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E-Book

Aus lauter Liebe

Sieben heilsame Geschichten

AutorVarda Hasselmann
VerlagGoldmann
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783641110932
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Geschichten, die heilen und Gelassenheit vermitteln
Wenn wir Menschen in Konflikten oder schwierigen Situationen beobachten, denken wir uns als Außenstehende oft, wie leicht das Leid zu beenden wäre und wie unnötig diese Opfer sind. Wie tragisch, dass der, der in der Rolle gefangen ist, keinen Ausweg daraus findet! Varda Hasselmann erzählt sieben Geschichten von Menschen, die in Leidensrollen gefangen sind. Wir sind die Außenstehenden, die viel leichter eine Lösung finden. Gelegentlich erkennen wir uns auch selbst dabei wie in einem Spiegel. Die Geschichten erklären am anschaulichen Beispiel Muster der 'Sieben Archetypen der Angst' - was dem Leser aber gar nicht bewusst zu sein braucht, um ihre befreiende und erweiternde Wirkung zu erfahren.

Dr. Varda Hasselmann, geboren 1946, bereitete sich nach dem Studium der Literaturwissenschaft und Mittelalterkunde zunächst auf eine Universitätskarriere vor. Doch sie folgte ihrer Berufung und machte ihre mediale Begabung zum Beruf. Seit 1983 arbeitet sie als Trancemedium, gibt Seminare und hält Vorträge. Die medial empfangene Seelenlehre legte sie zusammen mit Frank Schmolke in den Büchern »Welten der Seele« und »Archetypen der Seele« dar.

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Leseprobe

1

Die Meisterprüfung

Eines Morgens war sein Meister tot. Den Blick ins Nichts gerichtet, saß er aufrecht im Frühlicht und atmete nicht.

Die Sonne versank in der staubigen Ebene, und es wurde Nacht, bis Swami Premanand begriff, dass er allein war. Tränen vergoss er nicht, denn er hatte gelernt, alles unter dem Himmel zu nehmen, wie es kam. Ein Schmerz, so stark, dass seine Augen brennen mussten, war ihm fremd. Aber verwirrt war er, verwirrt. Das Unerwartete hatte ihn aus der gleichmütigen Geborgenheit von Jahrzehnten gerissen.

Im Dorf war ein Tag wie der andere, immer. Frauen brachten Speisen und ließen sich segnen. Premanand fegte frühmorgens die Hütte, schöpfte Wasser, wusch die Füße des Alten und kämmte seinen Bart. Der Greis wiederum reinigte den Opferstein, begoss ihn mit flüssiger Butter oder roter Farbe und streute Blüten darüber, bevor beide, begleitet vom Geläut eines Handglöckchens, ihre Gebete verrichteten. Der alte Dorfheilige war sein Leben gewesen. Dieser Mensch wusste als Einziger um sein ganzes Sein.

Lange Jahre hatte Premanand seine Hütte geteilt, hatte ihm gelauscht und gedient. Kein Morgen war vergangen, an dem sein Blick nicht in Demut und Verehrung auf der Gestalt seines Lehrers geruht und sich an seinem Anblick ergötzt hatte. Wie hätte er sich auf den Abschied vorbereiten sollen? Die Gegenwart des Ehrwürdigen spürte er noch. Sie wich lange nicht von ihm.

Premanands Wesen hatte sich wie Gold in die Welt ergossen, seitdem die Augen des Alten ihm begegnet waren. Herzschlag und Atem vereinigten sich bald mit denen des Meisters. Sie schauten einander an, oft von Mittag bis Abend, sich sehend bis auf den tiefsten Grund. Dann lächelten sie mit den Augen. Ihre Körper hingegen berührten sich nicht, kein einziges Mal, in all den Jahrzehnten.

Der Meister galt als ein Mann des Schweigens. War am Morgen das Notwendige getan, ließ er sich mit Premanand zum Sitzen auf einer Matte nieder, die den Lehmboden der Hütte bedeckte und auf der sie nachts schliefen. Dann schloss der Alte die Augen, versank in sich und verharrte unbeweglich. Doch manches lehrte er in diesen stillen Stunden, denn beider Geist ward eins, ohne Worte. Sprach er dann endlich, nach vielen Tagen, auch einmal mit dem Mund zu seinem Schüler, so redete er über den Gleichmut. Dem Gleichmut galt seine Lehre.

