1 Kind der Liebe
Hilary Swank steht auf der Damentoilette des Beverly Hilton Hotels und schiebt ihr Dekolleté zurecht. Sie scheint die betont desinteressierten Blicke der anderen Frauen hier nicht zu bemerken – die meisten sind Besucher der Golden Globe-Verleihung, die es immer kaum fassen können, Hollywoods größten Stars so nahe zu kommen. Vor mir wartet Uma Thurman in der Schlange, hinter mir Kate Winslet. Als Hilary mich im Spiegel entdeckt, wirft sie mir ihr strahlendes Lächeln zu und ruft: »Frances, wo warst du bei meiner Million Dollar Baby-Pressekonferenz? Du hast mir gefehlt … ich brauche doch deine Unterstützung.« Ich bin nämlich seit 25 Jahren eines von 90 Mitgliedern der so genannten »Hollywood Foreign Press«, der Auslandspresse in Los Angeles, die jährlich die Golden Globes an die Besten von Hollywood vergibt.
Von allen Berühmtheiten, die mir in den 30 Jahren, die ich jetzt in Hollywood lebe, begegnet sind, ist Hilary Swank am »normalsten« geblieben – eine völlig natürliche, ungekünstelte junge Frau, unbeeindruckt von dem Wirbel, der um sie gemacht wird. »Von wem ist Ihr Kleid?«, spricht sie plötzlich eine Klatschkolumnistin von der Seite an. »Calvin Klein«, antwortet Hilary automatisch. Die gleiche Frage hat sie auf dem roten Teppich bei ihrer Ankunft hier im Hotel schon hundertmal beantwortet. »Und wie nennt sich die Farbe?« »Das weiß ich nicht. Sieht braun aus, oder?«, antwortet sie trocken in ihrer burschikosen Art und wendet sich wieder mir zu: »Komm an meinem Tisch vorbei, Nummer sechs, und sag hallo zu meinem Mann. Der freut sich. Ich kann dir nicht sagen, wie verliebt ich in Chad bin, ich liebe ihn nach 12 Jahren immer mehr.«
Hilary hakt sich bei mir unter und zieht mich mit raus, vorbei an den drei Visagistinnen, die der Kosmetikkonzern L’Oreal bereitgestellt hat, um Stars und Nobodys das Make-up aufzufrischen. »Ich muss zurück«, sagt sie und lacht, »man hat mich gewarnt, nicht zu lange zu verschwinden!« Einmal ist es nämlich der TV-Schauspielerin Christine Lahti passiert, dass sie auf der Toilette war, als sie als Gewinnerin ausgerufen wurde und auf die Bühne sollte. Im Jahr darauf absolvierte sie ihren Auftritt während der Show mit einem Fitzel Klopapier am Stöckelabsatz, was für großes Gelächter sorgte.
Es stimmt schon, dass die Oscar-Verleihung viel bedeutender ist, aber beim Golden Globe hat man einfach mehr Spaß. Im Vergleich zum Oscar, wo man im Kodak Theatre am Hollywood-Boulevard mit mehr als 3200 Gästen in Reih und Glied auf verschiedene Stockwerke verteilt wie im Kino sitzt, ist der Globe im Ballsaal des Hilton mit 108 runden Tischen und je 12 Gästen drumherum eine eher intime Veranstaltung. Man isst, trinkt und feiert. Neben mir, vor mir, hinter mir: Mick Jagger, Scarlett Johannson, Clint Eastwood, Lisa Marie Presley, Johnny Depp, Charlize Theron, Prince, Nicole Kidman – die Schönsten und Erfolgreichsten.
Kaum ist Hilary wieder an ihrem Platz angekommen, öffnet auf der Bühne Dustin Hoffman den Umschlag, in dem sich der Name der besten Darstellerin des Jahres verbirgt. Er schaut auf und grinst: »Hilary Swank!«
Leonardo DiCaprio und Cate Blanchett lauschen aufmerksam ihrer Dankesrede. Beide sind nominiert für ihre Rollen in The Aviator, dem Film über das Leben des exzentrischen Milliardärs Howard Hughes. Leonardo macht einen angespannten Eindruck. Es ist nicht seine erste Nominierung, aber heute möchte er gewinnen, weil ihm der Film wirklich was bedeutet, mehr als Titanic. Es ist sein Traumprojekt, an dem er sieben Jahre gearbeitet hat, bis es endlich auf der Leinwand erschien. Seine Kategorie ist erst ziemlich am Schluss dran – für Leonardo eine Qual, für die Zuschauer die Krönung des Abends. Als Charlize Theron seinen Namen als bester Schauspieler verkündet, holt er tief Luft. Dann fasst er sich erleichtert ans Herz und stürmt auf die Bühne. Er ist nicht mehr der Traumboy aus Titanic, sondern ein erwachsener 30-jähriger Mann, für viele jetzt ein Traummann, der eine ergreifende Dankesrede hält. Er fühle sich privilegiert, Teil von Hollywood geworden zu sein, dieser Filmwelt, in der er aufgewachsen ist, sagt er. Der Höhepunkt sei für ihn, mit seinem Lieblingsregisseur Martin Scorsese gearbeitet zu haben. Er hält ihn für den größten Filmemacher aller Zeiten, sagt er mit dieser rührenden Ernsthaftigkeit; unten im Saal lächelt Scorsese wie ein stolzer Papa. Außerdem könne er diese Auszeichnung nicht annehmen, sagt Leonardo, ohne sie »mit meinen wundervollen Eltern zum Dank für ihre liebevolle Unterstützung zu teilen«. Wie lieb, denke ich mir und versuche den Gesichtsausdruck seiner Mutter zu erhaschen.
