Hinter dem Horizont
Ich sitze auf der Treppe vor unserem kleinen Bauernhaus. Vor mir der Hof mit Schuppen, Hühnerhaus, Brunnen, Klohäuschen, Misthaufen und großer Scheune. Unser Bauernhof steht in der Nähe von Schwerin, auf der Mecklenburger Seenplatte. Ich bin etwa 5 Jahre alt und versuche angestrengt den Doppelknoten meiner Schnürsenkel zu lösen, den mir Mama wieder einmal gebunden hat in der Hoffnung, dass ich ihn nicht öffnen kann. Mama wusste damals noch nicht, dass ich schon als leidenschaftliche Barfußläuferin geboren wurde. Die Sonne ist noch mild am Morgen, die vertrauten Hofgeräusche wärmen mein Herz. Mich zieht es auf die endlosen Weiden hinter der Scheune. Endlich werde ich für meine Ausdauer und Erfahrung belohnt, schlüpfe aus den Schuhen und bringe mich außer Sichtweite hinter die Scheune. Ich genieße nicht nur den Morgentau an meinen befreiten Füßen, sondern das Alleinsein, die Stille. Ich beobachte nicht die einzelnen Insekten, wie sie unablässig von einer Blüte zur anderen fliegen, nehme nicht die verschiedenen Wiesenblumen wahr, weder die warme Sonne am Himmel noch die Gräser im Wind kommen mir in den Sinn. Es ist wie ein lebendiges, belebendes Bad in einer harmonischen, klangvollen Symphonie, ein Aufgehobensein in der Einheit, die ich verstandesmäßig noch gar nicht fasse.
Meine Augen schweifen zum fernen Horizont. In der Ferne sehe ich Zäune und Hecken. Plötzlich bin ich magnetisiert. Ich erkenne, dass dort, wo Zäune und Hecken stehen, der Himmel die Erde berührt! Ich bin überwältigt von dieser Erkenntnis, die sofort in mir diese Sehnsucht entfacht, dorthin zu laufen und durch den Himmel zu schauen. Ich muss und will einfach durch den Himmel schauen! Ich muss zu dem Punkt, wo Himmel und Erde sich berühren. Wie magisch angezogen, laufe ich sofort los, denn so weit weg scheint es gar nicht zu sein. Ich muss über einen Zaun klettern und drehe mich immer wieder nach Elternhaus und Scheune um. Ich laufe bis zu der Stelle, die ich von der Scheune aus fixiert hatte. Welch eine Enttäuschung, als ich bei den Hecken ankomme! Hier ist nichts, der Himmel berührt dort die Erde, wo rechterhand der Wald anfängt. Ich laufe weiter und drehe mich ängstlich immer wieder um. Das Haus kann ich nicht mehr sehen, aber noch ist das Dach unserer Scheune zu erkennen, noch finde ich leicht zurück. Als ich am Waldrand ankomme, ist die Enttäuschung und Verwirrung noch größer. Eine neue Linie tut sich weit weg von mir auf, noch eine Weide, noch eine Hecke! Nun überfällt mich Sorge und Angst. Das Dach der Scheune verschwindet hinter mir. Aber ich will unbedingt durch den Himmel schauen! Obwohl ich so klein bin, ist meine Sehnsucht stärker als meine Angst, und so mache ich mich auf den Weg, zu dem Punkt, wo Himmel und Erde sich berühren. Als ich ihn erreiche, bin ich den Tränen nahe.
Der Himmel läuft vor mir davon!
Mir ist nicht erlaubt, wenigstens einmal hindurch zu schauen, zu erfahren, was dahinter liegt.
Nach dieser letzten tiefen Enttäuschung renne ich nach Hause zurück. Ich fange erst das Schlendern an, als ich das vertraute Scheunendach wieder sehe. Ich bin zutiefst verwirrt und enttäuscht. Ich weiß, ich kann mit niemandem darüber reden. Ich vermute, dass ich einfach nur dumm bin, und will meinen Geschwistern keine Gelegenheit geben, mich auszulachen. Aber im Herzen weiß ich, dass ich eines Tages in den Himmel hineinschauen werde – koste es, was es wolle.
