(Text s. BayVBl. 2012, 287)
Die nachfolgenden unverbindlichen Hinweise zur Lösung behandeln die nach Auffassung des Erstellers maßgeblichen Probleme der Aufgabe. Sie stellen keine „Musterlösung“ dar und schließen andere vertretbare, folgerichtig begründete Ansichten selbstverständlich nicht aus. Der Inhalt und der Umfang der Lösungshinweise, die Ausführlichkeit und die Detailgenauigkeit der Darlegungen sowie die wiedergegebene Rechtsprechung und Literatur enthalten insbesondere keinen vom Prüfungsausschuss vorgegebenen Maßstab für die Leistungsanforderung und -bewertung.
Vorbemerkung
Die Klausur thematisiert Grundfragen des Europarechts, dessen Verhältnis zum Verfassungsrecht und den Grundrechtsschutz im Mehrebenensystem. Der Aufbau der Klausur ist durch den Sachverhalt, insbesondere durch den Auftrag von R an S klar vorstrukturiert. Es liegt eine Gliederung in zwei Teile nahe: A. Rechtmäßigkeit der Richtlinie 2010/85/EU; B. Rechtmäßigkeit des BaySchAlkGastG.
A. Rechtmäßigkeit der Richtlinie 2010/85/EU
Die Richtlinie (im Folgenden: RL) wäre als Akt des sekundären EU-Rechts rechtmäßig, wenn sie in formeller und materieller Hinsicht mit dem höherrangigen (primären) EU-Recht, insbesondere dem EUV, dem AEUV und den EU-Grundrechten, vereinbar wäre[2].
I. Formelle Rechtmäßigkeit der Richtlinie
Laut Sachverhalt ist die RL in einem ordnungsgemäßen Rechtsetzungsverfahren zustande gekommen (Art. 168 Abs. 5 i. V. m. Art. 289 Abs. 1, Art. 294 AEUV) und ordnungsgemäß bekannt gemacht worden (Art. 297 AEUV). Problematisch ist alleine die Frage, ob der EU die Verbandskompetenz zum Erlass der RL zukommt.
1. Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung
Nach Art. 5 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 EUV, der den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung festlegt, darf die EU nur innerhalb der Grenzen der ihr durch den EUV oder AEUV zugewiesenen Befugnisse tätig werden. Sie besitzt keine „Kompetenz-Kompetenz“, sondern kann nur insoweit Rechtsakte – die RL ist ein Rechtsakt nach Art. 288 Abs. 3 AEUV – erlassen, als eine Norm des EUV oder AEUV ihr ausdrücklich die Kompetenz dazu einräumt. Laut Bearbeitervermerk kommen dafür nur Art. 168 AEUV und Art. 352 AEUV in Betracht[3].
Hinweis: Es ist vertretbar, die Prüfung der Kompetenz als Frage der materiellen Rechtmäßigkeit zu behandeln.
2. Art. 168 AEUV als Kompetenzgrundlage
Art. 168 AEUV (i. V. m. Art. 2 Abs. 5 und Art. 6 Satz 2 lit. a AEUV) verleiht der EU Kompetenzen im Bereich des Gesundheitswesens.
Hinweis: Da Art. 168 AEUV nicht zum Pflichtfachstoff im öffentlichen Recht oder im Europarecht gehört, wird vom Bearbeiter nur erwartet, dass er zeigt, dass er mit einer unbekannten Kompetenzvorschrift wie Art. 168 AEUV umgehen kann.
Fraglich ist, ob dazu auch eine Kompetenz zum Erlass einer RL gehört, die der Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten im Hinblick auf den Schutz vor Alkoholmissbrauch dienen soll.
Art. 168 Abs. 1 AEUV verleiht eine solche Kompetenz ersichtlich nicht, da er lediglich das Ziel der Sicherstellung eines hohen Gesundheitsschutzniveaus postuliert und der EU eine Ergänzungs- und Unterstützungsfunktion im Hinblick auf die Politik der Mitgliedstaaten zuweist. Es handelt sich um eine Aufgabenzuweisungs-, aber nicht um eine Kompetenznorm zum Erlass von Richtlinien. Auf die Frage, ob es sich bei Alkohol um eine „Droge“ im Sinne des Art. 168 Abs. 1 UAbs. 3 AEUV („drogenkonsumbedingter Gesundheitsschäden“) handelt, kommt es daher nicht an.
Auch Art. 168 Abs. 2, 3 AEUV gibt der EU keine Rechtsetzungskompetenz zum Erlass einer rechtsharmonisierenden RL, sondern nur Kompetenzen zur Förderung und Unterstützung der Mitgliedstaaten und deren Zusammenarbeit (auch mit dritten Ländern und internationalen Organisationen).
Eine Kompetenz zum Erlass der RL ergibt sich auch nicht aus Art. 168 Abs. 4 AEUV. Zwar verleiht diese Norm abweichend von Art. 2 Abs. 5, Art. 6 Satz 2 lit. a AEUV Rechtsetzungskompetenzen, diese erfassen inhaltlich aber nicht den Schutz vor Alkoholmissbrauch.
