Ursprung und Geschichte des Ayurveda
Dr. med. Ernst Schrott
„Ayurveda ist ewig, ohne Anfang und ohne Ende, denn die Gesetze des Lebens sind von universeller Natur und ihre Eigenschaften zeitlos.“
Charaka-Samhita, Sutr. 30. 27
Die zeitlose und universelle Natur von Ayurveda
Obwohl der Ayurveda historisch und geografisch aus Indien kommt, ist sein wahrer Ursprung nach eigenem Selbstverständnis nicht ein Land, eine bestimmte Zeit oder Kultur. Ayurveda versteht sich vielmehr als universelle Medizin, die überall und zu allen Zeiten Gültigkeit besitzt, da sie – falls sie richtig verstanden und angewendet wird – auf zeitlos gültigen Naturgesetzen beruht.
- Ayurveda gehört demnach nicht zu einer bestimmten Zivilisation, noch wurde sie wirklich von einer solchen erfunden, allenfalls entdeckt und ausgedrückt.
- Ayurveda hat keinen Anfang und kein Ende.
- Ayurveda gehört nicht zu einer bestimmten Religion oder zu einem bestimmten Glauben und steht auch in keinem Widerspruch dazu.
- Ayurveda gehört konsequenterweise auch nicht allein zu einem bestimmten Abschnitt der Menschheitsgeschichte, ist also weder Relikt einer alten noch Produkt einer modernen Kultur oder Lebensweise.
Unter Ayurveda ist in diesem Sinn mehr als eine bloße Erfahrungsheilkunde zu verstehen; er verkörpert die Gesamtheit der naturgemäßen Prinzipien von Heilung und Gesunderhaltung. Die systematische Theoriebildung des Ayurveda hat sich selbstverständlich in historisch überlieferten Texten und in einem sehr alten Erfahrungswissen niedergeschlagen. Diese spiegeln aber aus ayurvedischem Selbstverständnis eine Weisheitsschau wider, die die Grundlage der Naturerkenntnis bildet.
In der Charaka-Samhita, dem großen und bedeutenden antiken Standardwerk der ayurvedischen Medizin, wird die immerwährende Gültigkeit des Ayurveda aus der Beschaffenheit der Natur des Lebens selbst abgeleitet. Gesundheit und Leiden, ihre körperlichgeistigen sowie materiellen Begleitumstände, ihre Ursachen und Symptome, funktionieren nach den immer gleichen Gesetzmäßigkeiten, die das Leben selbst charakterisieren. „Das Feuer ist immer heiß, das Wasser flüssig. Nimmt man Schweres zu sich, vermehrt sich das Schwere, bei Leichtem die Leichtigkeit. Nicht ist irgendwann einmal der Strom des Lebens nicht da gewesen“, heißt es sinngemäß in einem der letzten Verse des großen Einführungskapitels der Charaka-Samhita, dem Sutrasthana.1,2
Rezitation und mündliche Weitergabe diente auch der Bewusstseinsentwicklung
Die Charaka-Samhita verweist in Kapitel I, 2 auf einen wichtigen Umstand: Der Ayurveda wurde ursprünglich von Rishis, von Sehern und Weisen hohen Bewusstseins in der Tiefe ihrer Meditationen geschaut. Ayurveda ist also im Bewusstsein des Menschen ein Naturgesetz, das zeitlos und immer gültig existiert. Es war daher, so berichten die Texte, anfangs nicht nötig, Aufzeichnungen des gelehrten Wissens anzufertigen. Die Naturgesetze, die der Ayurveda verkörpert, wurden vielmehr in Klang, Rhythmus und Form der Hymnen des Sanskrit ausgedrückt, sie wurden rezitiert und so vom Lehrer auf den Schüler über Jahrtausende weitergegeben. Dies entwickelte auch das Bewusstsein der Schüler der Heilkunst. Denn das Hören der Sanskritklänge und das Rezitieren selbst verbessern offenbar die Synchronisation von Gehirnfunktionen, wie wissenschaftliche Untersuchungen zeigen (s. → Seite 199). Erst sehr viel später, als Wissen auf diese Weise nicht mehr zuverlässig tradiert werden konnte, entstanden die ersten Aufzeichnungen und die Werke des Ayurveda, wie wir sie heute vorliegen haben. Die Rishis hörten auf, das Wissen in der ursprünglichen Weise weiterzugeben und die Bewusstseinsentwicklung durch die mündliche Überlieferung und das Auswendiglernen entfiel damit.
Ayurveda – medizinischer Aspekt des Veda
Der Ayurveda ist ein medizinisches System, das seinem Wesen nach auf spirituellen Erkenntnissen beruht, die in den Veden und der vedischen Literatur ausgedrückt sind. Der Ayurveda ist also Teil des Veda, einer umfassenden Lehre von Mensch, Natur und Kosmos.
- Veda heißt reines, vollständiges Wissen von den Naturgesetzen. In dieser Bedeutung wird der Veda, ausgedrückt in vedischen Schriften, nicht nur als eine historische Überlieferung des alten Indien betrachtet, sondern als eine Struktur geistiger und materieller Gesetze. Dies entspricht nach westlichem Verständnis dem Logos oder der Sophia.
- Ayus bedeutet Zeitspanne oder auch Leben. Der Ayurveda ist nach dieser Definition also das reine und vollständige Wissen vom Leben in seiner ganzen Reichweite: der zeitlosen, unendlichen Dimension des Lebens, das sowohl der Schöpfung und dem Leben selbst als auch der begrenzten Zeitdauer eines individuellen Daseins zugrunde liegt.
