In den sechziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts befand sich die Gesellschaft in einem Umbruch. In dieser Zeit wollte sich auch die ‚Gesellschaft im Kleinen’ – die Familie – neu definieren. Bis dahin waren autoritäre Erziehungskonzepte vorherrschend. Bei der alten Rollenverteilung war die Frau in der Familie Mutter und Hausfrau und der Mann das die Familie ernährende Oberhaupt. Dieses Familienbild führte vor allem bei den Frauen zu Widerstand, indem sie u. a. eine neue Definition der Geschlechterrollen und einen Anspruch auf freie Selbstentfaltung forderten. Demzufolge kam es zu einem fortschreitenden Autoritätsverlust des Mannes, denn die weiblichen Emanzipationsbestrebungen und eine antiautoritäre Erziehungsbewegung haben in diesen Jahren die Krise der bürgerlichen Familie symptomatisch hervortreten lassen.[53] Neben den Frauen hinterfragten auch die Kinder die ‚automatische’ Autorität des Vaters, der stets den Ton angab. Das ‚Familienoberhaupt’ sollte seine ‚Macht’ begründen und somit seine Kompetenz aufzeigen. Der Mann musste nun Flexibilität aufbringen und mit dem veränderten Rollenverständnis umgehen. Um die Familie aufrecht zu erhalten, war es für den Mann unumgänglich, seine alte Position in einem gewissen Maße zu ‚verlassen’. Zwar gab der Mann im öffentlichen Leben immer noch den Ton an, doch innerhalb der Familie verlor er an Autorität.
All dies führte in der Bundesrepublik auch in der Kinder- und Jugendliteratur zu einem „radikal veränderten Bild von Kindheit und Familie, von Erziehung und Autorität“[54]. Die AutorInnen hatten zunehmend das „Bedürfnis, die Familienproblematik zu reflektieren.[55] Sie versuchten in Kinder- und Jugendbüchern die Problematik zu objektivieren und damit zu einer Differenzierung der Sichtweisen beizutragen.
Dadurch kam es zu einem tief greifenden Wandel in der Wahl der Themen und Darstellungsformen und zu einer Kritik an der bisherigen Kinder- und Jugendliteratur, der man Verlogenheit und Realitätsabgewandtheit vorwarf, da dem Leser eine ‚heile’ Welt vorgegaukelt wurde, die es in der Form nicht gab.[56] Zudem war der Kindheitsbegriff in den 70ern emanzipatorischer. Dies führte zu einer folgenreichen Reform der Kinder- und Jugendliteratur. Die AutorInnen dieser Zeit vertraten einen Kindheitsbegriff, der auf den Prinzipien der Mündigkeit und Gleichheit beruhte.[57]
Engagierte und sozialkritische AutorInnen der realistischen problemorientierten Kinder- und Jugendliteratur der 70er Jahre, wie z.B. Christine Nöstlinger, Peter Härtling oder Susanne Kilian, nahmen die jungen Leser ernst und sahen sie „als mündige Partner an, denen man nicht länger die verharmlosenden Wirklichkeitsausschnitte einer ‚heilen’ Kinderwelt präsentieren durfte, die vielmehr das Recht hatten, ohne entmündigende Schonung über die ungeteilte harte Wirklichkeit mit all ihren Defiziten, sozialen Problemen, Ungerechtigkeiten und – oft unlösbaren – Problemen aufgeklärt zu werden.[58] Indem es zu einer thematischen Öffnung kam, wurden die Kinder zunehmend mit den Problemen der Erwachsenen konfrontiert. Durch den emanzipatorischen Anspruch der Kinder- und Jugendliteratur der 70er Jahre bekamen die jungen Leser das Recht, über alle gesellschaftlichen Defizite informiert zu werden. In dieser sozialkritischen Phase der Kinderliteraturreform wurden die bis dahin gültigen Tabus gebrochen. Bedrückende Erfahrungen in der Wirklichkeit wurden nun nicht mehr ausgeblendet.[59]
Dies galt auch für die Darstellung der Lebenswelt Familie. Diese wurde nicht länger als heile, vollständige und harmonische Lebensgemeinschaft gezeigt, sondern zunehmend als Ort, an dem Konflikte entstehen und ausgetragen werden müssen. An die Stelle einer Idylle rückten auch zuvor tabuisierte Themen wie zerrüttete Familienverhältnisse, unvollständige Familien und durch die Elternrolle überforderte Erwachsene in das Interessenzentrum der Autoren. Sie zeigten schonungslos Bilder von kaputten Familienstrukturen und übten Kritik an überholter Autoritätsanmaßung und starren Rollenzuweisungen. Letztere bestand in der BRD aus dem Bild der Frau als Hausfrau und dem des Mannes als Familienoberhaupt und als alleiniger Verdiener in der Familie. Damit ergriffen die Autoren Partei für Kinder, die nach deren Auffassung Opfer ihrer familialen Lebensbedingungen und verständnislosen Erzieher waren.[60] Die kindlichen Protagonisten erfuhren nicht mehr ausschließlich liebevolle Zuneigung und Verständnis seitens ihrer Eltern. Vielmehr erschienen auch die Eltern selbst als Opfer von schwierigen sozialen Lebensbedingungen, indem sie zum Teil unfähig waren, ihrer Elternrolle gerecht zu werden. Viele Autoren beschrieben nun belastete Kindheiten, die gekennzeichnet waren von schwierigen sozialen Verhältnissen und mangelndem Verständnis sowie von fehlender Zuneigung der Eltern. Somit wurden die kindlichen Helden zu Opfern familialer Lebensbedingungen und verständnisloser Erzieher.[61] Die Eltern erschienen nicht mehr nur als Ratgeber und Trostspender, sondern öfter sogar als Verursacher von „Beschädigungen“[62], also als Auslöser kindlicher Probleme. Viele AutorInnen stellen die Elternfiguren negativ dar und über somit Kritik an deren Rolle in der Familie.
