In Einfachheit und Veredelung liegt Reichtum.
Laotse (6. Jahrhundert v. Chr.)
Chinesischer Philosoph
I.Reduziere deine Möglichkeiten – entscheide dich!
Nichts ist unmöglich. Also alles erreichbar. Überfluss und scheinbar endlose Wahlmöglichkeiten im Reich der Freiheit. Alles hier und alles jetzt – Wunscherfüllung auf Bestellung. Und dennoch – wir kriegen nie genug. Da stimmt doch was nicht.
Die Multioptionsgesellschaft (alles steht zur Verfügung) macht uns leider nicht glücklicher. Ganz im Gegenteil. Wenn wir alle Möglichkeiten haben, wächst in vielen von uns die Angst, nicht alle ausschöpfen zu können, ja die wesentlichen Angebote des Lebens zu verpassen.
»Das kann doch nicht alles gewesen sein!« ist ein Auslöser für Lebensumbrüche. Sie können auf direktem Wege in die psychologische Zwickmühle der Nichtentscheidung oder geradewegs ins Scheitern führen. So wird aus den viel zitierten Glücksformeln oft eine »Anleitung zum Unglücklichsein«.
Der Philosoph Richard David Precht1 beschreibt die Erhöhung der Wahlmöglichkeiten als eine der vielen Ursachen für menschliche Unzufriedenheit. Schon die Rolling Stones wussten: You can’t always get what you want.2 Heiko Ernst, Psychologe, sieht »so vieles, was zu wollen sich lohnen würde. Wir wollen abnehmen, gesund bleiben, uns verwirklichen, etwas dazulernen, auf hundert Arten glücklich sein: ein Überfluss an Zielen«, die wir sinnvollerweise reduzieren sollten.3
Die Vielfalt überfordert uns. »Auf der Suche nach der Erfüllung ihrer Sehnsüchte verirren sich immer mehr Menschen«, sagt der Hirnforscher Gerald Hüther. »Sie haben kein Zeitproblem, sondern ein Gewichtungsproblem.«4 Sie wissen nicht mehr, was bedeutsam ist.
Wer aber sicher ist, was in seinem Leben zählt, was Sinn und Wert besitzt, der braucht nicht ständig nach Neuem zu gieren.
Wenn die Wahlmöglichkeiten kleiner werden, wird auch die Überforderung kleiner. Reduziere also deine Möglichkeiten – und scheide Wesentliches von Unwesentlichem. So gewinnst du mehr Freiheit und Energie!5
1. Nimm Überflüssiges weg!
Perfektion ist nicht dann erreicht, wenn man
nichts mehr hinzufügen, sondern wenn man nichts
mehr weglassen kann.
Antoine de Saint-Exupéry (1900-1944)
Französischer Schriftsteller
Wenn wir Menschen zu unserer Essenz kommen wollen, zur wahren Tiefe unserer Talente und zur Größe unserer Fähigkeiten, müssen wir nichts mehr hinzufügen. Ganz im Gegenteil: Wir müssen etwas wegnehmen! Wir müssen etwas verlieren, um etwas zu gewinnen.
1.1 Lehrbeispiel 1: Michelangelo und der Diamant
Ein Meister des Wegnehmens war der weltberühmte Künstler Michelangelo Buonarroti. Sein biblischer David, zwischen 1501 und 1504 in Florenz entstanden, gilt als die bekannteste Skulptur der Kunstgeschichte. Michelangelo, dem großen Genie, stand ein riesiger Marmorblock aus Carrara zur Verfügung, den zwei andere Bildhauer in grob behauenem Zustand hinterlassen hatten.
Es ist überliefert, dass der Künstler nach der Vollendung seines Werkes Folgendes gesagt haben soll: Schon von Anfang an sah ich im Marmorblock den David in seiner ganzen Größe und Gestalt. Ich brauchte also nichts hinzuzufügen. Ich musste nur wegnehmen, was nicht David war.
Neben diesem markanten Steinbild hat sich uns als zweiter Archetypus ein biblisches Bild aus der lebendigen Gartenwelt eingeprägt6: das Gleichnis vom Rebstock.7 Selbst das organische Wachstum braucht, um reichlich Frucht zu tragen, das Beschneiden der Bäume und der Reben.
Wenn ich Liebe und Achtsamkeit konzentriere,
gewinne ich Energie.
Aus der Meditation
Zu unserer wahren Größe können wir nur finden, wenn wir von innen strahlen. Auch der innere Diamant, unser Herz, unsere Seele, strahlt, wenn wir ihn nicht zuschütten, sondern unseren Kern freilegen, wenn wir weglassen, was wir nicht sind.
Es geht jetzt darum, das Leben zu feilen. Das heißt, stimmig zu sein mit den Dingen, die uns umgeben – auch mit den Menschen.
Wenn wir unsere Möglichkeiten reduzieren, erweitern wir gleichzeitig unsere Fähigkeit, uns auf das Wesentliche unseres Lebensweges zu konzentrieren.
Wir sollen nimmer ruhen, die zu werden,
die wir in Gott von Anbeginn gewesen sind.
