2. KAPITEL
Rast und Unrast beruhen auf Einbildung;
In der Erleuchtung gibt es weder Billigung noch Missbilligung
Alle Dualitäten entspringen unintelligenter Einmischung.
Sie sind wie Träume oder Eisblumen:
Sie verstehen zu wollen ist töricht.
Gewinn und Verlust, richtig und falsch:
Solche Gedanken müssen auf der Stelle abgeschafft werden.
Wenn das Auge nie schläft,
hören natürlich alle Träume auf.
Wenn der Verstand keine Unterschiede macht,
haben die zahllosen Dinge so, wie sie sind,
ein und dasselbe Wesen.
Wer das Geheimnis dieses einen Wesens versteht,
wird von allen Verstrickungen befreit.
Wer erkennt, dass alle Dinge gleich sind,
hat sein zeitloses Wesen erkannt.
In diesem unverursachten, beziehungslosen Zustand
Ist es unmöglich, noch Vergleiche und Analogien anzustellen.
DAS TRÄUMEN MUSS AUFHÖREN
DER VERSTAND HAT NUR EINE FÄHIGKEIT: ER KANN TRÄUMEN. Und er träumt sogar dann weiter, wenn ihr wach seid. Das ist der Grund, warum Sosan oder Jesus abstreiten, dass ihr jemals wach seid – denn träumen kann man nur im Schlaf.
Diese zwei Dinge gilt es zunächst zu verstehen: Der Verstand ist der Ursprung allen Träumens, träumen kann man jedoch nur im Schlaf. Und wenn ihr rund um die Uhr träumt, steht eines absolut fest: dass ihr tief schlaft. Ihr könnt jederzeit für einen Moment die Augen schließen – und schon ist der Traum da – als ständige Unterströmung. Selbst wenn ihr beschäftigt und allem Anschein nach wach seid, träumt ihr tief im Untergrund immer weiter. Sobald ihr die Augen schließt, ist der Traum da. Ihr könnt tun, was ihr wollt – nichts kann ihn unterbrechen. Ob ihr die Straße entlang geht oder im Auto fahrt, in der Fabrik oder im Büro arbeitet – er geht weiter. Wenn ihr zu Bett geht, nehmt ihr ihn nur deutlicher wahr; kaum seid ihr unbeschäftigt, reißt der Verstand eure gesamte Aufmerksamkeit an sich.
Es ist wie mit den Sternen: Tagsüber sind keine Sterne am Himmel zu sehen. Sie sind da… denn wo sollen sie auch hingehen? Aber aufgrund des Sonnenlichts sind sie nicht zu sehen. Wenn man in einen jener indischen Riesenbrunnen hinabsteigt–siebzig Meter tief! –, sieht man von da unten aus die Sterne sogar tagsüber. Sie sind da, aber bei zu viel Licht sind sie nicht zu sehen. Erst bei Dunkelheit zeigen sie sich.
Mit dem Träumen verhält es sich ebenso: Die Träume sind auch am Tag da, doch um sie sehen zu können, muss es erst dunkel werden. Das ist genau wie im Kino: Bei offenen Türen ist nichts zu sehen, selbst wenn der Film läuft. Kaum sind die Türen zu, wird der Raum dunkel, und man kann alles sehen.
Träumen ist euer Dauerzustand… Und solange dieser Dauerzustand nicht unterbrochen wird, könnt ihr die Wahrheit nicht erkennen. Es geht also nicht darum, wie weit die Wahrheit entfernt ist, sondern darum, ob euer Verstand träumt oder nicht.
Das eigentliche Problem ist also nicht, wie man die Wahrheit findet; sondern dass sie mit einem träumenden Verstand gar nicht zu finden ist. Denn alles, was vor euch erscheint, ist von euren Träumen überlagert. Erst projiziert ihr eure Träume darauf, und dann interpretiert ihr es, ohne gesehen zu haben, wie es wirklich ist. Ihr habt nur das gesehen, was euch eure Träume vorgegaukelt haben – und. werdet es zwangsläufig verfälschen. Die Wahrheit ist da, denn es gibt nur die Wahrheit. Es kann keine Unwahrheit geben.