»Premanand«, sagte er dann, »hast du schon von Asketen gehört, die zu Ehren der Gottheit sieben Jahre auf einem Bein stehen? Andere lassen sich lebendig vergraben oder sitzen nackt im ewigen Eis. Sie durchbohren ihren Körper, um zu zeigen, dass sie ihn verachten. Als Magier wollen sie übermenschliche Macht beweisen. Doch höre: Der Wunsch nach Unsterblichkeit hat seine Wurzel in der Angst vor dem Tod. Ist das wahrer Gleichmut?«

Verwundert schüttelte sein Schüler den Kopf. Und der Alte fuhr fort: »Du, mein Sohn, sei nichts als ein Mensch! Es gibt andere Wege zum Licht. Lebe dein Leben, und fürchte nicht den Tod! Alle Erscheinungen dieser Erde besitzen dieselbe Gültigkeit. Nichts ist in Wirklichkeit gut oder schlecht. Du glaubst es zwar, das weiß ich wohl. Aber die Wahrheit ist es nicht.«

Premanand lauschte verzückt der geliebten Stimme, verstand und verstand nicht, schaute den Meister mit feuchtschwarzen Augen an, erhob voll Demut beide Hände zum Namasté und ruckte seinen Hals von rechts nach links. Und er übte sich in Gelassenheit, so gut er es vermochte.

Oft folgten solchen Worten Wochen des Schweigens. Premanand, selbst ein wortkarger Mensch, liebte diese Zeiten stumm-beredter Verbundenheit. Mit seinem Meister zu sitzen in vollkommener Stille, in verschmelzender Fülle – nichts anderes hatte er gewollt von Anbeginn bis zur letzten Stunde. Denn während sie unbeweglich saßen, tanzten ihre Seelen miteinander.

Die Gottheiten, dreihäuptig, vielarmig oder mit dem Kopf eines Elefanten, verehrte er fleißig, weil es nun einmal der Brauch war. Aber auch sie waren ihm gleichgültig. Allein dem geliebten Meister galt seine Hingabe. Er wünschte zu werden wie er. Das wünschte er sich.

Zuweilen geschah es, dass der Alte nach Mitternacht hochfuhr und seinem Schüler ins Ohr brüllte: »Du bist ein Mensch, begreife das! Und Menschen sind sterblich. Auch du wirst sterben. Darum löse dich von deinem Wunsch nach Unsterblichkeit! Erst dann wirst du im Ganzen aufgehen wie ein Regentropfen im Fluss.« Und voller Erbarmen fügte er nach einer Weile hinzu: »Oh, mein Sohn, wie groß ist deine Furcht vor dem Nichtsein!«

Was sollte Premanand darauf antworten? Zunächst erschrak er, dann lächelte er im Dunkeln, dankbar für die Liebe des Meisters, und er schlief wieder ein.

So hatten sie denn Jahr um Jahr beieinander geweilt. Premanand wurde zum Jüngling, er wurde ein Mann. Sonst änderte sich nichts. Das Leben im Dorf, still und schlicht, ging den Gang der Jahrtausende. Ein missgestalteter Säugling, böse Unfälle, das Gezänk zwischen Kasten und Kastenlosen, Dürre oder reichliche Ernte, der Diebstahl eines Ochsen, das Lichterfest – nichts davon konnte ihn und seinen Meister in Aufregung versetzen. Sie ließen nicht zu, dass Freude, Unruhe oder Zorn sie berührten, denn dem Gleichmut allein galt ihr Streben. Die Feste, an denen sie teilhatten, auch die Riten, die sie vollzogen, wurden einem ehernen Gleichmaß unterworfen. Sie waren da wie die Sonne und die Nacht.

Jetzt aber wurde der Leichnam des Ehrwürdigen von Flammen verzehrt, die Asche in den Fluss gestreut. Man errichtete einen Schrein. Dort würden Frauen bald Reisopfer und Blumen niederlegen, auf Wunder hoffen und die Geburt von Söhnen erflehen.

Warum nur mochte Premanand sich nach dem Tod des Meisters nicht bereitfinden, dessen Pflichten zu übernehmen? Er konnte doch wie jener bis zum Ende seiner Tage Pilger segnen, Opferspeisen in kleinen Schalen entgegennehmen, sich mit Blumen schmücken lassen, einfältige Mirakel bewirken. Wie leicht wäre es für ihn, Riten zu vollziehen, Rat und Trost zu spenden. Was war daran verächtlich, als Dorfheiliger die Ehre des Ortes zu mehren? Sie brauchten ihn sehr für ihre Nöte, für die Bestattungen, die Weihen. Wäre es nicht gut, ihnen im Namen der Liebe zu dienen und dabei gelassen hinzunehmen, wie sie ihn verehrten? Er könnte sogar einen Schüler aufnehmen, der ihm die Füße zu waschen hätte.

