GESCHICHTE VOM TRAGEN UND NICHTTRAGEN
Glaubt man der Werbung und den Hollywoodfilmen, könnte man meinen, dass Menschenkinder kleine Hundewelpen sind. Dass sie brav im Bettchen liegen – sogar über mehrere Stunden – und mucksmäuschenstill warten, bis die Mama mit der Milch wiederkommt. Dass dies nicht so ist, merken wir spätestens, wenn unser eigenes Baby geboren wird und es zu den 60 Prozent aller Babys gehört, deren Instinkte »leider« perfekt funktionieren. Es lässt sich nicht ablegen, möchte am liebsten nur auf der Mama oder dem Papa schlafen, wacht nachts ständig auf und verlangt vehement nach Nähe und Milch. Man kommt gefühlt zu nichts mehr. Wo ist der Mensch, der man vor kurzem noch war? Wo ist plötzlich die Eigenständigkeit, die Entscheidungsfreiheit? Nicht selten läuft die ehemalige Geschäftsfrau abends mit ungewaschenem Haar an dem angebissenen Brot vom Frühstück vorbei, an dem sich bereits die Rinde aufstellt.
Es gibt jetzt zwei Möglichkeiten – wir arbeiten mit der Natur Hand in Hand und machen uns unser Wissen zunutze, oder wir versuchen sie zu täuschen!
Täuschung des Babys durch Industrieprodukte
Die Babyindustrie hat mittlerweile begriffen, dass Menschenkinder dringender als alles andere die Mama brauchen, keine Laufställchen. Auf diese Erkenntnis reagiert sie mit allerlei Produkten, um uns das Leben zu erleichtern und um uns wieder mehr Ruhe zu verschaffen. Rüttelnde oder federnde Wippen mit oder ohne Ipad-Halterungen, mit oder ohne integriertem Pucksack. Nuckis, Kissen, die die Geräuschkulisse der Gebärmutter imitieren, Fön-Apps, Federwiegen und viele andere Produkte warten darauf, von uns gekauft zu werden. Und wir tun es! Wir würden nach einigen Wochen Schlafentzug vermutlich alles kaufen, was uns mehr Ruhe verspricht. Denn Schlafentzug ist für uns Menschen so schlimm, dass er früher als gängige Foltermethode genutzt wurde.
Aber all diese Dinge funktionieren doch!
Die Produkte funktionieren. Manchmal richtig gut, manchmal weniger, denn jedes Baby ist anders, und jedes hat einen ganz eigenen Charakter. Was haben all diese Produkte gemeinsam und wie ist die Industrie auf die Idee gekommen, genau diese Dinge zu entwickeln? Die Antwort auf diese Fragen ist recht einfach: Diese Produkte gaukeln dem Baby vor, dass es die Dinge bekommt, die es benötigt. Nämlich Körperkontakt, Liebe, Nähe, Geborgenheit – mit einem Wort: Mama und/oder Papa! Sie schaukeln, wippen, machen Geräusche, die denen ähneln, die die Babys aus dem Mamabauch kennen. Der Nucki ist ein Brustersatz, das Schaukeln kommt ihnen so vor, als würden sie getragen. Puckt man sie dabei, wird dieses Gefühl noch verstärkt, da die Geborgenheit und Enge der Gebärmutter oder der tragenden Arme kopiert wird. Es ist gut zu wissen, dass wir diese kleinen Hilfsmittel im Alltag nutzen können. Aber wir sollten diese »Waffen« wohldosiert und mit Bedacht wählen und nutzen.
Tragen ist doch neumodischer Schnick-Schnack
Im Gegenteil! Früher gab es keine andere Möglichkeit, als Kinder bei sich auf dem Arm zu haben. Auch in Europa wurden die Kinder immer getragen, egal, ob die Eltern arm oder reich waren. Selbst die Jungfrau Maria hält auf diversen Gemälden das Jesuskind in einer Art Tragegurt – das beste Beispiel dafür, dass sich Maler der verschiedensten Epochen gar nichts anderes vorstellen konnten, als dass Kinder auf diese Art transportiert wurden.
Wer sein Kind trägt, kann sich wohl keinen Kinderwagen leisten?
Im 18. Jahrhundert geriet das Tragen aus der Mode. Ein Kind immer bei sich zu haben galt als Armutszeichen. Menschen aus privilegierteren Schichten distanzierten sich von den ärmeren Schichten, indem sie ihr Kind nicht trugen. Auch sonst hielten wohlhabende Leute ihre Kinder auf Abstand: Wer allzu viel Nähe zuließ, gefährdete sein gesellschaftliches Ansehen. Deshalb holte man sich Ammen ins Haus oder gab die Kleinen gar zum »Zwecke der Aufzucht« aufs Land.
Was der Adel für sich als gut erachtet, wird vom Volke kopiert
So haben es die Menschen innerhalb weniger Jahrzehnte geschafft, ein natürliches Verhalten abzulegen, ja, dieses fast zu stigmatisieren, indem sie sich ihre Babys vom Leib hielten und ihnen damit die notwendige Nähe versagten. Und das alles galt nicht nur als Mode, sondern als vernünftig, richtig und aufgeklärt. Dazu hat auch der Kinderwagen beigetragen, der unter anderem zu diesem Zwecke erfunden und gebaut wurde: Mehr Distanz zu den eigenen Kindern und den armen Leuten, die sich einen Kinderwagen nicht leisten konnten.