Reichweite von Ayurveda
Ayus bedeutet Zeitspanne oder Leben Veda ist reines, vollständiges Wissen
Ayurveda ist das Wissen oder die Wissenschaft vom Leben in seiner ganzen Reichweite: vom zeitlich begrenzten individuellen Leben bis zum unbegrenzten, kosmischen und zeitlosen Sein, das dem eigenen Selbst zugrunde liegt.
Der Ayurveda befasst sich demnach mit dem Leben an sich. Seine konkrete und praktische Aufgabe besteht darin, dem Menschen ein gesundes und langes Leben in Glück und Erfolg zu schenken. Dabei steht Vorbeugung an erster Stelle und Heilung, wenn erforderlich, wird mit den Mitteln der Natur und im Einklang mit ihr erreicht.
Ursprung und Entwicklung des Ayurveda
Mythologischer Ursprung
Unabhängig von diesem absoluten, ja zeitlosen und kulturübergreifenden Anspruch der ayurvedischen Medizin wird in den alten Texten die mythologische Herkunft des Ayurveda in verschiedenen Versionen beschrieben. Demnach gab es ein goldenes Zeitalter mit Frieden unter den Menschen, wo sie weder Krankheit noch Leid kannten und sich eines glücklichen und sehr langen Lebens erfreuten. Als sie aber allmählich begannen, gegen Gesetze der Natur zu verstoßen, breiteten sich die ersten Krankheiten aus. Dies veranlasste die Weisen des Landes, sich in den abgeschiedenen Wäldern des Himalaja zu beraten. In tiefer Meditation versenkt offenbarte sich ihnen die Quelle der Heilkunst des Ayurveda. Indra, der König der Devas, der lichtvollen Wesen, war im Besitz dieses Wissens und konnte es ihnen übergeben. Sie schickten daher Bharadvaja zu Indra, der dieses Wissen erhielt und es auf der Erde weitergab und lehrte.
Eine vollständigere Darstellung der Ableitung des Ayurveda aus göttlicher Herkunft, ist diese: Brahma, der Schöpfergott, offenbarte das Wissen des Ayurveda, die Grundlagen des Lebens, der Heilkunst und ihrer Gesetzmäßigkeiten, Daksha Prajapati, einem Weisen und Heiligen, der in manchen Schriften auch als Sohn von Brahma bezeichnet wird. Von Prajapati ging das Wissen über auf die Ashvins, die Zwillinge, die als göttliche Ärzte in Svarga, dem Paradies verehrt werden. Von diesen wurde der Ayurveda schließlich weiter gereicht an Indra, den Herrscher über die Devas, der es wiederum an seine Schüler Atreya und Bharadvaja übergab, von dort gelangte es zu Kashyapa und schließlich an Dhanvantari.
Dhanvantari wird als der Arzt der Götter verehrt und gilt als frei von menschlichen Schwächen und als ein Meister universaler Erkenntnis. Im Ayurveda ist Dhanvantari heute so etwas wie der Schutzpatron der Ayurveda-Ärzte. Er wird in Tempeln verehrt und in Statuen und Gemälden vierhändig mit dem goldenen Kalash, einem Gefäß, das symbolisch die Heilkraft des Ayurveda enthält, dargestellt.
Dhanvantari – der Schutzpatron der Ayurveda-Ärzte.
Historischer Ursprung
Vor dem philosophisch-mythologischen Hintergrund wird aus historischer Sicht diskutiert, wie alt vedisches Wissen ist, wo es entstanden ist oder von welchen geografischen Zonen es seinen Ausgang genommen hat. Aber hier stoßen höchst widersprüchliche Theorien aufeinander, aufgestellt von Historikern, Archäologen und Sprachwissenschaftlern aus Ost und West. Wie, wann und wo Ayurveda und andere vedische Disziplinen entstanden sind, wird höchst konträr beurteilt. Wer welche Theorie vertritt, scheint in erster Linie davon abzuhängen, welchem Kulturkreis er angehört.
Die Arier-Migrations-Theorie (AMT) geht davon aus, dass die Urheimat so genannter vedischer Arier in Zentralasien gelegen hat, die dort 7000 bis 5000 Jahren v. Chr. oder noch früher gelebt haben und in einem Zeitrahmen von etwa 1900 bis 1000 v. Chr. im Zuge der indogermanischen Völkerwanderung nach Nordwestindien eingewandert sein sollen. Das damalige Indien schloss die Gebiete des heutigen Pakistan, Bangladesh, Nepal und Teile von Ostafghanistan ein. Nomadenartige Stämme sollen ihre Bräuche, Riten und Naturerkenntnisse ausgehend von den Steppen Südrusslands, nach einer anderen Theorie mehr vom Kaukasus aus nach Indien eingebracht haben.
Zu dieser Auffassung kommt man unter anderem aufgrund archäologischer Funde, Analysen der frühen vedischen Texte – vor allem des Rik-Veda – und linguistischer Interpretationen. Demnach wäre das von den Indern mit so großem Stolz betrachtete vedische Erbe, das ihre gesamte Kultur, Lebensweise und Religion bis hin zu den alten Wissenschaften geprägt hat, indoeuropäischen und nicht originär indischen Ursprungs. Nach der AMT bildet die indogermanische Sprachfamilie – sie schließt persisch, slawisch, altanatolisch, griechisch, lateinisch, germanisch und keltisch ein – den Kern und die Urheimat der vedischen Kultur und vedischen...