Ich bin nämlich mit Irmelin DiCaprio befreundet, seit Leo mich vor vielen Jahren mit ihr bekannt gemacht hat. Viele schöne Stunden haben wir in dem Strandhaus in Malibu verbracht, das ihr Leo von seiner ersten großen Gage gekauft hat.
Meine erste Begegnung mit Leonardo war im vornehmen »Four Seasons«-Hotel in Beverly Hills im März 1997. Titanic, der erfolgreichste Film der Geschichte, war noch nicht einmal abgedreht, und Hollywood munkelte von einem Desaster, weil die Produktion sich unendlich hingezogen und 200 Millionen Dollar verschlungen hatte. Ich wollte ihn für den Stern zu seinem Film Romeo und Julia interviewen. Der schlanke Sunnyboy, der nie eine Schauspielausbildung absolviert hatte, galt schon damals als eines der größten Talente. Monatelang hatte ich mich um diesen Termin bemüht und bei meinen Vorbereitungen erfahren, dass seine Mutter aus Deutschland stammt.
Leonardo kam eine Stunde zu spät ins Zimmer gehumpelt – er hatte sich beim Basketball mit Freunden am Strand von Venice Beach den Fuß verstaucht. Er sah blendend aus und überraschte mich mit seiner Größe; ich hatte ihn mir kleiner vorgestellt, so wie das bei den meisten Superstars der Fall ist, die ich hier treffe – Tom Cruise zum Beispiel ist nicht viel größer als einssiebzig. Wahrscheinlich erinnerte ich ihn an seine Mutter, denn er vertraute mir gleich. Ich hätte den gleichen Akzent wie sie, sagte er. »Sie ist bei einem Bombenangriff in einem Bunker auf die Welt gekommen, ist im Nachkriegsdeutschland aufgewachsen und in den 60er Jahren nach Amerika emigriert. Sie hat viel in ihrem Leben durchgemacht. Sie ist mein Vorbild«, sagte er und versuchte, seine dunkelblonde Mähne straff hinter die Ohren zu stecken. Wie sich später herausstellte, waren Irmelin und ich beide Einzelkämpferinnen und gleich alt, Irmelin vom Kohlenpott, ich aus Niederbayern. In Leonardos sonnengebräuntem Jungengesicht blitzen die unglaublich blauen Augen auf, als er mir von seiner Oma aus Oer-Erkenschwick vorschwärmte, die gerade zu Besuch war. »Oma ist zwar klein, aber sie ist ›absolutely great‹. Sie macht meine Fanpost. Sie liebt das. Tag und Nacht liest sie die Briefe. Dann ist sie ganz aufgeregt.« Er ahmt sie mit hoher Stimme nach: »Leonardo, schau dir diesen Brief an. Der kommt aus Thailand! Ich kann gar nicht glauben, wo man dich überall kennt!«
Am Samstagnachmittag nach diesem ersten Interview war ich zu Hause bei Leonardo eingeladen und durfte Mutter und Oma persönlich kennen lernen. Beim Kaffeeklatsch waren die Damen anfangs sehr zurückhaltend. Es war für sie überraschend, dass er mich als Journalistin in seine Familie einführte. Das Haus im Stadtteil Los Feliz war blitzblank, bunte Blumen im Vorgarten, hinter dem Haus ein Swimmingpool. Nicht luxuriös, gut bürgerlich. Nicht unbedingt die beste Gegend. Er ist seiner Großmutter sehr ähnlich, dachte ich mir. Eine starke Frau, die mit 40 Jahren mit Kind und Kegel vom Ruhrpott nach New York emigrierte und mit siebzig von der Bronx wieder in ihren Heimatort zurückkehrte. Irmelin blieb in Amerika und siedelte nach Los Angeles über, heiratete George DiCaprio. Nach sieben Jahren bekam sie Leonardo Wilhelm DiCaprio (Wilhelm nach seinem deutschen Großvater), und ein Jahr später trennte sie sich von ihrem Mann. Leos Eltern lebten im gleichen Viertel, so musste er weder auf Mama noch auf Papa verzichten.
»Frances«, fragte Irmelin später auf unserem Kaffeekränzchen, »wie bist du denn aufgewachsen?« Und so waren sie wieder da, die Kindheitserinnerungen.
Meine Mutter steht in der Küche im »Gasthof zur Post«, mit einer Wickelschürze, Zigarette im Mundwinkel. Aus riesigen Töpfen dampft es – auf den holzgeheizten Ofenplatten eine gleichmäßige Hitze zu erzeugen war eine Kunst, die sie beherrschte. Der Anlass: eine Dorfhochzeit. Eine bayerische Musikkapelle spielte. Mutti hatte alles im Griff, kommandieren konnte sie gut. Und kochen. Da stand sie im Mittelpunkt der Bewunderung. Fanni Gangkofer, meine Mutter, war die Oberwirtin in Kollbach. Fannerl nannte man sie. Sie war die beste Köchin im weiten Umkreis und wurde oft gebeten, auch auf anderen Hochzeiten, die nicht in unserer Wirtschaft stattfanden, sondern bei der Konkurrenz zu kochen. Da lebte sie auf. Gefragt zu sein tat ihr gut. Und sie war dankbar für jedes bisschen Geld, das sie dazuverdienen konnte.
Als die Älteste musste ich schon als Kind anpacken. Jeden Sonntag um sechs Uhr morgens weckte mich Mutti vor ihrem Weg zur Frühmesse, um die Wirtschaft für den Frühschoppen vorzubereiten. Ich hatte meine Routine: erst mal alle Vorhänge aufziehen, damit Tageslicht reinkam. Dazu hüpfte ich über die Bänke von Tisch zu Tisch. Es stank nach abgestandenem Bier und...