Die Erfindung des Kinderwagens
Im Mittelalter wurden für den Transport von Kindern bisweilen Schubkarren verwendet. Den eigentlichen Kinderwagen aber haben die Engländer erfunden, und zwar deutlich später: Etwa um die Mitte des 19. Jahrhunderts setzte sich die Erkenntnis durch, dass Kinder frische Luft brauchen, also schickte man das Kindermädchen mit den Kleinen täglich zum Spazierengehen. Zunächst kam dafür der Stubenwagen zum Einsatz, ein Bettkörbchen auf Rollen, in dem der Säugling zu Hause schlief. Die frühen Kinderwagen sind daher auch nichts anderes als Weidenkörbe auf hohen Rädern. 1840 wurde die erste Fabrik für Kinderwagen in England gegründet. Das ist noch nicht einmal 200 Jahre her. Maximal sieben Generationen sind seither mit einem Kinderwagen aufgewachsen – für die Evolution ein Sekundenbruchteil. In solch kurzer Zeit können sich weder Instinkte noch Anatomie eines Babys den Veränderungen anpassen.
Man kann also mit voller Berechtigung zu dem Schluss kommen, dass es sich beim Kinderwagen um neumodischen Schnick-Schnack handelt – Schnick-Schnack, bei dessen Entwicklung zudem die Bedürfnisse und Physiologie von Menschenbabys nicht berücksichtigt wurden, wie wir noch zeigen werden.
TRAGLING – ODER: WIR SIND WEDER WELPEN NOCH FOHLEN!
In der Biologie wurden die Nachkommen aller Lebewesen lange Zeit in zwei Kategorien unterteilt: Nesthocker und Nestflüchter.
Nesthocker sind die Babys, die auf die Hilfe der Eltern angewiesen sind, beispielsweise Vögel, Katzen und Hunde. Sie kommen nackt und blind auf die Welt, können sich noch nicht selbstständig fortbewegen, bleiben in ihrem »Nest« und warten auf die Versorgung durch ihre Eltern, ohne die sie nicht überleben würden. Sie verhalten sich eher ruhig und machen nicht auf sich aufmerksam, um keine Fressfeinde anzulocken. Bei den Säugetier-Nesthockern ist die Milch sehr fett und reichhaltig, damit die Babys nach den Mahlzeiten jeweils lange satt sind und allein zurechtkommen, während die Eltern auf Futtersuche sind.
Was sind Nestflüchter?
Die Babys der Kategorie Nestflüchter hingegen sind direkt nach der Geburt dazu in der Lage, sich ihrer Gruppe anzuschließen – sie sind quasi Miniaturausgaben der Eltern und im Notfall fähig zu flüchten. Ihre Augen und Ohren sind geöffnet und die notwendige Körperbehaarung ist vorhanden. Vertreter dieser Kategorie sind zum Beispiel Pferde, Kühe und Elefanten. Hier ist die Milch weniger fett, denn die Jungtiere folgen ihren Eltern und somit auch der Nahrungsquelle auf Schritt und Tritt.
Es gibt noch eine dritte Art Jungtiere
In den 1970er-Jahren wurde von Bernhard Hassenstein, einem namhaften Forscher auf den Gebieten der Verhaltensbiologie und biologischen Kybernetik, ein neuer Jungentypus benannt: der Tragling.11 Dies ist der Oberbegriff für alle Lebewesen, die von einem Elternteil getragen werden, weil sie sich noch nicht alleine fortbewegen können. Dabei unterscheidet man zwischen aktiven und passiven Traglingen.
Aktive Traglinge sind beispielsweise die Affen, da sie sich im Fell ihrer Mütter festhalten und anklammern, also aktiv mitarbeiten. Passive Traglinge nennen wir die Lebewesen, die im Beutel ihrer Mutter umhergetragen werden. Prominenteste Beispiele sind Känguru und Koala. Die Babys dieser Gattung schlüpfen nach relativ kurzer Zeit innerhalb des Mutterleibes in den Bauchsack, um dort die restliche Zeit der Reifung zu verbringen.
Sind wir eine Mischung aus Welpen und Fohlen?
Menschenkinder wurden bisher immer als eine Mischung aus Nestflüchtern (wir sehen aus wie die ausgewachsenen Vertreter unserer Gattung – unsere Augen und Ohren sind bei der Geburt geöffnet) und Nesthockern (wir sind völlig hilflos und können »der Herde« noch nicht folgen) angesehen. Gemäß Hassenstein haben wir Menschen unser Nesthockerstadium bereits im Bauch durchlebt. Im dritten Monat der Schwangerschaft schließen wir unsere Augen und Ohren, um sie wenige Wochen danach wieder zu öffnen. Wir sind allerdings auch keine wirklichen Nestflüchter – dauert es doch meist ein ganzes Jahr oder mehr, bis wir laufen können. Hier ist der Mensch also auch eher eine Mischung aus aktiv und passiv. Der Grund liegt darin, dass wir quasi physiologische Frühgeburten sind.12
Dickkopf vs. kleines Becken
Unsere Gehirne (und damit auch unsere Schädel) sind im Laufe der Evolution stark gewachsen und passen damit nicht mehr gut durch das gleichzeitig schmaler gewordene Becken. Während unsere Gehirne nämlich größer wurden, haben wir uns aufgerichtet, was das Becken der Frauen verändert hat. Das Gehirn des Babys ist zwar zum Zeitpunkt seiner Geburt nur zu 25 Prozent entwickelt, aber wie schon erwähnt, sind zwar alle Bereiche bereits angelegt, aber eben noch nicht »online«. Das Gehirn benötigt in der Moderne also deutlich mehr Platz als noch vor 10.000 Jahren.
Damit der Babykopf gut durch das weibliche Becken passt, werden Babys quasi unreif geboren. Folglich müssen sie am Körper nachreifen, nur eben ohne hauseigenen Beutel. Gleichzeitig weisen alle Reflexe des Babys darauf hin, dass es sich aktiv beteiligen möchte. Wir sprechen beim Menschenbaby daher...