Sie wird über den Body-Mass-Index (BMI) definiert, der das Verhältnis von Gewicht zu Körpergröße erfasst. Menschen mit einem gesunden Körpergewicht haben einen BMI zwischen 20 und 25. Wer einen BMI zwischen 25 und 30 aufweist, ist übergewichtig. Jeder mit einem BMI über 30 ist adipös. Barack Obamas BMI liegt etwa bei 23. Der BMI der meisten US-Präsidenten lag unter 27, mit Ausnahme von William Howard Taft, der einmal in der Badewanne des Weißen Hauses feststeckte. Er hatte einen BMI von 42.

1990 waren rund zwölf Prozent aller Amerikaner adipös. 2010 lag der Schnitt landesweit bei dreißig Prozent. Wenn Sie das nächste Mal am Flughafen oder im Supermarkt sind, schauen Sie sich einfach mal um und überzeugen Sie sich selbst. Die Seuche der Adipositas ist kein reines Problem der Vereinigten Staaten, sondern ein weltweites. Im Jahre 2008 waren nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) rund anderthalb Milliarden Menschen übergewichtig, davon galten über 200 Millionen Männer und fast 300 Millionen Frauen als adipös. Viele davon leben in den Entwicklungsländern, die man generell eher mit Hungersnöten als mit Fettleibigkeit in Verbindung bringt.

Das sind alarmierende Zahlen. Weitaus schockierender aber finde ich die Tatsache, dass es zu dieser Zunahme an menschlichem Körperfett nicht im Lauf von Jahrhunderten, sondern in den vergangenen beiden Jahrzehnten gekommen ist. Die fett- und zuckerreichen Nahrungsmittel, denen man gern die Schuld an den zusätzlichen Pfunden zuschiebt, gibt es jedoch – zumindest in den Industrieländern – schon sehr viel länger. Auch haben die übergewichtigen Menschen in den Entwicklungsländern nicht urplötzlich ihre Ernährung auf KFC-Hähnchen umgestellt. Epidemiologische Studien haben gezeigt, dass eine hohe Kalorienaufnahme, auch wenn sie sicherlich nicht gut ist, doch nicht ausreicht, den Verlauf und die Verbreitung der weltweiten Adipositas-­Seuche zu erklären.

Gleichzeitig verdoppelt sich die autoimmune Form der Diabetes, die bereits in der Kindheit beginnt und die Insulinspritzen erfordert (juveniler oder Diabetes Typ 1), in den ­Industrieländern in seiner Inzidenz alle zwanzig Jahre. In Finnland, wo es eine ­vorzügliche Aktenlage gibt, stellte man seit 1950 einen Anstieg um 550 Prozent fest.3 Das kommt nicht daher, dass wir Diabetes Typ 1 heute besser und eindeutiger erkennen können. Vor der Entdeckung des Insulins in den 1920ern verlief die Krankheit ausnahmslos tödlich. Heute überleben die meisten Kinder, wenn sie richtig behandelt werden. Die Krankheit selbst hat sich nicht verändert, bei uns hat sich etwas geändert. Immer mehr sehr junge Kinder sind von Diabetes Typ 1 betroffen. Man diagnostizierte die Krankheit früher im Schnitt im Alter von neun Jahren. Heute liegt das Alter bei sechs Jahren, manche Kinder erkranken schon im Alter von drei Jahren an Diabetes.

Der jüngste Anstieg bei Asthma, einer chronischen Entzündung der Atemwege, ist ähnlich alarmierend. Einer unter zwölf (rund 25 Millionen oder acht Prozent der US-Bevölkerung) hatte 2009 Asthma – verglichen mit einem unter vierzehn noch vor einem Jahrzehnt. Zehn Prozent der amerikanischen Kinder leiden unter Keuchen, Atemlosigkeit, Brustdrücken und Husten. Schwarze Kinder sind am stärksten betroffen, eines von sechs ist daran erkrankt. Ihre Rate erhöhte sich von 2001 bis 2009 um fünfzig Prozent. Und dieser Anstieg beim Asthma verschont keine Ethnie. Früher unterschieden sich die Anstiegsraten je nach Bevölkerungsgruppe, aber alle steigen an.