Meister Eckhart (1260-1328)
Theologe, Philosoph und Mystiker
Das alles braucht einen längeren Atem, braucht Geduld, die wir in dieser hektischen Zeit oft nicht haben (wollen). Auf geistig-seelischer Ebene bedeutet Reifung aber: Auch die Qualität unseres Herzens, unser inneres Feuer, braucht eine Zeit der Entwicklung, bis die Essenz, unsere eigene Identität8, wieder spürbar wird. Identität heißt schließlich: Einssein mit sich selbst. Diese Reifung ist für jeden von uns nur möglich durch Hingabe und Konzentration auf das, was jedem eigen ist, was jeder in unverwechselbarer Weise leben und geben kann. Das erfordert Herzentscheidungen.
Von Herzen kannst du dich sinnvollerweise nur für das entscheiden, was du als Gabe mit auf den Weg bekommen hast. An einem Apfelbaum kann keine Zitrone wachsen. Es geht also nur mit deiner eigenen Person, nicht gegen sie.
Du kannst es aber auch nicht alleine. Auch du hast – wie jeder von uns – »blinde Flecken«, kannst dich selbst also in deiner wahren Identität nicht vollends beleuchten. Deshalb sollten wir – im besten Sinne des Wortes – Diamantenschleifer füreinander sein. Helfen wir uns gegenseitig, an der richtigen Stelle, mit nie nachlassendem Mut und mit Herzensgüte, unsere Talente auszuformen und zum Kern unseres Seins zu gelangen. Aber merken wir uns auch: Aus einer Orange kann man keinen Pfirsichsaft pressen.
1.2 Wie reduziere ich meine Möglichkeiten?
Indem du einen Entschluss fasst. Er heißt: loslassen!
Wer reifen will, darf nicht festhalten.
Willigis Jäger
Benediktiner und Zen-Meister
Denn wer loslässt, hat die Hände frei.
Aber loslassen heißt entscheiden!
Wie kannst du das trainieren?
In kleinen Schritten, mit kleinen Übungen in deinem Alltag.
• Wenn du dir drei Kleidungsstücke ausgesucht hast und ein Teil zurückhängst, lässt du deine Maßlosigkeit los.
• Wenn du deine Wohnung entrümpelst, dich von überflüssigen Sachen trennst, lässt du deinen Müll los.
• Wenn du abspeckst, lässt du Schwere los.
• Wenn du dich in Toleranz übst, lässt du deine Selbstherrlichkeit los.
• Wenn du »nein« sagst, lässt du dein Bedürfnis, gebraucht zu werden, los.
• Wenn du den Augenblick genießen lernst, lässt du die Kompliziertheit deines Lebens los.
• Wenn du dir sagst, dass du wertvoll bist – und daran glaubst, es verinnerlichst –, lässt du deine Komplexe los.
• Wenn du den Menschen mit einem Lächeln begegnest, lässt du deine Ängste los.
Konzentriere dich: Was ist wesentlich?
Was kannst, was musst du loslassen?
Befreie dich vom Zwang, vom Rausch, von der Sammelleidenschaft, von dem, was du nicht wirklich brauchst, von deinem Perfektionismus, deiner Selbstüberschätzung, deiner Selbsterniedrigung. Auch von deiner Opferhaltung, deiner Unehrlichkeit, deinem unreifen Harmoniebedürfnis.
Lass die Schuldgefühle los, sie sind immer rückwärtsgerichtet. Du glaubst, etwas getan zu haben, was du nicht hättest tun dürfen. Oder du glaubst, etwas unterlassen zu haben, was du unbedingt hättest tun müssen.
Lass deine Sorgen los. Sie vernebeln die Zukunft. Außerdem weißt du nicht, ob sich die Dinge so entwickeln, wie du befürchtest. Du lebst nur im Hier und Jetzt. Deshalb sind Schuldgefühle und Sorgen die überflüssigsten Gefühle, die es gibt.9
Also, entscheide dich, lass los!
Lebe nur für den Augenblick.
Die Zukunft wird sich von selbst ergeben.
Nichts existiert außer dem Augenblick.
Weisheit der Shaolin
Wenn du loslässt, lebst du im Hier und Jetzt. Denn jetzt, diese Sekunde oder Hundertstelsekunde, ist die einzige Zeitspanne, die du hast. Das Vorhin ist vorbei, unwiederholbar. Das Nachher, die Zukunft, ist bestenfalls ein Versprechen. Jetzt – nichts anderes zählt für dein Leben. Wenn du im Jetzt lebst, lebst du offen und bewusst. Mit all deinen Sinnen.
Wer mit seinen Sinnen lebt, wird sich seines Selbst bewusst. Wird selbstbewusst.
Du brauchst nur eins zu tun: dich zu öffnen (indem du loslässt) und zu vertrauen (auf dein Herz).
»Das ist leicht gesagt. Ich habe es immer wieder versucht. Aber es gelingt mir nicht. Ich weiß nicht, woran das liegt«, höre ich in Gesprächen sehr oft.
Eine Erklärung dafür ist, dass der Prozess des Loslassens zahlreiche Unwägbarkeiten enthält. Sicherheit und unser machtvoller Wunsch nach Bindung sind aber biologisch verankerte Grundbedürfnisse, während Unsicherheit bei den meisten Menschen Unbehagen oder Angst auslöst.
Im Vertrauen gesagt: Alles, was du brauchst, hast du in dir. Dein Herz allein ist der Kompass für deine Konzentration auf das Wesentliche. Und für die Verbindung zum Licht.
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Ich spreche in diesem Buch an verschiedenen Stellen von Licht, von Gott oder von einer göttlichen Energie.
Solltest du mit diesen...