Schließlich lässt sich eine Kompetenz der EU zum Erlass der RL auch nicht aus Art. 168 Abs. 5 AEUV ableiten. Dieser ist zwar thematisch einschlägig (Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung vor Alkoholmissbrauch), legt jedoch ausdrücklich fest, dass nur Maßnahmen „unter Ausschluss jeglicher Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten“ ergehen dürfen. Auf eine solche Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten zum Schutz vor Alkoholmissbrauch zielt die RL aber gerade. Sie kann also nicht auf Art. 168 Abs. 5 AEUV gestützt werden. Art. 168 Abs. 6 AEUV ermächtigt nur zum Erlass von Empfehlungen.
3. Art. 352 AEUV als Kompetenzgrundlage
Fraglich ist, ob die RL auf die sog. „Kompetenzabrundungsklausel“ des Art. 352 AEUV gestützt werden kann[4]. Dies wäre dann möglich, wenn ein Tätigwerden der EU erforderlich wäre, um im Rahmen des Gemeinsamen Marktes eines ihrer Ziele zu verwirklichen und in den Verträgen selbst die hierfür erforderlichen Befugnisse nicht vorgesehen sind. Nicht ersichtlich ist bereits, inwieweit die Anbringung von Warnhinweisen in Gaststätten einen Bezug zur Herstellung des Gemeinsamen Marktes haben könnte. Jedenfalls scheitert die Anwendung des Art. 352 AEUV aber deswegen, weil darin eine Umgehung der Kompetenzverteilung zwischen EU und Mitgliedstaaten läge. Schließt eine spezielle Kompetenznorm (hier: Art. 168 Abs. 5 AEUV) ausdrücklich die Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten aus, so darf eine solche ausdrücklich negative Kompetenznorm nicht durch die Anwendung des Art. 352 AEUV umgangen werden. Dies ergibt sich ausdrücklich aus Art. 352 Abs. 3 AEUV. Gleiches gilt für die Annahme ungeschriebener Kompetenzgrundlagen (z. B. nach dem „implied powers“-Grundsatz).
4. Subsidiaritätsprinzip
Selbst wenn es eine geeignete Kompetenzgrundlage für den Erlass der RL gäbe, könnte die RL wegen Verstoßes gegen das in Art. 5 Abs. 1 Satz 2, Abs. 3 EUV verankerte Subsidiaritätsprinzip rechtswidrig sein. Nach diesem Prinzip darf die EU in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen (der Gesundheitsschutz fällt offensichtlich nicht darunter, Art. 2 Abs. 1, Art. 3, Art. 6 AEUV), nur dann tätig werden, wenn und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen erstens auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und zweitens wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Unionsebene erreicht werden könnten. Beide Voraussetzungen dürften hier nicht vorliegen. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass der Gesundheitsschutz durch Warnhinweise in Gaststätten nur und besser durch einen EU-Rechtsakt erreicht werden könnte (a. A. etwa mit der Begründung vertretbar, EU-Regelungen seien notwendig, weil in den meisten Mitgliedstaaten insoweit eben zu wenig geschehe).
5. Zwischenergebnis
Die Richtlinie 2010/85/EU ist mangels Kompetenzgrundlage formell rechtswidrig und bereits deswegen nichtig[5].
II. Materielle Rechtmäßigkeit der Richtlinie
Die RL 2010/85/EU könnte auch aus materiellen Gründen rechtswidrig sein. Dies wäre der Fall, wenn die in Art. 1 RL verankerte Warnhinweispflicht[6] gegen materielles EU-Primärrecht, insbesondere gegen die Grundfreiheiten des AEUV oder gegen allgemeine Grundsätze des EU-Rechts, zumal gegen die EU-Grundrechte, verstieße.
1. Verstoß gegen die Grundfreiheiten des AEUV
Durch Art. 1 RL könnten die Warenverkehrsfreiheit (Art. 28 ff. AEUV) und die Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 ff. AEUV) berührt sein[7]. Nicht nur der einzelne Mitgliedstaat, auch die EU selbst ist an die Grundfreiheiten des AEUV gebunden:
a) Warenverkehrsfreiheit
Die in Art. 28 ff. AEUV geschützte Warenverkehrsfreiheit könnte dadurch verletzt sein, dass durch die Warnhinweispflicht in Art. 1 RL der – auch grenzüberschreitende – Absatz von alkoholischen Getränken beeinträchtigt wird und deshalb eine – grundsätzlich unzulässige – warenverkehrsbeschränkende „Maßnahme gleicher Wirkung“ i. S. des Art. 34 AEUV vorliegt.
aa) Dass alkoholische Getränke eine Ware sind, ist unzweifelhaft (Schutzbereich).
bb) Einen Eingriff in den freien Warenverkehr stellt nach der Rechtsprechung des EuGH zu Art. 34 AEUV jede Maßnahme dar, „die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell zu behindern“[8]. Ob die Warnhinweispflicht tatsächlich geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel zu beeinträchtigen, dürfte indes zweifelhaft und letztlich nur empirisch belegbar sein.
cc) Selbst wenn man das annähme (was vertretbar ist) – etwa weil tatsächlich weniger alkoholische Getränke konsumiert würden und damit insoweit auch weniger...