EINFÜHRUNG
Gewiss erwarten einige von einem Buch über Minimalschuhwerk, das die Autorin mehrerer Bücher über natürliche Bewegung und Fußgesundheit verfasst hat, ungefähr Folgendes: »Minimalschuhe sind toll. Wir sollten sie ständig tragen, dann wären wir alle gesünder. Ende.«
Überraschung! Solche pauschalen Ratschläge wirst du hier vergeblich suchen. Tatsächlich schreibe ich dieses Buch, weil womöglich das Gegenteil wahr ist: Ein unvorsichtiger Wechsel zu minimalem Schuhwerk kann sehr leicht zu Verletzung und Verschlimmerung führen. Selbstverständlich bin ich ein großer Fan von Minimalschuhen und durchaus der Meinung, dass man herkömmliche Schuhe nach Kräften aus seinem Schuhregal verbannen sollte. Allerdings können hundert kleine Schritte (Wortspiel beabsichtigt) nötig sein, bis man Minimalschuhe tragen kann, ohne Schäden zu verursachen oder Beschwerden beizubehalten.
Unser Alltag ist völlig überfrachtet, und wir suchen immer nach simplen Lösungen. Aber der Trend, Gesundheitsförderung auf das Schema Fünf-Portionen-fünf-Übungen-fünf-Minuten-pro-Tag zu reduzieren, lässt wichtige psychologische Regeln unter den Tisch fallen, um die Verbreitung in Zeitschriften und auf Internetseiten zu erleichtern. Ich bin oft darum gebeten worden, solche Spickzettel zu erstellen – und ja, ich hab’s gemacht. Leider bietet eine kurze Liste – so hilfreich sie sein mag – nicht genug Raum für die Anstrengungen, die für nachhaltige Gesundheitsverbesserungen nötig sind. Im Falle des Trends zu Minimalschuhwerk, der viele Menschen dazu brachte, ohne vorherige Übergangsübungen hineinzuschlüpfen, ging der Schuss oft unweigerlich nach hinten los, da die Schuhe »nicht wie vorgesehen funktionierten«.
Minimalschuhe, die dem Sport treibenden Träger explizit oder implizit gesundheitliche Vorteile verschaffen können, stehen in der Diskussion. Da es keine Daten zum langjährigen Gebrauch von Schuhwerk ohne Stütze und Dämpfung gibt, sehen viele Mediziner darin eine Verletzungsgefahr. Minimalschuhhersteller und Barfußlaufbefürworter halten dagegen, dass das Barfußlaufen natürlich ist und Barfußschuhe daher gut sein müssen. Als Autorin, die Laien komplizierte wissenschaftliche Erkenntnisse nahezubringen sucht, ohne dass die Korrektheit darunter leidet, ist mir klar geworden, dass dieser Streit auf Missverständnisse und zu grobe Verallgemeinerungen zurückzuführen ist. Daher dieses Buch.
Schaut man genauer hin, gilt für diese wie für die meisten Diskussionen, dass beide Seiten richtig- und falschliegen. Forschungen zufolge sind Minimalschuhe nicht für jedermann in jeder Situation unbedenklich – Forschungen zeigen aber auch, dass herkömmliche Schuhe ganz eigene körperliche Schäden hervorrufen.
Was bei der ganzen Diskussion unterzugehen scheint, ist, dass Schuhe nicht im leeren Raum existieren. Schuhe und Füße stehen in Beziehung zum Menschen und seiner Umgebung. Wie sich Schuhe auf den Körper ihres Trägers auswirken, hängt daher vom Zustand der Füße, von der Körperhaltung, dem Gangmuster, der Bewegungshäufigkeit und der Bodenbeschaffenheit ab. Schuhe an sich können weder das Problem noch die Lösung sein. Bevor wir uns auf das optimale Schuhwerk festlegen, müssen wir in Betracht ziehen, was im Körper und im Leben des Trägers vor sich geht.
Beide Seiten des Streits um Minimalschuhe wollen nur das ihrer Ansicht nach Beste – Gesündeste – für alle. (Ignorieren wir einfach die Diskussionsteilnehmer mit handfestem Intere$$e am Minimalschuhboom und jene, die sich bloß über das Aussehen von Minimalschuhen mokieren. Keine Ahnung, ob die auch dein Bestes wollen.) Dennoch könnten beide Seiten von einem weiter gefassten Blickwinkel und einer längeren Erörterung, als in den sozialen Medien möglich ist, nur profitieren. Wer Begriffe klärt, klärt auch Streit.