Die Krise der bürgerlichen Familie, die Kritik an überkommenden hierarchischen Strukturen und tradierten geschlechtsspezifischen Rollenzuweisungen, wie sie vor allem durch die autoritäre Erziehungsbewegung, die Emanzipations- und Frauenbewegung in den Siebzigern verstärkt geäußert wurde, fand unmittelbar und konsequent in der Kinder- und Jugendliteratur ihren Niederschlag.[63] Dieser emanzipatorische Wandel konnte sich in der BRD stärker vollzogen werden, als es in der DDR durch die dort bestehende Zensur für Literatur, der Fall sein konnte. Vor allem war die ‚emanzipatorische Mädchenliteratur’ ein Medium der Familienkritik in der BRD. Das Motiv war häufig ‚Selbstbehauptung’ statt ‚Anpassung’.[64] Die in den Büchern dargestellten Familienstrukturen sind patriarchalisch ‚organisiert’, denn in den meisten Fällen handelte es sich um ‚Befehlshaushalte’, in denen die Eltern- und Kinderrollen nach traditionellen Mustern geschlechtsspezifisch klar verteilt waren. Die Mütter werden als zunehmend unzufrieden mir ihrem ‚Hausfrauendasein’ dargestellt. Hannelore Daubert stellte heraus, dass die jugendlichen Protagonisten einen harten Kampf um Selbständigkeit und Selbstbestimmung führten, während in den Büchern die kritische Auseinandersetzung mit den Eltern ein tragendes Motiv der emanzipatorischen Mädchenliteratur dieser Zeit war. Die jungen Protagonisten treten mehr und mehr rebellisch gegen elterliche Bevormundung und andere Fremdbestimmung auf. In der Literatur vollzog sich also ein Prozess der krisenhaften Ablösung vom Elternhaus. Die Jugendlichen grenzten sich von den vorgegebenen Modellen im Elternhaus ab und handelten entgegen den elterlichen Erwartungen. Damit kam es zu einer „kritischen Auseinandersetzung mit den starren, hierarchischen Beziehungsstrukturen innerhalb der Familie“[65]. Zudem wurde so deutlich, dass die Familienstruktur in ‚Befehlshaushalten’ einen verständnisvollen, partnerschaftlichen Umgang miteinander nicht zulassen konnte.
Ein Hauptziel der KinderbuchautorInnen war es, mit Hilfe ihres ‚Instrumentes Literatur’ die Autorität des Mannes als Oberhaupt in der Familie zu überwinden und sich somit der Gleichberechtigung beider Geschlechter in der Gesellschaft zu nähern.
In der DDR wurde die Familie auf Grundlage der marxistischen Philosophie als ein mit der gesellschaftlichen Produktion eng verbundenes soziales Verhältnis betrachtet. Verbunden mit den politischen Rahmenbedingungen und staatlichen Maßgaben wurde die ‚sozialistische Familie’ als neue Familienform in der DDR herausgestellt und ihr eine stabilisierende Funktion für die Gesellschaft zugeschrieben.[66]
Beim Übergang von den sechziger Jahren zu den Siebzigern kam es in der DDR, wie auch in der BRD, zu entscheidenden literarischen Wandlungen. Denn bei einer Vielzahl namhafter DDR-Autoren wie Benno Pludra, Alfred Wellm oder Günter Görlich erschienen die Kindfiguren oft als gefährdete Wesen in einer Gemeinschaft, die gegen ihre einstigen Ideale lebt.[67] Es kam also inhaltlich zu einer Verschärfung der Konfliktgestaltung und somit zu einem Rückgang des Optimismus in dem Erzählten der Kinder- und Jugendliteratur. Die heranwachsenden literarischen Helden waren nun oft hilflos, fragend, suchend, oder zweiflerisch dargestellt. Sie erschienen bei der Entdeckung ihrer eigenen Identität oft unsicher und ratlos, wobei sie an die Grenzen der DDR-Gesellschaft stießen und häufig mit ihrem Normendruck allein gelassen wurden. Diese neue Figurenkonstellation stand den...