Gern wäre er in der vertrauten Umgebung geblieben. Doch seine Unruhe nahm zu, von Tag zu Tag. Er ahnte, dass er selbst ein Nichts, ja ein Nichts war – ohne den Einzigen. Kein eigenes Leuchten ging von ihm aus. Schmerzlich war die Einsicht, dass ihm das Licht fehlte. Es hatte den Meister umhüllt, darin hatte auch er sich erkannt und sicher gefühlt. Nun aber irrte er umher wie in einer Neumondnacht, ohne innere Laterne, die ihm seinen Weg zeigen konnte.

Premanand verließ das Dorf, das ihm Heimat geworden war. Er folgte dem, was sein Instinkt ihm sagte, ohne es wirklich zu wollen und ohne sein Ziel zu kennen. Fort musste er. Das war nicht zu ändern. Er folgte diesem Drang, gezogen wie eine Ziege am Strick, die sich einbildet, sie könne noch ausreißen. Widerstrebend und doch gehorsam setzte er einen Fuß vor den anderen, vorwärtsgezerrt von einer Macht, die anderes befahl, als er begehrte. Das machte ihm Angst. Würden fromme Leute ihn beherbergen und Tempelspeisen ihn sättigen? Was sollte aus ihm werden ohne das Leuchten? Nur der Gleichmut, wie er ihn vom Meister erlernt hatte, schützte ihn ein wenig vor der Ungewissheit seines Weges.

So folgte der hochgewachsene Swami, ein Mann von mehr als vierzig Jahren, den Straßen, die sich vor seinen Schritten auftaten. Sein langes schwarzes Haar, zum dicken Zopf geflochten, der nie gestutzte Bart und ein sanfter, durchdringender Blick, in dem das Rotgelb seiner Robe sich spiegelte, machten ihn zu einem, der heiliges Aufsehen erregte. Gegen Sonne und Regen schützte ihn sein Schirm. Gab es keine Wasserstelle, wusch er Gesicht und Hände mit Morgentau. Fand er einen Teich, badete er darin. Krank wurde er nicht. Nur einmal tat ihm ein Zahn so weh, dass Tränen über seine geschwollene Wange liefen. Da ließ er ihn auf dem Marktplatz herausreißen. Auch das nahm er gleichmütig hin. Bot man ihm abends Nahrung und Lager, empfing er alles, wie es kam. Geschah es nicht, fastete er und schlief im Freien. Nirgends verweilte er länger als eine Nacht. Zum Dank segnete er seine Gastgeber, berührte ihre Stirn und lächelte. Sie waren es zufrieden, denn jeder spürte, dass der schweigsame Fremde ihnen Gutes hinterließ. Sein Lächeln blieb wie ein Goldstück in ihrem Haus, wärmte ihr Herz noch lange Zeit und tröstete sie.

Am Fuß des Gebirges gelangte Premanand in eine Stadt. Es war die größte, die er je gesehen hatte. Sein Wesen, empfindsamer denn je und von der Stille der Dörfer geprägt, antwortete auf das Lärmen und Treiben, auf die grellen Farben und betörenden Gerüche mit einer Verwirrung, die ihn entsetzte. Um Gelassenheit bemüht, wie er sie vom Meister gelernt hatte, zwängte er sich schwer atmend durch die Straßenläden der Tuchhändler, hörte sie feilschen, zetern und schmeicheln. Erschrocken wich er verstümmelten Kindern aus und hütete sich vor den Tritten der Esel. Er wurde an parfümierte Frauenleiber gepresst. Frisch gefangene Fische schienen ihn mit ihren Fratzenköpfen böse anzuglotzen. Er hielt sich nicht an den Garküchen auf, die Speisen feilhielten, in ranzigem Palmöl gebraten, obgleich ihn der Hunger plagte, denn hier gab niemand ein Almosen. Die scharfen Gerüche der Spitzhügel aus gelben, roten und schwarzen Pulvern in den Läden der Gewürzhöker bereiteten ihm...

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