II. Sozialistischer Revolutionär 1909–1914
Schon die politische Formationsphase Mussolinis verlief ungewöhnlich turbulent. Nach seinen am Ende gescheiterten Versuchen, sich als Lehrer eine bürgerliche Existenz zu schaffen, verbrachte Mussolini die Zeit von 1902 bis 1904 mit Unterbrechungen in der Schweiz und 1909 größtenteils im damals österreichischen Trient. Im Ausland mußte er sich meist als Gelegenheitsarbeiter durchschlagen, betätigte sich jedoch auch schon als politischer Journalist und sozialistischer Agitator, wodurch er häufig mit der Polizei und mehrfach sogar mit dem Gefängnis Bekanntschaft machte. Aus Trient, wo er unter dem Titel «L’avvenire del Lavoratore» ein «auf Krawall programmiertes Kampfblatt» (Hans Woller) herausgab, wurde er von der österreichischen Polizei nach wenigen Monaten nach Italien ausgewiesen. Auch wenn er es nicht unbedingt darauf angelegt hatte, waren dies seine politischen Lehrjahre. Erst nach seiner endgültigen Rückkehr nach Italien im Jahre 1909 machte er jedoch die Politik unwiderruflich zum Beruf.
Sein Aktionsraum war zunächst die Kleinstadt Forlì, in der er sich rasch als Agitator für die Sozialistische Partei mit einer radikalen Rhetorik sowie gewalttätigen Aktionen einen zweifelhaften Namen machte und erneut mehrfach im Gefängnis landete. Schon 1910 wurde er zum Sekretär der örtlichen Sektion des Partito Socialista Italiano gewählt. Im Auftrag der Partei gab er von 1910 bis 1914 ein Wochenblättchen von vier Seiten mit dem Titel «La Lotta di classe» heraus. Wie der Titel der Zeitung erkennen läßt, hielt sich Mussolini zu diesem Zeitpunkt für einen Marxisten. Bei genauem Hinsehen beschränkte sich seine marxistische Ideologie jedoch auf einen diffusen Glauben an die ‹Revolution›. Mit Marxens dialektischem Materialismus hatte das wenig zu tun, Mussolini bediente sich eklektisch marxistischer Ideen, ohne sich um deren Systematik zu kümmern. Ausdrücklich setzte er sich von der marxistischen Orthodoxie ab: «Wir sind weder Theologen, noch Priester noch Gläubige des marxistischen Wortes.» Auch wenn er seine Theorien allenfalls oberflächlich adaptierte, war es ihm jedoch wichtig, sich verbal auf Marx zu berufen. Das gab seinem revolutionären Radikalismus dem äußeren Anschein nach eine ideologische Legitimation, ohne die er bei seinem Aufstieg in der Sozialistischen Partei nicht ausgekommen wäre.
Das provinzielle Milieu in Forlì wurde Mussolini rasch zu eng, er strebte nach größerem politischen Einfluß, weiterer öffentlicher Resonanz. Gelegenheit dazu bot ihm im Juli 1912 der nationale Kongreß des PSI in Reggio Emilia, der während des Libyenkrieges stattfand, den der liberale Ministerpräsident Giovanni Giolitti unter dem Druck der nationalistischen Kräfte des Landes gegen das Osmanische Reich entfesselt hatte. Der achtundzwanzigjährige Provinzler Mussolini versetzte hier mit einer flammenden Rede die reformistische Führung der Sozialistischen Partei um Ivanoe Bonomi und Leonida Bissolati völlig überraschend in eine Minderheit, indem er den ‹Klassenkampf› zu verschärfen und den Krieg als Vorspiel zur ‹Revolution› zu nutzen verlangte, anstatt die koloniale Kriegspolitik Giolittis in Libyen passiv hinzunehmen.
Im November 1912 übertrug die reformistische Parteiführung, um ihn politisch einzubinden, die Chefredaktion der sozialistischen Parteizeitung «Avanti» an Mussolini. Sie verschaffte ihm damit ungewollt die publizistische Basis für seinen Aufstieg an die Spitze der Partei. Auf dem Parteikongreß von Ancona erhielten die revolutionären Sozialisten im PSI im April 1914 die Mehrheit gegenüber den sozialistischen Reformisten. Mussolini überspielte in der neuen Parteiführung rasch den nominellen Politischen Sekretär Costantino Lazzari und riß damit die Führung des PSI an sich. Der von ihm gesteuerte ‹revolutionäre› Kurs geriet jedoch in dem Augenblick in die Krise, in dem er sich praktisch bewähren sollte. Das war der Fall, als sich am 1. August 1914 der österreichisch-serbische Konflikt infolge der Ermordung des Thronfolgers Ferdinand zum Weltkrieg ausweitete.
