EINLEITUNG
Warum ein Buch
über das Beten?
Vor einigen Jahren merkte ich, dass ich als langjähriger Pastor kein Buch hatte, das ich einem Christen, der sich mit dem Thema Beten befassen und sein Gebetsleben intensivieren wollte, als Einstiegslektüre in die Hand drücken konnte. Was nicht heißt, dass es keine Bücher zu diesem Thema gäbe. Es gibt sogar vorzügliche Bücher. Viele der älteren sind viel, viel tiefschürfender als alles, was ich Ihnen bieten kann. Die besten Bücher über das Gebet sind bereits geschrieben.
Doch viele dieser exzellenten Bücher sind in einer Sprache geschrieben, zu der die meisten heutigen Leser keinen Zugang mehr haben. Zudem sind sie gewöhnlich entweder theologische Abhandlungen oder Andachtsbücher oder praktische Leitfäden, doch nur wenige führen alle diese drei Aspekte zusammen.1 Eine Einführung in das Beten sollte aber alle drei behandeln. Fast alle „Gebetsklassiker“ warnen den Leser zudem ausgiebig vor damals aktuellen spirituellen Praktiken, die sie für nicht hilfreich oder gar schädlich erachten. Dergleichen Warnungen müssen für jede Lesergeneration aktualisiert und neu geschrieben werden.
Beten ist – ja, was?
In der neueren Literatur über das Beten findet man im Wesentlichen zwei „Denkschulen“. Die meisten Autoren betrachten das Gebet vor allem als Mittel, um die Liebe Gottes zu erfahren und Gemeinschaft mit ihm zu erleben und sie verheißen dem konsequenten Beter ein Leben des Friedens und der Ruhe in Gott. Viele von ihnen beschreiben ganz begeistert, wie sie immer wieder die Gegenwart Gottes spüren, die sie wie ein Mantel einhüllt. Doch es gibt auch Bücher, die das Wesen des Gebets nicht im inneren Ruhen in Gott sehen, sondern in der beharrlichen Bitte, sein Reich anbrechen zu lassen. Sie sehen im Gebet eine Art geistlichen Ringkampf, der oft oder sogar meistens ohne die konkrete Erfahrung der Nähe Gottes auskommen muss. Ein Beispiel ist Beten ohne Echo? von Austin Phelps.2 Phelps beginnt mit der Beobachtung, dass das Gefühl, dass Gott fern ist, die Norm für den betenden Christen ist und dass die meisten Menschen sich schwer damit tun, Gottes Gegenwart zu erfahren.
Den gleichen Ansatz verfolgt das Buch The Struggle of Prayer [„Der Kampf des Gebets“] von Donald G. Bloesch. Er kritisiert den von ihm so genannten „christlichen Mystizismus“3 und verneint, dass das Ziel des Betens die persönliche Gemeinschaft mit Gott sei; er findet, dass dergleichen Vorstellungen das Gebet zu einem egoistischen „Selbstzweck“ machen.4 Für Bloesch ist das höchste Ziel des Betens nicht das stille Nachsinnen, sondern das leidenschaftliche Flehen um das Kommen des Reiches Gottes in der Welt und in unserem Leben. Was das Gebet letztlich erstrebt, ist „der Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes und nicht das kontemplative Nachdenken über sein Wesen“5. Beim Beten geht es nicht in erster Linie um das Erreichen eines bestimmten inneren Zustands, sondern um die Bejahung des Willens Gottes.
Wie kommt es zu diesen beiden Sichtweisen – dem, wie wir es nennen könnten, „gemeinschaftsorientierten“ und dem „gottesreichorientierten“ Gebet? Eine Erklärung ist, dass sie beide auf das konkrete Erleben von Betern zurückgehen. Der eine Beter macht die Erfahrung, dass er sich gegenüber Gott gefühlsmäßig schwertut und dass es bereits Schwerarbeit ist, sich mehr als ein paar Minuten lang auf ihn zu konzentrieren. Der andere erlebt regelmäßig Gottes Gegenwart. Dieser Unterschied spielt sicherlich eine Rolle, aber es gibt auch theologische Unterschiede. Bloesch schreibt, dass das mystische Beten mehr mit der katholischen Sicht harmoniert, dass wir die Gnade Gottes direkt durch die Taufe und die Messe erfahren, als mit der protestantischen Position, dass wir durch den Glauben an das im Wort Gottes verheißene Evangelium erlöst werden.6
Welche Sicht vom Gebet ist die bessere? Ist das stille Anbeten oder die leidenschaftliche Bitte die ultimative Gebetsform? Diese Frage geht davon aus, dass wir hier vor einem schroffen „Entweder-oder“ stehen, was eher unwahrscheinlich ist.
Gemeinschaft und Reich Gottes
Um zu einer Antwort zu kommen, sollten wir uns als Erstes die Psalmen anschauen, das von Gottes Geist inspirierte Gebetbuch der Bibel. Hier finden wir reichlich Beispiele für beide Gebetstypen. Es gibt Psalmen (wie Psalm 27, 63, 84, 131 und das „lange Halleluja“ von Psalm 146–150), die die anbetende Gemeinschaft mit Gott thematisieren. In Psalm 27,4 nennt David als sein größtes Gebetsanliegen, „die Freundlichkeit des Herrn zu sehen“ (NGÜ). David hat auch um andere Dinge gebeten, aber nichts ist für ihn besser als das Erfahren der Gegenwart Gottes. Darum kann er sagen: „Gott … Es dürstet meine Seele nach dir … So schaue ich aus nach dir in deinem Heiligtum, wollte gerne sehen deine Macht und Herrlichkeit. Denn deine Güte ist besser als Leben …“ (Psalm 63,2-4). Und er fährt fort: „Deine Nähe sättigt den Hunger meiner Seele wie ein Festmahl …“ (Psalm 63,6 NGÜ). Wenn dies nicht Gemeinschaft mit Gott ist, was dann?