Mein Lebenstraum ist geboren.
Im April 1954 erblickte ich das Licht der Welt, in einem fahrenden Auto zwischen Wittenburg und Rehna in Mecklenburg. Meine Mutter behauptete immer, das sei der Grund, warum ich ständig unterwegs sei, wie eine Zigeunerin. Ich bin das neunte von elf Kindern einer einfachen Bauernfamilie. Hier lernte ich Toleranz, Mitgefühl, Bescheidenheit, und meine Sensoren wurden aufs Feinste geschliffen. Der Hintergrund meiner Eltern war sehr archaisch, was die Erziehungsmethoden anbelangte und erzkatholisch. Sie mussten 1940 ihre Heimat in der Dobrudscha, am Schwarzen Meer in Rumänien, verlassen, lebten während des Krieges in Polen und kamen von dort mit einem Flüchtlingstreck nach Mecklenburg.
An meinem siebten Geburtstag flog der erste Mensch, der Russe Juri Gagarin, ins All. Er behauptete, dass er Gott nirgends gefunden habe. Damals dachte ich, er müsse doch sicher hinter den Horizont geschaut haben – er, in seiner Rakete am Himmel! Wieso hatte auch er nichts gesehen?
Damals lebten wir schon in Westdeutschland in einem Flüchtlingslager, nach einer gelungenen Flucht ein halbes Jahr zuvor. Für meine Eltern vergingen zweiundzwanzig Jahre, die geprägt von Umsiedlung, Vertreibung, Flucht, der Geburt von elf Kindern waren, bis sie 1962 im Frankenland angesiedelt wurden. Ich war damals acht Jahre alt, froh, mit nur zwei Schwestern ein Zimmer teilen zu müssen, und nicht mit zwanzig Fremden. Welch ein Luxus!
Ich blieb nur acht Jahre dort in der Nähe von Würzburg wohnen, denn im Alter von Sechzehn ging ich nach München, um ein Freiwilliges Soziales Jahr zu absolvieren. Ich hatte keine Ahnung, was ich nach der Mittleren Reife lernen sollte. Aber ich wusste, dass ich nicht Sekretärin oder Krankenschwester werden wollte. Der Gedanke, Kindergärtnerin zu werden, war für mich nur das kleinere Übel. Also entschied ich mich erst einmal, nach München zu gehen. Als das Jahr vorbei war, wusste ich immer noch nicht, wohin mit mir. Also hängte ich noch ein Jahr als Au Pair in England dran. Zurück in Deutschland wollte/sollte ich eigentlich auf eine Schule für Kindergärtnerinnen gehen, aber ich wusste instinktiv, dass das nicht mein Weg sein konnte.
Von einer wunderbaren Norwegerin wurde ich vor dieser Schule bewahrt. Kirsten war 1961 als junges Mädchen zu uns ins Flüchtlingslager als Freiwillige im Dienst der Norwegischen Flüchtlingshilfe gekommen. Nun, zum Sommersemester 1976 war sie in Deutschland, um Deutsch zu studieren, und suchte ein junges Mädchen, welches mit ihr nach Norwegen kommen würde, um sie bei ihrem Deutschstudium mit deutscher Konversation und bei der Betreuung ihrer zwei kleinen Kinder zu unterstützen. Ich war begeistert und reiste mit großer Freude und Erleichterung nach Norwegen. Heute weiß ich, es war die sorgloseste Zeit meines Lebens. Ich fühlte mich angenommen und respektiert von meiner Gastfamilie.
