2
Die Tür entdecken
Die Tür, die den Weg in das Reich des kontemplativen Lebens weist, steht unaufdringlich und jederzeit zu unserer Verfügung bereit, doch müssen wir uns selbst vom erbarmungslos drängenden Leben abwenden und sie öffnen. Der Mathematiker, Philosoph und Kardinal Nicolaus Cusanus – er lebte im 15. Jahrhundert – ließ in der Benediktinerabtei Tegernsee, der er als Spiritus Rector vorstand, jahrelang für seine Ankunft eine einfache Einsiedlerzelle bereithalten. Als geschätzter Diplomat wurde er jedoch vom Papst zu einer nie abreißenden Kette von Missionen ausgesandt, die er alle pflichtbewusst erfüllte. Verständlicherweise sehnte sich Cusanus danach, seinem aktiven Leben im Dienst der Kirche ein gleichermaßen aktiv der Meditation und dem Gebet geweihtes Leben ergänzend zur Seite zu stellen. Nach jeder Reise wollte Cusanus sich in seine Einsiedlerzelle zurückziehen, doch ist ihm dies nie gelungen. Die Forderungen des kirchlichen Lebens waren unerbittlich. Die Einsiedlerzelle stand bereit, wurde aber nie aufgesucht.
Das Innere pflegen
Meditation lehrt uns, das Leben von innen heraus zu erfahren. So wichtig die äußeren Aspekte des Lebens auch sein mögen, hinter der leicht zugänglichen Fassade der Dinge verbirgt sich ein ebenso wichtiger, doch weitgehend stiller Teil der Realität. Die meisten Menschen gehen ganz in den äußeren Pflichten und Freuden des Lebens auf. Beruf und Familie, Reisen und Freizeitunternehmungen füllen den Großteil der Stunden von unserem Tages- und Jahreslauf. Diese verschiedenen Aspekte werden unwillkürlich von außen erlebt, doch zu jeder Außenseite gehört eine Innenseite, und diese bleibt zumeist unbeachtet. Um das Leben von innen heraus zu betrachten, bedarf es einer bewussten Anstrengung.
Vergiss dein Leben. Sprich: Gott ist groß. Steh auf.
Du glaubst zu wissen, was die Stunde geschlagen hat. Es ist Zeit für das Gebet.
Du hast so viele kleine Figurinen geschnitzt – zu viele … Morgen wirst du sehen, was du des Nachts zerbrochen und zerstört hast,
als du in der Dunkelheit um dich schlugst. In deinem Innern ist ein Künstler, den du nicht kennst.
Er will nicht wissen, wie anders die Dinge im Mondenschein schimmern.38
Rhythmus, Tempo und Haltung
Weniger erhaben wird es, wenn wir die äußeren Umstände der Meditation betrachten – wann und wie oft wir meditieren, die angemessene Dauer, die richtige Körperhaltung und das, was ich als das «Tempo» der Meditation bezeichne. Und doch sind diese Fragen durchaus bedeutsam, also wollen wir sie gleich hier aufgreifen.
Unser Körper richtet sich auf die stimulierende Wirkung des Kaffees zu einer bestimmten Tageszeit ein, und bleibt der Kaffee dann aus, reagiert der Körper. In gleicher Weise kann sich unsere Psyche auf den wesentlich konstruktiver wirkenden Rhythmus des meditativen Lebens einstimmen. Wenn wir mit solchen Rhythmen leben, bauen wir das innere Leben auf und stärken es. Umgekehrt bewirkt die ungeordnete und willkürliche Meditationspraxis eine innere Dynamik, die konfliktbelastet und verwirrend ist. Dies ist insbesondere dann zu berücksichtigen, wenn es gelungen ist, eine feste, über lange Zeiträume eingehaltene Meditationspraxis zu befolgen. Die plötzliche Unterbrechung einer ansonsten regelmäßigen Ausübung kann sich als durchaus störend erweisen. Umgekehrt ist am Anfang jede der Meditation gewidmete Minute wertvoll. Wenn wir die Übungen aufbauen und allmählich vertiefen, wird es zunehmend wichtig, eine Zeit zu wählen, die aller Wahrscheinlichkeit nach täglich zur Verfügung stehen wird, und den einmal festgelegten Übungsrhythmus beizubehalten.
