Über die Schwelle treten
Während ich noch falle, weiß ich, dass ich tot oder schwer verletzt sein werde. Es ist nur eine kleine Schwelle, die mich zu Sturz gebracht hat, und es geht alles so schnell, dass ich keine Chance habe, mich zu schützen oder abzustützen. Ich liege auf dem kalten Marmorboden und höre in der Ferne die entsetzten Stimmen der Frauen, die ich auf ihrer Reise zu sich selbst begleite, meinen Namen rufen. Und nach einer langen Minute des Schocks sage ich den einfachen Satz: »Ich lebe.«
Ich bewege vorsichtig meine Arme und Beine und berühre mein Gesicht. Meine Hand ist voller Blut, aber es ist nur ein kleiner Schnitt auf meiner Wange, der bald verheilen wird.
Eine halbe Stunde später sind wir schon in der Morgendämmerung unterwegs durch die berühmte Samariaschlucht, die uns um diese Zeit alleine gehört. Es ist wie ein Wunder, dass ich ohne Schmerzen wandern kann.
Mir gibt dieses Ereignis zu denken, weil ich nicht zum ersten Mal von meiner inneren Führung einen Tritt bekommen habe. Manchmal brauche ich offensichtlich Hilfe, damit ich mich traue, über eine Schwelle zu treten. Entweder haben sich dann Dinge oder Menschen aus meinem Leben verabschiedet, damit ich weitergehen kann, oder mein Körper hat mir zugerufen, dass es Zeit für Veränderung ist.
Ich erinnere mich bei einem Berufswechsel, vor dem ich Angst hatte, an eine Serie von deutlichen Hinweisen, mich endlich zu verändern. Von einer Blinddarmreizung bis zu einer Nierenbeckenentzündung und einer Gehirnerschütterung nach einem Sturz beim Skilaufen habe ich mir alles ins Leben geholt, um nicht mehr in diesem inzwischen ungeliebten Job arbeiten zu müssen.
Jede Erlaubnis, das weiß ich jetzt, hat eine Eingangspforte, durch die wir in das Neue gehen und Altes, Hinderliches zurücklassen müssen.
Wir sind fünf Frauen. Ich führe uns eine Woche die Südküste von Kreta entlang. Jeder Tag ist Schritt für Schritt der inneren Neuausrichtung gewidmet. »Nomadisch wandern« bedeutet ein einfaches Leben. Wenig Gepäck, einfache Unterkünfte, am Abend eine Taverne am Hafen, in der wir den Tag Revue passieren lassen. Wenn die Sonne aufgeht, ziehen wir weiter, damit die Natur ein paar Stunden uns alleine gehört.
Schweigend gehen wir, vorbei an steilen Felsen, durch enge Schluchten, am Meer entlang, und immer wieder halten wir inne und tauschen uns aus über das, was uns bewegt, über das, was wir uns erlauben wollen. Die Natur ist eine geduldige Zuhörerin. Sie schenkt uns schattige Haine, einsame Strände, magische Steinkreise, zufällig entstanden oder von Menschenhand erschaffen.
Beate wird sich von ihrem Mann, der sich in eine andere verliebt hat, scheiden lassen. Veronika hat nach vielen Jahren als Single wieder eine neue Liebe gefunden und ringt darum, einen gemeinsamen Alltag zu finden, der ihrer Selbstständigkeit entspricht. Mirjam trauert um ihren Mann, den sie zwei Jahre bis zu seinem Tod gepflegt hat, und muss ein Leben ohne ihn beginnen. Irma kämpft um die innere Erlaubnis, ihre schwerbehinderte Tochter, die sie seit ihrer Geburt hingebungsvoll betreut, ein Stück freizugeben, damit sie selber wieder mehr leben kann.
In den ersten Tagen geht es um Verzeihen und Loslassen. Auch wenn die Geschichten der Frauen unterschiedlich sind, in der Essenz ähneln sie einander.
Wenn wir frei für das Neue sein wollen, dann sollten wir den Groll und die Verletzungen in die Vergangenheit entlassen. Dann geht es darum, dass wir nicht nur den Menschen verzeihen, die an schmerzhaften Situationen in unserem Leben beteiligt waren, sondern auch uns selbst.
Das ist das Schwierigste. Wir alle sind in unserem Leben schon einmal zu lange in Beziehungen geblieben, die nicht mehr gestimmt haben. Wir alle haben schon einmal erlaubt, dass der Platz, der uns zusteht, begrenzt wurde. Wir alle haben durch unsere eigene Unklarheit dazu beigetragen, dass Dinge in unserem Leben Raum hatten, die wir eigentlich nicht wollten.
Es gibt einen Königsweg aus diesen schwierigen Situationen: die Verantwortung für unsere eigenen Handlungen zu übernehmen. Und Verständnis zu haben. Vor allem für uns selbst. Und vielleicht gehört vorher auch noch der Zorn dazu.
