1. Streifzug: Arrest-Anstalt, Akazien und Abgeordnete
Irgendwo muss ich mit den Berliner Streifzügen beginnen, warum also nicht am Hauptbahnhof. Für viele ist das zudem der erste Ort, an dem sie mit der Stadt in Berührung kommen. Abseits der Pfade liegt der Bahnhof ebenfalls; das behaupteten zumindest kritische Stimmen bei seiner vier Jahre verspäteten Inbetriebnahme am 26. Mai 2006. Übrigens wurde auch schon der an selber Stelle befindliche Vorgängerbau, der Lehrter Bahnhof, bei seiner Eröffnung 1871 trotz des prächtigen Empfangsgebäudes mit Hohn und Spott bedacht: „So weit das Auge reicht, nirgends ein Gebäude, dessen Insassen diese Haltestelle benutzen könnten!“ Dies war eine Anspielung auf das nahegelegene, etwa zwanzig Jahre zuvor fertiggestellte Preußische Mustergefängnis Moabit. Andere bewohnte Gebäude gab es in der näheren Umgebung keine, woran sich bis heute nicht allzu viel geändert hat. Allerdings hat Berlin mit dem Umfeld große Pläne und die Gegend wandelt sich massiv. So sind auf der Südseite des ursprünglich freistehenden und dadurch wuchtig wirkenden Bahnhofs drei Hotels entstanden, die den Bau jetzt zum Teil verdecken, weitere ebenso uninspiriert wirkende Bürogebäude runden das Bild ab. In nördlicher Richtung entsteht mit der Europacity ein ganzes neues Stadtviertel.
Die anfangs spärliche Anbindung durch öffentliche Verkehrsmittel hat sich im Lauf der letzten zehn Jahre verbessert, neben der in Ost-West-Richtung verkehrenden S-Bahn und mehreren Buslinien gibt es inzwischen Straßenbahnanschluss Richtung Mitte, Prenzlauer Berg und Friedrichshain. Die dazugehörige Haltestelle mit ihrem Dach aus Betonflügeln hat gleich Eingang ins Schwarzbuch des Bundes der Steuerzahler gefunden: Das 2015 fertiggestellte, über eine Million Euro teure Bauwerk muss erst einmal saniert werden, zudem fehlen die Rolltreppen ins Tiefgeschoss, einen Aufzug zu bauen ist sogar komplett unmöglich, der müsste nämlich schräg verlaufen.
Unter der Erde wird an einer S-Bahn-Strecke in Nord-Süd-Richtung gebaut, und schon seit August 2009 in Betrieb ist die vielbelächelte U-Bahn-Linie U55, ein Rumpfstück der im Bau befindlichen Verlängerung der U5 vom Alexanderplatz zum Hauptbahnhof. Außer für Menschen, die nicht gut zu Fuß sind, hat diese Linie keinen praktischen Nutzen, denn ehe man tief in den Keller hinabsteigt (der Tunnel muss schließlich unter der Spree durch) und zehn Minuten auf den Zug wartet, ist man längst an den beiden Stationen Bundestag und Brandenburger Tor vorbei Unter den Linden gelandet und hat dabei auch noch eine Menge Sehenswürdigkeiten zu Gesicht bekommen. Aber 2020 oder 2021 oder 2022 soll der Lückenschluss zum Alex fünfzehn oder sechzehn oder siebzehn Jahre nach Baubeginn hergestellt sein. – Nachdem 2002 die Arbeiten vor allem aus finanziellen Gründen gestoppt wurden, hätte der Bund 170 Millionen Euro an Fördermitteln von Berlin zurückfordern können, die an einen Betrieb der Strecke gebunden waren. Deshalb wurde 2003 beschlossen, diese Teilstrecke zu vollenden und den Verkehr aufzunehmen.
Die nordöstliche Terrasse des Bahnhofs ziert das monströse Rolling Horse, eine Skulptur von Jürgen Goertz. Sie ähnelt übrigens seinem Werk S-Printing Horse, das in Heidelberg nahe einem Gebäude der Heidelberger Druckmaschinen AG steht, deren Vorstandsvorsitzender einst der spätere Bahnchef Hartmut Mehdornwar. Diese sicher zufällige Verkettung von Umständen sorgte für entsprechend bissige Reaktionen … Von hier aus bietet sich ein Rundblick über das Entwicklungsgebiet Europacity hinweg nach Norden, wo die Gleise der unterirdischen Nord-Süd-Strecken auf die Ringbahn einschwenken. Ganz rechts liegt der Humboldthafen, an dessen Stelle bis 1848 der Hohe Weinberg aufragte, auf dem tatsächlich Wein angebaut wurde. Vor allem aber war die seit dem 17. Jahrhundert dort betriebene Gastwirtschaft ein beliebtes Ausflugsziel vor den Toren der Stadt. Am Fuße des Weinbergs gab es ein weiteres Lokal, den Sandkrug, an den bis heute die Sandkrugbrücke erinnert, wo sich bis 1990 der Grenzübergang Invalidenstraße befand. Links davon steht der einzige noch erhaltene Fernbahnhof aus dem 19. Jahrhundert, der Hamburger Bahnhof mit seinen beiden Türmen (heute Museum für Gegenwart), und daneben das ehemalige Verwaltungsgebäude der Hamburger Bahn, in dem seit 1968 das Sozialgericht sitzt. Hier wurden seit Inkrafttreten des Konvoluts Sozialgesetzbuch Zweites Buch (besser bekannt als Hartz IV) über 200 000 Klagen gegen Entscheidungen der Jobcenter eingereicht. Aktuell erreicht die Behörde eine Klagewelle, durch die Asylsuchende Leistungen vom Staat einfordern, die ihnen gesetzlich zustehen, wie etwa eine Unterkunft.