I many times thought Peace had come,
When Peace was far away –
As Wrecked Men – deem they sight the land –
At Centre of the Sea,
And struggle slacker – but to prove
As hopelessly as I –
How many the fictitious Shores –
or any Harbor be –
Ich dachte oft, es wäre Frieden
Und Frieden war noch fern –
So sieht man nach dem Schiffbruch Land –
Weit draußen auf dem Meer –
Und kämpft erschöpft – um zu entdecken –
So hoffnungslos wie Ich –
Wie zahlreich Ufer sind – und Hafen –
Wie scheinhaft, wie fiktiv – 39
Haben wir einen inneren Widerstand gegen die Hast beim Lesen dieser Worte gespürt? Lesen wir die Zeilen nun langsam hörbar intoniert und erfühlen dabei die Laute und Bedeutungen. Erst jetzt erleben wir die künstlerische Vollendung des Gedichts. Seine Schönheit enthüllt sich in Klang und Gehalt, in der Betonung und den Bildern. Dichtung verlangt von uns, dass wir die in ihr atmende Zeit achten. Bei schnellem Lesen mögen wir vielleicht die Bedeutung verstehen, der Kunstsinn wird sich uns aber nicht erschließen, der Zeitorganismus ist vergewaltigt, das Gedicht ist tot. Gedanken können blitzschnell vorschießen, doch die Kunst des Gedichts verlangt ein ruhigeres Tempo, das Tempo des Herzschlags und der Atmung, das Tempo des Lebens und Fühlens. Ob wir ein Gemälde betrachten oder Musik hören, ein Gedicht lesen oder ein Schauspiel sehen, das Tempo muss zurückgenommen werden, damit wir nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit dem Herzen aufmerksam bei der Sache sind. Wenn unsere Gedanken dabei um Alltagssorgen kreisen oder zu schnell vordrängen, bleibt uns der Zugang zum Kunstgehalt des Gemäldes, des Gedichts, der Aufführung verwehrt. In gleicher Weise werden wir bei dem Versuch, «schnell» zu meditieren, von der Meditation ausgeschlossen bleiben, der Verstand reagiert wohl, die angemessene Empfindung und Wahrnehmung fehlen jedoch. In diesem Sinne ist Meditation eine Kunst.
Vom Körper ausgehende Kontemplationsübungen
Im heutigen Amerika wird Kontemplation am häufigsten in Form einer Bewegungsmeditation ausgeübt, womit ich Yoga, Tai-Chi und verwandte Praktiken meine. Sie können, eigenständig genutzt, eine positive Wirkung haben, darüber hinaus aber auch als Einstieg in eine kontemplative Betätigung dienen.
Sie bieten dem Übenden die Möglichkeit, seine Konzentration nicht allein über das Bewusstsein, sondern mithilfe des Körpers zu trainieren, und können eine gute Vorübung für die im Sitzen ausgeführte Meditation sein.
Meditieren in Gemeinschaft
Die Meditation ist ihrem Wesen nach ein Vorhaben für den Einzelnen, doch kann die Gemeinschaft mit anderen Menschen, wie schon erwähnt, in vielfältiger Weise als hilfreich empfunden werden. Am einfachsten wird dies über die Teilnahme an einem Meditationsworkshop oder Meditationsretreat erfahrbar. Die Anleitungen, die Übungsstunden und die Gespräche über Schwierigkeiten ermutigen und schaffen Klarheit. Viele Probleme sind durchaus verbreitet, und in Einzelfällen bietet sich zumeist die Möglichkeit für ein persönliches Gespräch.
Am Anfang steht das Staunen
Besteige die Berge und nimm ihre Botschaft auf. Der Friede der Natur wird in dich einziehen, so wie der Sonnenschein sich in die Bäume ergießt. Die Winde werden ihre Frische in dein Inneres hineinblasen und die Stürme ihre Kraft, und deine Sorgen werden wie Herbstlaub von dir abfallen.42
John Muir
Der Friede der Natur kann in uns einströmen, so wie sich der Sonnenschein in die Bäume ergießt, und angesichts ihrer Größe können unsere Sorgen wie Herbstlaub von uns abfallen. Jedes Wäldchen, jeder Bachlauf oder Meeresstrand bietet uns die Möglichkeit, diese innere Erfahrung, die John Muir in der unberührten Natur Amerikas gemacht hat, selbst zu erleben. Die Natur kann uns sehr dabei helfen, die für die Kontemplation so wesentlichen Empfindungen von Demut und Verehrung wachzurufen und zu fördern. Wir brauchen uns gar nicht in die Wildnis hinauszubegeben, um die Stimmung, die sie vermitteln kann, zu pflegen. Stattdessen können wir uns eine natürliche Landschaft vorstellen und in den Mittelpunkt der kontemplativen Aufmerksamkeit stellen. Der nächtliche Sternenhimmel, eine weit geschwungene Küstenlinie, ein äsendes Reh oder der Blick von einer Bergspitze sind gleichermaßen geeignet, die erforderliche Stimmung hervorzurufen. Die gewählte Szenerie, ob real oder gedacht, ist ein Mittel, unser Gespür für eine über das Alltägliche hinausgehende Gegenwart zu wecken. Mit ihrer Hilfe verlagern wir unsere Aufmerksamkeit vom wechselnden Tagesgeschehen zu einer bleibenden, wesentlichen Sicht der Dinge. Wir fühlen uns von einer tiefen, über unsere persönlichen Anliegen und unser Selbst hinausgehenden Stille angezogen und in eine Bewusstseinsstimmung versetzt, auf die sich alles weitere meditative Arbeiten stützen kann.
Wer du auch bist, wie einsam, allein,
schenkt sich die Welt deiner Vorstellungskraft,
ruft dir zu wie die wilden...