2 Dem Autobiografischen etwas abgewinnen Von Schönfärbern und Reinwäschern
Alfons Huckebrink
„Auch der Einzelne hat seine Geschichte. Man
weiß, mit welchem Nutzen die Nationen ihre Ge-
schichte aufzeichnen. Den gleichen Nutzen hat
auch der einzelne Mensch von der Aufzeichnung
seiner Geschichte. Me-ti sagte: Jeder möge sein ei-
gener Geschichtsschreiber sein, dann wird er sorg-
fältiger und anspruchsvoller leben.“
Bertolt Brecht, Me-ti. Buch der Wendungen
2.1 Es war einmal
2.1.1 Geschichten machen Geschichte
… vor gar nicht allzu langer Zeit. Acht Jahre nach dem Ende der DDR und der Vereinigung beider deutscher Staaten zur Berliner Republik äußerte der damalige Bundespräsident Roman Herzog (geb. 1934) in einer stark beachteten Rede den innigen Wunsch, die Bewohner der ehemals getrennten Gebiete möchten sich gegenseitig ihre Biografien erzählen, um durch die Narration die jeweilige Befremdung zu überwinden sowie Einsicht zu erlangen und füreinander Verständnis zu gewinnen. Beim Festakt zum Tag der Deutschen Einheit in Hannover (am 03.10.1998) formulierte Roman Herzog in seiner unverwechselbaren Diktion:
„Ich sage es, sooft ich kann, und ich sage es infolgedessen auch hier: Erzählen wir uns wechselseitig unsere Biografien, um daraus Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu erkennen! Vergleichen wir, wie wir die Jahre der Teilung erlebt haben! Es ist wichtig, dass sich aus den zwei Geschichten jener Jahrzehnte eine ehrliche Gesamtschau entwickelt, die wir uns gemeinsam zu eigen machen können.“
Ein nationales Erzählprojekt also? Im Grunde gar keine schlechte Idee (vgl. Ritz-Schulte, Kap. 1.5.1). Der präsidiale Appell wurde eine ganze Weile auch im medialen Diskurs favorisiert und propagiert, bis er – wie manch andere gut gemeinte Bemühung, Trennendes zu benennen und Gemeinsames zu konstatieren – allzu bald in Vergessenheit geriet. Zu nennenswerten und strukturierten Anstrengungen, die bedenkenswerte Anregung in Wort und Text umzusetzen, ist es meines Wissens niemals gekommen, sieht man einmal von der bereits seit 1990 anschwellenden Flutwelle autobiografisch geprägter Buchveröffentlichungen ab. Für dieses Schrifttum tat sich zeitweilig ein beachtliches Marktsegment auf, sofern die Erinnerungen entweder als Rechtfertigung oder als Zerknirschung – beides zwar nachvollziehbare, aber wenig erkenntnisträchtige Haltungen – kenntlich gemacht waren. Von einer offenen, allgemeinen und wechselseitigen Aussprache konnte im Zusammenhang mit diesem Phänomen aber nicht die Rede sein. Es waren vorwiegend ostdeutsche Autoren, darunter hochrangige Repräsentanten des untergegangenen Staates und seiner Gesellschaft, die sich mit ihren Erinnerungen – so oder so – öffentlich bekannten und medial entweder exkulpiert oder verdammt wurden. Vielleicht war die Aufforderung des Bundespräsidenten unausgesprochen, aber gerade deshalb für jeden leicht erkennbar, auch und vor allem an die Neubürger östlich der Elbe gerichtet und damit die hehre Aufforderung zum großen, Einsicht und Einheit stiftenden Palaver von vornherein zum Scheitern verurteilt.
„Wir haben unsere Lebenszeit gehabt, und die war so, wie sie war. Und es gibt einen Bruch, an dem man an die Zeit nicht mehr anknüpfen kann“, sagt die in Berlin (DDR) groß gewordene Schriftstellerin Jenny Erpenbeck (geb. 1967) in einem Interview (Neues Deutschland, 02.01.2010). Individuelles Leben ereignet sich nicht im luftleeren Raum, sondern in einem sich zwar verändernden, aber dennoch recht konkret ausgestalteten gesellschaftlichen Gefüge, wird also nie anders erfahren denn als „Ich unter den Bedingungen seiner Zeit“ (Walter Jens, geb. 1923), ist so gesehen Erlebenszeit. Warum sollte jemand mit seiner Lebensgeschichte herausrücken, wenn das Verdikt über deren Rahmen- und Zeitbedingungen bereits gesprochen und kanonisiert wurde? Und eine Lebensbeichte mag zwar der Psyche zeitweilige Erleichterung verschaffen sowie, wenn sie medial ausreichend tränenfeucht inszeniert ist, dem Portemonnaie durchaus zuträglich sein, erschafft aber nur in den seltensten Fällen eine autobiografische Evidenz. Schade um den präsidialen Geistesblitz. Denn vielleicht wären aus dieser Anregung ost-westdeutsche Märchenstunden entstanden, worüber die Nase nur gerümpft hätte, wer das Genre verkennt.
Märchen sind keine Lügengespinste, sollten nicht als Gute-Nacht-Geschichten abgetan und schon gar nicht belächelt werden. „Wer über Märchen lacht, war nie in Not“, sagt der Schriftsteller und Regisseur Alexander Kluge (geb. 1932). Und das sei an dieser Stelle bereits klargestellt: Wie im Märchen werden wir in einer autobiografischen Erzählung niemals auf das „wirkliche Leben“ treffen, sondern stets nur auf unsere je ureigenen Erfahrungen. Die Erinnerung ist nicht das Leben selbst. „Was man im Moment erlebt, bleibt nur in Bruchstücken übrig, und die Komplexität verschwindet ins Nichts.“ (Jenny Erpenbeck). Wir reden schließlich vom Erzählen und nicht von autobiografischer Berichterstattung, ebenfalls nicht von einem auf dürre Fakten gestützten Lebenslauf, wie ihn jemand etwa mit seinen Bewerbungsunterlagen einreicht. Erfahrungen können definiert werden als das Geschiedene aus dem Ungeschiedenen der eigenen Vergangenheit, als sein Destillat.
