Das Paar
Das Café existiert seit 1874, also seit über 140 Jahren. Damals verwendeten die Menschen noch Öllampen zur Beleuchtung. Im Lauf der Jahre wurde einiges modernisiert, doch die heutige Einrichtung entspricht weitestgehend der damaligen. Bei der Eröffnung musste es sehr modern gewesen sein. Allgemein wurden Cafés erst 1888 in Japan bekannt, ganze vierzehn Jahre später.
Kaffee kam bereits im siebzehnten Jahrhundert während der Edo-Zeit nach Japan. Zunächst waren die Menschen nicht davon überzeugt, und man trank Kaffee – der damals vor allem schwarzes, bitteres Wasser war – nicht aus Genuss.
Nach der Einführung der Elektrizität tauschte das Café die Öllampen gegen elektrische Beleuchtung aus, doch eine Klimaanlage hätte den Charme zerstört. Bis heute hat das Café daher keine Klimatisierung.
Doch der Sommer kommt unweigerlich jedes Jahr. Wenn es untertags über dreißig Grad heiß wird, müsste ein Raum, selbst wenn er im Untergeschoss liegt, doch eigentlich vor Hitze glühen. Das Café verfügte zwar über einen Deckenventilator mit großen Flügeln (der in späteren Jahren eingebaut worden sein musste), doch dieser sorgte nicht für Erfrischung, sondern nur für ein wenig Bewegung in der Luft.
Doch seltsamerweise ist das Café selbst im Hochsommer angenehm kühl. Warum? Außer den Betreibern weiß niemand den Grund – und wird ihn auch niemand je erfahren.
Es war ein Frühsommernachmittag, der allerdings schon hochsommerlich warm war. Im Café saß eine junge Frau am Tresen und schrieb eifrig. Neben ihr stand ein Eiskaffee, in dem die Eiswürfel schmolzen. Die Frau war den Temperaturen entsprechend gekleidet und trug ein weißes T-Shirt mit Rüschen, einen grauen, engen Rock und Riemchensandalen. Sie saß mit durchgedrücktem Rücken da, und ihr Stift raste über kirschblütenfarbenes Briefpapier.
Hinter dem Tresen stand eine schlanke Frau mit blasser Haut und sah ihr mit vergnügt funkelnden Augen zu. Ihr Name war Kei Tokita, sie war die Ehefrau des Cafébesitzers und offensichtlich neugierig, was die Frau vor ihr da schrieb. Manchmal blickte Kei mit einem Ausdruck kindlicher Faszination heimlich über den Tresen.
Abgesehen von der Briefschreiberin waren die einzigen Gäste im Raum die Frau in dem weißen Kleid auf dem magischen Stuhl und der Mann namens Fusagi, der wieder an dem Tisch am Eingang saß. Auch heute lag eine aufgeschlagene Zeitschrift vor ihm.
Die Briefschreiberin holte tief Luft. Kei tat es ihr gleich.
»Entschuldigen Sie bitte, dass ich so lange hier war«, sagte die Frau und steckte den beendeten Brief in einen Umschlag.
»Nein, so lange war das doch gar nicht«, erwiderte Kei und warf einen flüchtigen Blick auf ihre Füße.
»Ob Sie den Brief an meine Schwester weitergeben könnten?«
Die Frau hielt den Umschlag mit zwei Händen und reichte ihn Kei höflich. Sie hieß Kumiko Hirai und war die jüngere Schwester von Yaeko Hirai, Stammgast im Café.
»Nun, so, wie ich Ihre Schwester kenne …« Die Frau des Cafébesitzers unterbrach sich und biss sich auf die Lippe.
Kumi neigte fragend den Kopf. Kei lächelte jedoch nur freundlich.
»Gut … ich gebe ihn ihr«, sagte sie schließlich und sah auf den Brief, den Kumi immer noch in Händen hielt.
Diese zögerte. »Ich weiß, dass sie ihn wahrscheinlich nicht lesen wird. Aber es wäre mir dennoch sehr wichtig …«, sagte sie schließlich und neigte den Kopf tief.
»Natürlich gebe ich den Brief weiter«, sagte Kei feierlich, als habe man sie mit einer überaus wichtigen Aufgabe betraut.
Sie nahm den Brief mit beiden Händen und einer höflichen Verbeugung entgegen, während Kumi sich zur Kasse drehte.
»Wie viel bin ich Ihnen schuldig?«, fragte sie und reichte Kei die Kassenzettel.
Die Frau des Cafébesitzers legte den Brief vorsichtig auf den Tresen, dann nahm sie den ersten Kassenbon und begann, die verschiedenen Posten einzutippen.
Die Kasse des Cafés war wahrscheinlich das älteste, sich noch in Gebrauch befindliche Exemplar Japans – auch wenn sie nicht von Anfang an zur Ausstattung des Cafés gehört hatte. Mit ihren Tasten, die denen einer alten Schreibmaschine ähnelten, gehörte sie in den Anfang der Showa-Zeit und datierte auf etwa 1925. Sie war massiv gebaut, um Diebstähle zu verhindern. Allein der Rahmen wog sicher vierzig Kilo. Die Tasten gaben ein lautes Geräusch von sich, wenn man sie drückte.
»Kaffee und Toast, Curry-Reis, gemischtes Parfait …«
Kling, kling, kling, kling. Kei tippte rhythmisch die Beträge der einzelnen Bestellungen ein. »Eis, Pizza-Toast …«
Kumi schien eine ganze Menge gegessen zu haben, es passten gar nicht alle Posten auf einen Beleg. Kei tippte die Beträge des zweiten Blattes ein. »Curry-Pilaf, Bananenshake, Curry-Schnitzel …« Eigentlich musste man nicht jeden Posten laut vorlesen, doch Kei machte das gern. Sie wirkte wie ein Kind, das sich glücklich mit seinem Spielzeug vergnügte.