Asthma wird oft von Umweltfaktoren ausgelöst, etwa Tabakrauch, Schimmel, Luftverschmutzung, dem Kot der Küchenschabe, einer Erkältung oder einer Grippe. Bei einem schweren Anfall schnappt der Asthmatiker nach Luft und muss, hat er keine Medikamente zur Hand, sofort in die Notaufnahme. Selbst bei bester Behandlung kann er sterben – wie der Sohn eines Kollegen von mir, der selbst Arzt ist. Asthma verschont keine wirtschaftliche oder gesellschaftliche Schicht.

Nahrungsmittelallergien sind alltäglich geworden. Noch vor einer Generation gab es kaum eine Erdnussunverträglichkeit. Heute findet man in jedem Kindergarten Plakate, die ihn zur »erdnussfreien Zone« erklären. Immer mehr Kinder reagieren allergisch auf Proteine in ihren Nahrungsmitteln, nicht nur in Erdnüssen, sondern auch in der Milch, in Eiern, Soja, Fisch oder Obst – woran Sie auch denken, jemand ist allergisch dagegen. Zöliakie, die Allergie gegen Gluten, das Haupteiweiß in Weizenmehl, greift um sich. Zehn Prozent unserer Kinder leiden unter Heuschnupfen. Neurodermitis, eine chronische Entzündung der Haut, betrifft mehr als 15 Prozent unserer Kinder und zwei Prozent der Erwachsenen in den Vereinigten Staaten. In den Industriestaaten hat sich die Zahl der Kinder mit Ekzemen in den vergangenen dreißig Jahren verdreifacht.

Diese Krankheiten legen nahe, dass unsere Kinder in noch nie gekanntem Maße an Störungen des Immunsystems leiden, und dazu noch an Krankheiten wie Autismus. Auf diese viel diskutierte moderne Seuche konzentrieren wir uns gerade in meinem Labor. Aber auch Erwachsene haben ihren Anteil an den modernen Seuchen. Die Inzidenz von chronisch-entzündlichen Darm­erkrankungen, darunter Morbus Crohn und Colitis ulcerosa, steigt, wo immer wir auch hinsehen.

Als ich Medizin studierte, galt Ösophagusreflux, der Verursacher des Sodbrennens, noch als selten. Aber in den vergangenen vierzig Jahren hat sich die Krankheit explosionsartig verbreitet, ebenso wie der Krebs, den sie auslöst. Ein Adenokarzinom der Speiseröhre ist die sich am schnellsten verbreitende Krebsart in den Vereinigten Staaten und überall dort, wo solche Aufzeichnungen gemacht werden. Besonders für weiße Männer stellt es ein ernsthaftes Problem dar.

***

Warum nehmen diese Übel gleichzeitig in allen Industriestaaten zu – und in den verwestlichten Entwicklungsländern ebenfalls? Ist alles reiner Zufall? Da wir von zehn modernen Seuchen sprechen – gibt es dafür zehn verschiedene Ursachen? Das erscheint eher unwahrscheinlich.

Oder gibt es einen einzigen Verursacher, der für diese parallelen Anstiege verantwortlich ist? Eine einzige Ursache wäre leichter greifbar, sie ist einfacher und voraussetzungsärmer. Aber welche Ursache könnte so allgemein sein, dass sie unter anderem Asthma, Adipositas, Ösophagusreflux, juvenile Diabetes und spezifische Nahrungsmittelallergien auslöst? Die übermäßige Kalorienaufnahme vermag Adipositas zu erklären, nicht aber das Asthma. Viele Kinder, die an Asthma erkranken, sind schlank. Luftverschmutzung vermag Asthma zu erklären, wohl aber kaum Nahrungsmittelallergien.

Für jede dieser Erkrankungen ist eine Vielzahl an Ursachen diskutiert worden: Schlafmangel macht uns fett, Impfungen führen zum Autismus, genetisch veränderter Weizen ist Gift für den Darm des Menschen … und so weiter.

Die populärste Hypothese zur Erklärung des Anstiegs von Kindererkrankungen ist die sogenannte Hygienehypothese. Ihr liegt die Idee zugrunde, dass unsere Welt heute so blitzsauber ist, dass sie die modernen Seuchen auslöst. Sie schläfert das Immunsystem der...

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