Autobiografien sind komplex als erzählerische (Re-)Konstruktionen, entstanden im Wechselspiel von Auswahl und Verdichtung, im bewussten oder unbewussten Ausblenden von Zusammenhängen, dem Inbeziehungsetzen und Verknüpfen ganz bestimmter Aspekte von Erfahrungen, und sie sind eben deshalb anderen Menschen aufschlussreich, ihnen ebenso hilfreich als ein mögliches Korrektiv. Als individuelle Konstruktionen geben sie Anlass zum Vergleich der Bezugspunkte, zum Abgleich vorhandener Gemeinsamkeiten in der Betrachtung, zur Auseinandersetzung und zum Streit verschiedener Sichtweisen. Jedwedes autobiografische Erzählen wird mit dem ersten gefundenen Wort, dem ersten gelungenen Sprachbild zum Impuls, den roten Faden des eigenen Lebens aufzunehmen, ihn weiterzustricken, zum ebenso notwendigen wie legitimen Versuch, die eigene Sichtweise als unbedingt gültigen Standpunkt durchzusetzen, eigenmächtig auf ihr zu beharren, sie womöglich überhaupt erst zu formulieren oder bei Bedarf umzuformulieren.
Denn eine autobiografische Erzählung verzichtet auf Akteneinsicht, sie wird immer bedarfsgerecht und in diesem positiven Sinne flexibel sein. Der eigene Standpunkt oder die aus ihr resultierende Sichtweise kann heute auf die eine Weise formuliert werden und morgen auf eine ganz andere, denn ihre Quintessenz ist in hohem Maße abhängig von der gegenwärtigen Lebenssituation und den mit ihr verwobenen Interessen, Wünschen und Erwartungen. Eine komplexe, fein abgestimmte Konstellation, die Veränderungen unterliegt. Erinnern und Träumen sind durchaus verwandte Formen spekulativer Reflexion.
„Wenn die Gedanken treiben / in die Zeit in der du Kind gewesen bist /laß es gut sein sollen sie so bleiben / zwischen Wirklichkeit und Traum /auch wenn es in Wahrheit kaum / jemals so gewesen ist“,
singt Hannes Wader (geb. 1942) im Refrain seines melancholisch gestimmten Lieds Ballade vom Fisch. Die Melancholie war bereits seit jeher eine ständige Begleiterin der Erinnerung, gewissermaßen die Weichzeichnerin ihres Erscheinungsbilds. Trotz dieser immer mitzudenkenden Unschärferelation beim Erinnern genießt die eigene Sichtweise per se eine hohe Autorität, geht es doch um die ihr zugrunde liegenden Erlebnisse, und wer sollte zu deren Darstellung kompetenter erscheinen als der Autobiograf mit seinen nur ihm zugänglichen Archiven der Erinnerung. Ein schönes, auf den ersten Blick sehr stimmiges Bild.
Aber Vorsicht vor den gängigen Bildern! Denn genau betrachtet ist die Erinnerung kein Archiv, in dem die Dokumente und Nachlässe des Lebens unverändert und unter einer virtuellen Staubschicht aufbewahrt werden. Vielmehr unterliegen diese Schätze einem stetig wirksamen Veränderungsprozess, weil das Gedächtnis als Träger der Erinnerung und Quelle seiner Textur abhängig ist von kulturellen und gesellschaftlichen Einflüssen, sind also nichts Abgelagertes, sondern kreative Konstruktionen (Ritz-Schulte, s. Kap. 1.1). Das Beharren des Autobiografen auf die Authentizität der Darstellung schützt diese vor Vereinnahmung und gewährt ihm verlässlich eine zukunftsträchtige Handlungsoption, die mehr umfasst als bloße Fortsetzung des Abgehandelten als armselige Routine. Nein, sein eigener Geschichtsschreiber zu werden, sagt uns Me-Ti im Brecht’schen Eingangszitat, verspricht einem vielmehr, hinfort sorgfältiger und anspruchsvoller zu leben. Eine bemerkenswerte Verheißung: sorgfältiger mit sich selbst und anspruchsvoller gegenüber anderen. Zu „leben“ und nicht lediglich mit sich (und seiner Zeit) „umzugehen“. Das Leben ist keine „Umgehungs“ straße. Vielleicht ist es dieser Anspruch, den der abgenutzte Begriff „bewusst leben“ oder der moderne „achtsam sein“ uns eigentlich zum Ausdruck bringen möchte. Dagegen steht die Ermüdung in Routine, das „Immerwiederkehrende in den sinnlichen Eindrücken“, also das – um es mit den Worten Karl Philipp Moritz’ (1756–1793) zu sagen, dessen Anton Reiser als eine der ersten literarischen Autobiografien deutscher Sprache gelten kann –, „was die Menschen im Zaum hält, und sie auf einen kleinen Fleck beschränkt.“ Leben in der Einförmigkeit des Kreises, im Blickfeld des Angewurzeltseins ist immer Arrangement: Wo Grenzen überschritten werden könnten, zieht man sich zurück, gewinnt das Alte lieb und flieht das Neue, wo und in...