Meine Eltern waren verzweifelt, denn ich wollte mich so gar nicht an die gesellschaftliche Norm halten – oder was sie darunter verstanden. Ich schien wohl schon von Kindesbeinen an auf die Stimme meines Herzens programmiert. Die norwegische Sprache fiel mir leicht und bald unterhielt ich mich mit den Kindern norwegisch, mit meiner Gastmutter deutsch und mit meinem Gastvater, einem Englischlehrer, englisch. Er erkannte mein Talent für Sprachen und so wuchs in mir der Wunsch, auf eine Sprachschule zu gehen, was ich sogleich umsetzte, als ich nach Deutschland zurückkam. Das fühlte sich einfach richtig an. Nach zwei Jahren Sprachschule legte ich die Prüfung zur staatlich anerkannten Dolmetscherin für Deutsch/Englisch und zur Fremdsprachenkorrespondentin für Deutsch/Spanisch ab.
Ich habe nie als Dolmetscherin gearbeitet.
Heute dolmetsche ich zwischen den Welten.
Noch bevor ich 1975 zur Prüfung antrat, hatte ich mich beim Deutschen Entwicklungsdienst (DED) beworben. Mich drängte es wieder ins Ausland und meine soziale Ader wollte auch gelebt werden. Ich schloss einen Zwei-Jahres-Vertrag mit dem Deutschen Entwicklungsdienst als Entwicklungshelferin ab, der mich mit gerade einundzwanzig Jahren nach Dar-es-Salaam in Tansania als Fremdsprachenkorrespondentin verpflichtete. Zur Vorbereitung auf Tansania musste ich aber für zweieinhalb Monate nach Berlin. Hier lernte ich nicht nur Kisuaheli und Landeskunde, sondern auch meinen zukünftigen Mann Heinz kennen und lieben. Tansania war eine großartige Erfahrung für mich. Die heitere Arbeitsatmosphäre im Büro, die Einheimischen, die ich sehr zu schätzen lernte, meine zwei Reisen mit dem Zug quer durch das Land zum Victoriasee und zum Tanganjikasee zu den Entwicklungshelfern vor Ort, der Kilimandscharo, der Indische Ozean vor der Haustüre, all das hat einen warmen Platz in meinem Herzen.
Nach einem halben Jahr kündigte ich meine Stelle in Dar-es-Salaam und folgte meinem Freund nach Swasiland. Der nämlich durfte seinen Vertrag nicht kündigen, da er als Freiwilliger seinen Ersatzdienst für die Bundeswehr in Swasiland leistete. Sonst wäre er schon nach Tansania gekommen. Einen Monat später heirateten wir, da ich keine Aufenthaltsgenehmigung bekam, und ein Jahr später, im Mai 77, nahmen wir zwei schwarze Babys auf, die wir mit Mühe und Glück adoptieren konnten.
Bernhard war etwa 3 Monate alt, ein Findelkind. Er war dem Tod näher als dem Leben. Sein Lebenswille war jedoch stärker und er hat sich im Laufe der Zeit zu einem gesunden, kraftvollen jungen Mann entwickelt. Seine Liebe gilt dem Basketball, dem Sport überhaupt. Er fühlt sich sehr verbunden mit seinem Krafttier und seiner Geistführerin, die er in seinen Alltag integriert.
Matthias war bereits 9 Monate alt, als wir ihn in einem Kinderheim entdeckten. Bernhard kam Anfang Mai, Matthias Ende Mai des gleichen Jahres zu uns. Beiden ging es zu Beginn sehr schlecht und sie mussten gleichermaßen wie ein Zwillingspärchen versorgt werden. Matthias war von Anfang an ein sehr ernstes Kind. Wir können heute stundenlang philosophieren. Er respektiert meinen schamanischen Lebensweg, aber es ist nicht sein Weg.
Lisa wurde 1979 in Swasiland geboren. So zu einem Kind zu kommen, war bei Weitem einfacher! Aber da wir uns eine große Familie wünschten und es genügend Kinder ohne Eltern gab, haben wir eben zuerst adoptiert. Auch Lisa geht ihren erfolgreichen...