Da tauchen dann plötzlich kleine Menschen auf in den Geschichten, die wir uns erzählen. Babys, die sich schon im Mutterleib unerwünscht gefühlt haben, weil sich niemand über sie freute. Kleine Mädchen, die von ihren Vätern in deren eigener Überforderung geschlagen wurden, Kinder, die sich fremd fühlten in ihren eigenen Familien und sich Elfen als Freunde suchten. All das macht verständlich, warum wir Mühe haben, für uns einzutreten. Sätze tauchen auf, die typisch sind, wenn wir glauben, dass die Liebe einen hohen Preis hat: »Lieber verrate ich mich, bevor ich dich verliere.« Oder: »Ich muss so viel tun, damit ich dazugehöre.«
Beate entdeckt auf ihrer Reise, dass sie wirklich willkommen ist in diesem Leben, auch wenn sie dieses Gefühl als Kind nie kennengelernt hat. Sie spürt, dass das Universum für sie sorgt und die Trennung von ihrem Mann letztendlich auch ein Geschenk, eine Erlaubnis für ein neues, selbstbestimmtes Leben ist. Veronika erkennt, dass sie für sich einstehen muss und sich die Erlaubnis geben darf »Nein« zu sagen, auch wenn das für ihre Umgebung unbequem ist. Mirjam kann den Zorn zulassen, dass ihr verstorbener Mann sie nicht vor seiner Familie geschützt hat, und gleichzeitig in Frieden damit sein und ihre Liebe zu ihm spüren, die Raum und Zeit überdauert. Irma erfährt zum ersten Mal, wie sehr sie es gewöhnt ist, alles allein zu machen, und dass ihr guter Schutzpanzer ihrem Partner bisher wenig Chancen ließ, ihr nahezukommen.
Ich begleite diese wunderbaren, mutigen Frauen auf ihrem Weg zur Erlaubnis für ein gutes Leben, und gleichzeitig bin ich eine von ihnen.
Mein Sturz am dritten Tag der Reise beschäftigt mich. Was ist die Botschaft, was soll ich daraus lernen? Die einfache Nachricht liegt auf der Hand: Ich kann heute über Schwellen gehen, und es passiert mir nichts. Ich bin geschützt, wenn ich mutig neue Wege beschreite. Ich darf Bewährtes zurücklassen, weil es mich nicht mehr freut, und Neues ausprobieren, so wie diese Art von Reisen.
Die zweite Nachricht ist auch noch leicht zu entschlüsseln: Dort, wo ich zögere, über eine Schwelle zu treten, weil ich den Mut nicht habe, hilft mein Unbewusstes ein bisschen nach und gibt mir einen Tritt. Die dritte Nachricht war nicht so leicht zu entschlüsseln, weil sie mit einem anderen Ereignis verknüpft ist, das ich so gut in meiner unbewussten Erinnerung verräumt habe, dass mir der Zugang bisher gefehlt hat.
Ein Traum zeigte mir den Weg: Ich sehe mich noch einmal beim Frühstück in diesem Restaurant, das mitten im Raum eine kleine Schwelle hat, damit auch die Gäste an den hinteren Tischen aufs Meer sehen können. Ich falle wieder. Und auch in meinem Traum stehe ich schnell wieder unversehrt auf. Doch diesmal steht mein Vater neben mir, und ich spüre, dass er mich schützt und Schlimmeres verhindert hat.
Mein strenger Vater, der mir so viel verboten hat. Den ich mehr gefürchtet als geliebt habe. Diesen Frieden mit ihm, den brauche ich, wenn ich mir erlauben will, noch mehr ganz die zu sein, die ich wirklich bin.
Beim Wandern in der Stille der Wälder taucht plötzlich ein anderer Sturz auf: Ich bin sechzehn Jahre alt und mit meinem Vater, der jeden meiner Schritte bewacht, auf Urlaub in einem Ferienclub. Ich möchte gerne reiten lernen, diese Freiheit spüren, die ich von Bildern und Geschichten kenne, wenn das Pferd und ich eins werden und durch die Felder galoppieren. Mein Vater erlaubt es mir nicht. Ich reagiere trotzig, weil ich nicht verstehe, dass er Angst um mich hat.
Im Reitstall gebe mich als erfahrene Reiterin aus, setze mich auf ein Pferd und reite los. Das Tier spürt meine Unsicherheit und wirft mich nach kurzer Zeit ab. Ich falle, und noch ehe ich den Boden erreiche, weiß ich, dass ich tot oder schwer verletzt sein werde.
Ich bin schwer verletzt, schaffe es aber, mit unglaublichen Schmerzen bis zu unserer Ferienhütte zu humpeln, und sage nichts. Ich habe Angst, weil ich etwas Unerlaubtes getan hatte.
Mein Vater hält mich für einen beleidigten Teenager, weil ich nicht mehr aufstehe, und lässt mich in der Hütte zurück. Zwei Tage lang schaffe ich es, meinen Zustand zu verbergen – mit Hilfe von Ferienfreunden, die mich zum Strand und wieder zurück tragen, die mich mit Essen vom Buffet versorgen. Als ich meine schweren Verletzungen nicht mehr verbergen kann, bringt mich mein Vater in ein Krankenhaus: Alle Querfortsätze meiner Lendenwirbelsäule sind gebrochen.
»Ihre Tochter hat großes Glück, es ist ein Wunder, dass sie nicht querschnittgelähmt ist.«
Jetzt, fünfzig Jahre später, in dieser starken kretischen Landschaft, kann ich plötzlich meine Trauer und mein Mitgefühl für dieses junge Mädchen spüren. Bisher habe ich meine Geschichte immer wie eine witzige Anekdote erzählt. Die Verzweiflung und die Einsamkeit dieses unverstandenen Kindes an der Schwelle zur Frau wird mir erst jetzt bewusst. Damals habe ich eine Grenze überschritten und dafür mit Schmerzen bezahlt, die mich viele Jahre begleitet haben.
Heute kann ich mutig bewusst Schwellen überschreiten. Und mein Vater? Ich bin im Frieden mit ihm. Ich verstehe seine Sorge um mich und dass er ein Mann war, der aus dem Krieg kam und seine Gefühle nicht zeigen konnte.
Auch eine Reise hat eine Eingangs- und eine Ausgangspforte. Ein letztes Mal sitzen wir gemeinsam auf der Dachterrasse unseres Hotels mit Blick auf den Hafen. Wir reichen einander die Hände und geben uns selbst das Versprechen...