Italien hielt sich als einziger der großen Staaten Europas zunächst aus dem Weltkrieg heraus. Die ‹Neutralisten› gerieten jedoch in einer erbitterten Auseinandersetzung mit den für einen italienischen Kriegseintritt eintretenden ‹Interventisten› allmählich in die Minderheit, so daß das Land im Mai 1915 an der Seite der Ententemächte in den Krieg eintrat. Die Sozialistische Partei gehörte ziemlich geschlossen zum neutralistischen Lager und stilisierte den Krieg zu einer allein ‹bürgerlichen› Auseinandersetzung. Mussolini befand sich somit in Übereinstimmung mit seiner Partei, wenn er entschieden für den von der liberalen Regierung eingeschlagenen Neutralitätskurs Italiens eintrat. Er erhoffte sich jedoch von der von ihm als unausweichlich angesehenen militärischen Zuspitzung des Krieges eine Solidarisierung der Unterdrückten aller Länder. Als diese nicht eintrat, die Arbeiter sich vielmehr außer in Italien fast überall in die nationale Einheitsfront der kriegführenden Länder einordneten, war er mit seiner radikalen Revolutionspropaganda am Ende.
Es ist in der historischen Forschung umstritten, seit wann er daraus die Konsequenzen zog und auf die Seite der italienischen Kriegsbefürworter wechselte. Sicher ist jedoch, daß es eine abrupte, wenn auch für die Zeitgenossen nicht völlig überraschende Wende war. Hatte Mussolini seit Kriegsbeginn im «Avanti» loyal die sozialistische Parteilinie absoluter Neutralität vertreten, so überraschte er am 18. Oktober 1914 mit einem Artikel, der «Von der absoluten zur aktiven und wirksamen Neutralität» (dalla neutralità assoluta alla neutralità attiva ed operante) überschrieben war. Nur scheinbar noch am Neutralitätskurs des PSI festhaltend, behauptete er, daß dieser niemals absolut gewesen sei, sondern immer nur bedingt. In einer Situation, in der sich, wie er meinte, in der Marneschlacht die Niederlage Deutschlands abzeichnete, dürfe der PSI deshalb im Interesse der ‹Revolution› nicht mehr als Zuschauer beiseite stehen, wenn die Partei nicht in die Isolierung geraten wolle. Er definierte nicht, was er mit einer «aktiven und wirksamen Neutralität» meinte, es war jedoch offensichtlich, daß er sich in Richtung eines Interventismus bewegte, wie er auf der politischen Rechten Italiens vertreten wurde. Schon einen Tag später mußte er sich vor dem Parteivorstand für seinen aufsehenerregenden Artikel rechtfertigen. Als sich hier seine fast einhellige Verurteilung abzeichnete, trat er am 22.10.1914 von der Chefredaktion des «Avanti» zurück. Mit einem Schlag geriet er damit in eine Isolierung, die das Ende seiner politischen Karriere zu bedeuten schien. Erstmals zeigte sich jedoch, daß er es in scheinbar hoffnungslosen Situationen verstand, neue politische Freunde zu finden und aus einer vorübergehenden Isolation herauszukommen.
Nur einen Monat später tauchte Mussolini schon wieder auf der politischen Bühne Italiens auf. Am 15.11.1914 erschien die erste Nummer des «Popolo d’Italia», der Zeitung, die bis zu seinem Sturz am 25.7.1943 sein politisches Sprachrohr bleiben sollte. Wie er in kürzester Zeit das Kapital für diese Zeitungsgründung zusammenbringen konnte, ist auch von seinem Biographen Renzo De Felice nicht bis zum letzten geklärt worden. Die entscheidende Rolle spielte dabei aber nachweislich der entschieden interventistisch eingestellte Herausgeber der Bologneser Zeitung «I1 Resto del Carlino», Filippo Naldi, dem das außerordentliche journalistische Talent Mussolinis aufgefallen war. Ihm gelang es, eine Reihe von am Krieg interessierten Schwerindustriellen für die Finanzierung des «Popolo d’Italia» zu gewinnen. Diese Grundfinanzierung war auf jeden Fall wichtiger, als es die schon von den Zeitgenossen vermuteten Finanzspritzen waren, die Mussolini aus dem westlichen Ausland über die französische Botschaft in Rom erreichten.
Obwohl Mussolini behauptete, mit seinem Kampfblatt weiterhin auf sozialistischer Linie zu liegen, wurde er nach dem Erscheinen des «Popolo d’Italia» binnen kurzem aus dem PSI ausgeschlossen. Er bewegte sich seitdem zügig nach rechts und stimmte bald nicht nur mit dem von dem rechtsliberalen Ministerpräsidenten Antonio Salandra für Italien eingeforderten «sacro egoismo», sondern auch mit radikalen nationalistisehen Wortführern wie Enrico Corradini und Gabriele D’Annunzio überein, die sich vom Kriegseintritt Italiens nicht nur gewaltigen territorialen Zugewinn, sondern auch die Ablösung des liberalen Staates durch eine nationale Diktatur erhofften. Seit Anfang 1915 trat der frühere Neutralist Mussolini im «Popolo d’Italia» geradezu frenetisch für einen italienischen Kriegseintritt ein, wobei er tatsächlich die Illusion hatte, daß durch das italienische Eingreifen ein rascher Sieg über die Mittelmächte bewirkt werden könne. Als der Krieg statt dessen im Karst der Dolomiten in einem grauenvollen Stellungskrieg erstarrte, vergaß er seine...