ERST GEHEN, DANN LAUFEN
Dank dem Autor Christopher McDougall (Born to Run) und anderen Barfuß-Befürwortern erhoffen sich viele Menschen vom Wechsel zu minimalen Schuhen eine Veränderung ihres Laufstils. Sollte das auf dich zutreffen, dann denk bitte daran, dass Laufen und Gehen zwei biomechanisch sehr verschiedene Dinge sind, da die Belastung des Körpers (und der Füße) ganz unterschiedlich ist. Zwar ist Laufen etwas ganz Natürliches (da es in der Natur vorkommt), aber auf natürliche Weise laufen nur Tiere (Menschen eingeschlossen), die ihr Leben lang einen großen Teil des Tages mit Gehen verbringen (und mit Hocken und allerlei Bewegungen, die nichts mit Rennen zu tun haben). Form und Kraft des Gewebes, das in der Natur zum »Barfuß«-Laufen eingesetzt wird, ist daher von reichlichem Barfußgehen geprägt – und das ist bei dir nicht der Fall. So wie du als Kleinkind viel Zeit mit dem Gehenlernen verbrachtest, bevor du reflexartige Laufversuche machtest, musst du deiner Laufpraxis eine Grundlage verschaffen, die über alleiniges Laufen hinausgeht. Aus diesem Grund behandle ich das Gehen viel eingehender als das Laufen.
Bevor ich daher beschreibe, wie der Wechsel zu Minimalschuhwerk im Detail vonstatten geht, möchte ich – im Detail – klären, wohin dieser Wechsel eigentlich führt.
MINIMALE UNTERSCHIEDE
Ein Kollege von mir ist Befürworter von Minimalschuhen und Barfußlaufen, ist aber von Beruf aus Biochemiker. Seine Definition eines Minimalschuhs mag sich von der meinen unterscheiden, weil es ihm mehr um die Wachstumsbedingungen von Bakterien und Pilzen geht und er Flipflops allein deshalb als minimal bezeichnen würde, weil sie offen sind. Die Moral von der Geschicht’ ist, dass es immer auf den Blickwinkel ankommt. Bedenke daher bei deinen eigenen Recherchen immer, was du dir einerseits von Minimalschuhen versprichst und aus welchem Blickwinkel die Anleitung, die du befolgen willst, geschrieben ist.
Der Begriff Minimalschuhwerk (gängig sind auch »minimalistisches Schuhwerk« oder einfach »Barfußschuhe«), wie ich ihn gebrauche, bezeichnet Schuhwerk, das die Veränderung der natürlichen menschlichen Bewegungsweise minimiert. Diese Definition unterscheidet sich geringfügig von dem Begriff minimal in Bezug auf die Materialmenge, aus der ein Schuh besteht. Beispielsweise werden Flipflops häufig wegen ihrer geringen Masse als Minimalschuh angesehen. Aber dass Flipflops die Art zu gehen ändern (wie in Teil 1 beschrieben), offenbart eine gründliche, ja sogar schon eine oberflächliche biomechanische Analyse (sprich: ein Blick auf die Füße beim Gehen in Flipflops). Minimale Schuhmasse ist daher nicht das beste Kriterium, um einen Schuh als »minimal« zu klassifizieren.
Schuhe werden üblicherweise in die Bauteile Boden (Sohle, Absatz) und Schaft (alles andere) unterteilt.
Minimalschuhe haben:
• eine Sohle, die so dünn und biegsam ist, dass der Fuß (und nicht nur das Fußgelenk) mit all seinen Geweben den Boden spüren und darauf mit Bewegung, Kräftigung, Anspannung, Entspannung etc. reagieren kann.
• einen neutralen Absatz oder fachsprachlich ausgedrückt »null Sprengung«, sodass alle Gelenke von einem neutralen Ausgangspunkt aus arbeiten und ihren gesamten Bewegungsspielraum nutzen können.
• einen Schaft, der den Schuh sicher am Fuß hält, sodass es nicht nötig ist, die Zehen oder die Vorderseite des Unterschenkels zu verkrampfen, um den Schuh beim Gehen nicht zu verlieren.
• eine geräumige Vorderkappe, die den Zehen erlaubt, sich so zu strecken und auszubreiten, wie es das Gehen, Wandern oder Klettern erfordert.
Minimalschuhe müssen nicht minimalistisch im Sinne von geringstmöglich sein, sie müssen nur den Fuß Fuß sein lassen und ihn vor Verletzungen durch den unnatürlichen Kleinmüll schützen, der in der modernen Welt herumliegt.
SCHUHKULTUR
Viele Eigenschaften moderner Schuhe, etwa der Absatz oder der enge Zehenraum, sind kulturellen Ursprungs – und der Mode unterworfen. Die Vorstellungen davon, wie Schuhe sein müssen und warum wir sie brauchen, sind ebenfalls kulturell geprägt und spiegeln die Idee der Überlegenheit bestimmter Kulturen oder Klassen wider. Oft wurden Menschen, die keine Schuhe trugen, als Wilde oder als Personen von niederem Stand angesehen – seien es Londoner Straßenkinder oder Ureinwohner der »Neuen Welt«. Unbeschuhtheit wurde mit Unzivilisiertheit gleichgesetzt und als etwas Primitives gesehen (wo wir doch alle bekanntlich Primaten sind).
In vielen Kulturen signalisierte man einst durch das Tragen von Schuhen die Distanz zwischen dem Schuhträger und den barfüßigen Klassen und Kulturen. So wurde auch blasse Haut als Zeichen des Drinnenbleibens geschätzt (gebräunte Haut verriet Arbeit unter freiem...