Den Geschichtspark Ehemaliges Zellengefängnis Moabit betrete ich durch eine Art Schleuse am Haupteingang in der Invalidenstraße und lande in einer von hohen Mauern umgebenen Oase inmitten des Straßen- und Bahnverkehrs. Rechte Romantik kommt nicht auf, wenn man an die Geschichte dieses Ortes denkt: In den 1840ern wurde der Bau nach einer Gefängnisreform unter König Friedrich Wilhelm IV. als Anlage mit fünf Flügeln errichtet, die um einen zentralen Wachturm herum angeordnet waren. Es gab nur Einzelzellen, alle Gefangenen wurden in strikter Isolation gehalten, was damals ein relatives Novum war, daher die Bezeichnung Mustergefängnis. Ab 1940 wurde die Einrichtung von der Wehrmacht, nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 auch von der Gestapo genutzt, um Beteiligte und Sympathisanten unter verschärften Haftbedingungen zu internieren. Ab Oktober 1945 diente das durch Bomben und Plünderungen in Mitleidenschaft gezogene Gebäude den Alliierten als Haftanstalt, hier befand sich auch die einzige Hinrichtungsstelle in den Westsektoren. Ende der 1950er wurde der Bau abgerissen, nur die Wohnhäuser der Vollzugsbeamten und die Umfassungsmauer blieben erhalten, zudem ein Teil des Anstaltsfriedhofs. Im Herbst 2006 wurde der Park eröffnet, der durch Integration der bestehenden Baureste und dezente Installationen sowie Tafeln mit Erläuterungen zum Nachdenken anregt, aber auch zum Verweilen einlädt; geöffnet ist er täglich ab 9 Uhr.
Auch im Spreebogenpark südlich des Hauptbahnhofs (im Bild rechts hinten) lässt sich ein gewisser Wille zur Gestaltung erkennen. Als Unterstand bei Regen ist diese Installation allerdings nicht geeignet.
Durch den Ausgang im Nordwesten gelange ich in den Kiez entlang der Lehrter Straße, der seit dem 19. Jahrhundert von der Eisenbahn (Lehrter Güterbahnhof), vom Militär (Exerzierplatz, Offizierswohnhäuser und Kasernen) und von Gefängnissen geprägt wurde. Zu Zeiten der Teilung Berlins war das hier äußerste Stadtrandlage, jenseits des ehemaligen Güterbahnhofgeländes, wo die Europacity entsteht, lagen schon die Grenzbefestigungen. Der für Berlin so typische Kiezcharakter, der Gemeinschaftsgedanke lebt beispielsweise in der seit 1991 existierenden Kulturfabrik Lehrter Straße 35 in einem ursprünglich für die Firma Wertheim errichteten Fabrik- und Lagerhaus. Neben einem Café gibt es das Kino Filmrauschpalast und das Fabriktheater, das Slaughterhouse ist ein kreativer Ort für laute Musik und die Hauswerkstatt 35 Services bietet ihre Dienste im Kiez zu günstigen Preisen an. Bleibt nur zu hoffen, dass sich diese Strukturen angesichts des sich rasant entwickelnden und verdichtenden Umfelds halten können.
In der Lehrter Straße 60/61, der ehemaligen Arrest-Anstalt der Berliner Garnison, befindet sich eine Zweigstelle der Justizvollzugsanstalt Plötzensee, die bis Anfang der 1980er-Jahre als Frauengefängnis genutzt wurde. Hier gelang der RAF-Terroristin Inge Viett 1973 und 1976 gleich zwei Mal die Flucht.
Rechts von dem Komplex reihen sich in geschwungener Linie ebenerdige Gebäude und ein Zaun aneinander; an den Kassenhäuschen erkennt man noch gut den Zugang zum Poststadion. Linkerhand erreicht man in einem Bogen das Gebäude der Haupttribüne mit seiner vor wenigen Jahren sanierten Fassade aus den späten 1920ern. Auf diesem Rasen wurde Fußballgeschichte geschrieben: Hier fanden mehrfach die Endspiele um die deutsche Meisterschaft statt, und bei den Olympischen Spielen 1936 wurden hier die Vorrundenspiele ausgetragen. So konnten am 7. August 1936 55 000 Zuschauer inklusive der versammelten Staatsführung zusehen, wie der Gastgeber gegen Norwegen verlor und ausschied … Ab 1936 war das neue Olympiastadion die wichtigste Berliner Sportstätte, das Poststadion war seitdem nur noch von regionaler Bedeutung und verfiel allmählich. Heute ist es zusammen mit Fußball- und Tennisplätzen, einer Mehrzweck-, einer Kletterund einer Schwimmhalle, einer Rollschuhbahn sowie einer Minigolfanlage und einer Laufstrecke als SportPark Poststadion ein Freizeitangebot für die umliegenden Wohngebiete.
Am Ende der Tribüne führt ein schmaler Weg schräg rechts bergan, vorbei an den Außenanlagen des 2014 eröffneten Wellnesstempels Va Bali auf dem Gelände des früheren Freibads, das nach seiner...