Doch es gibt noch mehr Psalmen, die Klagen und Hilferufe sind, Schreie zu Gott, er möge doch eingreifen und seine Macht erweisen. Wir erleben den einsamen Beter, der sich verzweifelt fragt, wo Gott ist, und für den das Gebet in der Tat zu einem Ringen mit Gott wird. Die Psalmen 10, 13, 39, 42, 43 und 88 sind nur ein paar Beispiele. Psalm 10 beginnt mit der Frage: „Herr, warum stehst du so ferne, verbirgst dich zur Zeit der Not?“ (Vers 1) und in Vers 12 ruft der Beter aus: „Steh auf, Herr! Gott, erhebe deine Hand! Vergiss die Elenden nicht!“. Doch dann fährt er fort (und man hat den Eindruck, dass er die Worte auch an sich selber richtet): „Du siehst es doch, denn du schaust das Elend und den Jammer; es steht in deinen Händen … du bist der Waisen Helfer“ (Vers 14). Das Gebet endet damit, dass der Psalmist sich in Gottes Weisheit ergibt, die zur rechten Zeit handeln wird, und ihn gleichzeitig anfleht, Gerechtigkeit auf Erden zu schaffen. Dies ist das Ringen des Gebets, das Gottes Reich sucht. Der Psalter kennt also beides: das gemeinschaftsorientierte und das gottesreichorientierte Gebet.
Doch wir sollten uns nicht nur die Gebete in der Bibel anschauen, sondern auch die biblische Gebetstheologie – die Gründe (in Gott und in unserer Geschöpflichkeit), die sie uns dafür nennt, dass Menschen beten können. Sie sagt uns z. B., dass Jesus Christus unser großer Mittler ist, der uns an sich völlig Unwürdigen den Weg zu Gottes Thron öffnet, sodass wir vor ihn treten und ihn um seine Hilfe bitten können (Hebräer 4,14-16; 7,25). Doch nicht nur dies, sondern Gott selber wohnt durch seinen Geist in uns (Römer 8,9-11) und hilft uns zu beten (Römer 8,26-27), sodass wir bereits auf dieser Erde im Glauben die Herrlichkeit Christi anbetend anschauen können (2. Korinther 3,17-18). Die Bibel gibt uns also eine theologische Untermauerung sowohl des gemeinschaftsorientierten als auch des reichgottesorientierten Gebets.
Mit etwas Überlegen erkennen wir, dass diese beiden Arten des Betens weder Gegensätze noch auch nur klar voneinander abgegrenzt sind. In die Gottesanbetung mischt sich immer wieder das Bitten und Flehen. Gott preisen heißt beten: „Geheiligt werde dein Name.“ Es heißt Gott bitten, der Welt seine Herrlichkeit zu zeigen, sodass alle ihn als Gott ehren. Und so wie zur Anbetung immer die Bitte gehört, so muss der Beter, der Gottes Reich sucht, auch Gott selber suchen. Der kleine Westminster Katechismus erklärt, dass der Sinn unseres Lebens darin besteht, „Gott zu verherrlichen und uns ewig an ihm zu freuen“. Dieser berühmte Satz enthält beides: das Gebet um das Reich Gottes und das Gebet als Gemeinschaft mit Gott. Diese beiden Dinge – Gott verherrlichen und sich an ihm freuen – gehen in diesem Leben nicht immer parallel, aber am Ende laufen sie auf ein und dasselbe hinaus. Wenn wir um das Kommen des Reiches Gottes bitten, uns aber nicht mit jeder Faser unseres Wesens an Gott freuen, ehren wir ihn nicht wirklich als unseren Herrn.7
Schauen wir uns schließlich viele der größten älteren Autoren zum Thema „Beten“ an – Namen wie Augustinus, Martin Luther und Johannes Calvin –, so entdecken wir, dass wir sie nicht säuberlich einem der beiden „Lager“ zuordnen können.8 Selbst der bekannte katholische Theologe Hans Urs von Balthasar bemüht sich um Ausgewogenheit in der mystischen, kontemplativen Gebetstradition. Er warnt vor spiritueller Nabelschau: „Das betrachtende Gebet … kann und sollte nicht Selbstbetrachtung sein, sondern … ein ehrfürchtiges Achten und Hören auf … das, was nicht Ich ist, nämlich das Wort Gottes.“9
Durch die Pflicht zur Freude
Was heißt das für uns? Dass wir nicht künstlich trennen sollten zwischen der Suche nach persönlicher Gemeinschaft mit Gott und dem Wunsch, sein Reich in den Herzen der Menschen und in der Welt voranzubringen. Wenn wir diese beiden Dinge zusammenhalten, dann wird unsere Gemeinschaft mit Gott mehr sein als ein bloßes mystisches Gefühl ohne Worte und unsere Bitten an ihn mehr als ein Versuch, Gott mit „leeren Worten“ herumzukriegen (Matthäus 6,7).
In diesem Buch versuche ich zu zeigen, dass Beten beides ist: Gespräch und Begegnung mit Gott. Diese beiden Begriffe geben uns eine Definition des Gebets und gleichzeitig die nötigen Werkzeuge, um unser Gebetsleben zu vertiefen. Die...