»Dann hatten Sie die Gorgonzola-Gnocchi, die Pasta mit Huhn und Perilla-Soße …«
»Ich habe ganz schön viel gegessen, nicht wahr?«, meinte Kumi. Vielleicht war es ihr peinlich, dass das ganze Café ihre Bestellungen hörte. Bitte, Sie müssen nicht alles laut vorlesen, hätte sie vielleicht am liebsten gesagt.
»Ja, das klingt so«, ertönte da eine Stimme. Fusagi hatte offensichtlich zugehört, auch wenn er weiter seine Zeitschrift las.
Kei ignorierte ihn, doch Kumis Ohren färbten sich rosa. »Wie viel bin ich Ihnen schuldig?«, fragte sie, aber die Frau hinter der Kasse war noch nicht fertig.
»Also, mal sehen … ein gemischtes Sandwich, gegrillte Onigiri, noch einmal Curry-Reis und … äh … der Eiskaffee. Das macht zusammen 10230 Yen.«
Kei lächelte, in ihren runden, funkelnden Augen stand ausschließlich Freundlichkeit.
»Hier, bitte.« Kumi zog rasch zwei Geldscheine aus ihrem Portemonnaie und gab sie Kei, die sie professionell nachzählte.
»11000 Yen erhalten …«, sagte sie und tippte den Betrag in die Kasse ein.
Kumi wartete mit gesenktem Kopf.
Kling, klang. Die Geldschublade öffnete sich, und Kei nahm das Wechselgeld heraus. »Und 770 Yen zurück.« Sie überreichte ihrem Gast lächelnd das Geld.
Kumi bedankte sich höflich. »Danke. Es war köstlich.« Dann schien sie es eilig zu haben, vielleicht weil das ganze Café ihre lange Liste an Bestellungen gehört hatte. Doch als sie sich gerade zum Gehen wandte, rief Kei ihr etwas nach.
»Äh … einen Moment noch«, sagte sie.
»Hm?« Kumi blieb stehen und sah zur Kasse zurück.
»Wegen Ihrer Schwester … Soll ich ihr noch etwas ausrichten?« Fragend hielt Kei die Hände in die Höhe.
»Nein, schon gut. Ich habe alles in dem Brief geschrieben«, antwortete Kumi, ohne zu zögern.
»Ja, das dachte ich mir schon.« Die Frau des Cafébesitzers verzog leicht das Gesicht vor Enttäuschung.
Kumi lächelte und hielt kurz inne, vielleicht gerührt von Keis Sorge.
»Etwas könnten Sie ihr vielleicht doch sagen …«
»Ja, natürlich.« Keis Miene hellte sich sofort wieder auf.
»Sagen Sie ihr, dass Mutter und Vater nicht mehr böse sind.«
»Ihre Mutter und Ihr Vater sind nicht mehr böse«, wiederholte Kei.
»Ja. Bitte sagen Sie ihr das.«
Keis Augen funkelten lebhaft. Sie nickte zweimal. »Ja, das werde ich«, erwiderte sie fröhlich.
Kumi warf einen letzten Blick in das Café und verbeugte sich noch einmal höflich vor Kei, bevor sie ging.
Ding, dong.
Die Frau des Cafébesitzers folgte ihr bis zum Eingang, um sich zu vergewissern, dass ihr Gast auch wirklich gegangen war. Dann drehte sie sich auf dem Absatz um und sprach in Richtung Kasse. »Hattest du Streit mit deinen Eltern?«
Unter dem Tresen ertönte plötzlich eine raue, körperlose Stimme.
»Sie haben mich verstoßen«, sagte Hirai, die langsam zum Vorschein kam.
»Du hast es doch gehört, oder?«
»Was gehört?«
»Dass dein Vater und deine Mutter nicht mehr böse sind.«
»Das glaube ich erst, wenn ich es sehe …«
Nachdem sie so lange unter dem Tresen gekauert hatte, war Hirai nun gebeugt wie eine alte Frau und hinkte mühsam hervor. Wie immer trug sie Lockenwickler im Haar, dazu ein leopardengemustertes Hemdchen, einen pinkfarbenen engen Rock und Strandsandalen.
»Deine Schwester scheint sehr nett zu sein.«
Hirai zuckte leicht zusammen. »Zu allen außer mir ist sie das wahrscheinlich, ja.« Sie setzte sich auf den Platz, an dem Kumi gesessen hatte, holte eine Zigarette aus ihrer Leopardentasche und zündete sie an. Eine Rauchwolke stieg in die Luft. Hirai sah ihr nach, und auf ihrem Gesicht lag ein seltener Ausdruck von Verletzlichkeit. Sie schien mit den Gedanken sehr weit weg zu sein.
Kei ging hinter den Tresen und fragte: »Möchtest du darüber reden?«
Hirai stieß eine weitere Rauchwolke aus. »Sie hasst mich«, murmelte sie schließlich.
»Wie meinst du das?«, fragte Kei und riss die Augen auf.
»Sie wollte es nicht übernehmen.«
»Wie bitte?« Kei legte den Kopf zur Seite, unsicher, wovon ihre Freundin gerade sprach.
»Das Hotel …«
Hirais Familie betrieb ein renommiertes, hochklassiges Hotel in Sendai in der Präfektur Miyagi. Hirai hatte es nach dem Willen ihrer Eltern übernehmen sollen, doch sie hatte sich vor dreizehn Jahren mit ihnen zerstritten, weshalb die Verantwortung auf Kumi übertragen wurde. Ihre Eltern waren bei guter Gesundheit, wurden jedoch nicht jünger, und Kumi hatte bereits viele Aufgaben von ihnen...