Daher noch etwas, bevor wir auf dieses Sutra eingehen: Shankara hat die Wirklichkeit in drei Kategorien unterteilt, und es lohnt sich, diese drei Kategorien zu verstehen. Die erste ist die Kategorie der Wahrheit – das, was ist. Tatsächlich ist nichts anderes möglich: Es gibt nur die Wahrheit, und es kann nur die Wahrheit geben.
Die zweite Kategorie ist alles Unwahre, was es gar nicht geben kann. Es kann unmöglich existieren, denn wie sollte das Unwahre existieren? Ohne Wahrheit keine Existenz. Somit ist das Unwahre nichtexistent, existiert nur das Wahre. Und dann nennt Shankara noch eine dritte Kategorie, nämlich das Träumen, den Schein, die Illusion, Maya – all das, was nur scheinbar, aber nicht wirklich existiert. Es gibt also drei Kategorien: die Wahrheit – das, was ist.
Wenn eure Augen klar und ungetrübt sind, wenn der Verstand nicht träumt, gibt es nur eine Kategorie – die Wahrheit. Aber wenn euer Verstand träumt, entstehen zwei weitere Kategorien. Einerseits existiert ein Traum zwar: insofern ihr ihn träumt; andererseits aber existiert er auch nicht, insofern ihm keine Wirklichkeit entspricht. Wer nachts im Traum zum König wird, wacht am Morgen wieder als derselbe alte Bettler auf. Der Traum war zwar unwahr, aber da du ihn hattest, muss etwas Wahres dran sein – sonst hättest du das nicht geträumt. Und während des Traumes hast du den Traum durchaus für wahr gehalten, denn sonst wäre er abgebrochen… noch im selben Moment.
Sobald dir bewusst wird: „Ich träume, also stimmt das ja gar nicht!“, bricht der Traum ab, bist du bereits erwacht. Ein paar Stunden lang hat der Traum zumindest existiert; er hatte eine gewisse Wahrheit, so als ob er existiere. Aber das ist nicht wahr, denn am Morgen merkst du, dass es gar nicht gestimmt hat. Es war nur ein Gedanke, eine Anwandlung, eine Luftspiegelung – schien wahr zu sein, war es aber nicht.
Wahrheit ist Sein, Unwahrheit ist Nichtsein, und zwischen diesen beiden befindet sich eine Traumwelt, die etwas von beidem hat. Und somit ist der Verstand als Quelle des Träumens selbst illusorisch; der Verstand ist die Quelle aller Maya, Einbildung. Wer glaubt: „Wenn ich der Welt entsage und mich in den Himalaja zurückziehe, werde ich zur Wahrheit gelangen!“, der irrt. Denn sein Haus ist nicht Maya – so wenig wie seine Frau und seine Kinder. Nein, sein eigener Verstand ist Maya.
Aber wie gedenkt man, seinen Verstand hierzulassen und in den Himalaja zu gehen? Man nimmt seinen Verstand mit. Könnte man ihn aufgeben, ginge das überall. Wenn es aber nicht geht, kann man ihn nirgendwo aufgeben, weder im Himalaja noch anderswo.
Man nennt seine Frau, seine Kinder, sein Haus, die ganze Welt zwar Maya, Illusion, doch das ist nur im übertragenen Sinn gemeint. Denn die Frau existiert durchaus, sie hat ihr eigenes Dasein. Auch sie ist Brahman, die Wahrheit – zwar nicht als Gattin, sondern als Seele. Euer Verstand interpretiert sie als Gattin: „Sie ist meine Gattin.“ So wird ein Traum daraus. Sie ist da – kein Zweifel! Ihr seid hier – kein Zweifel!
Aber zwischen euch entspinnt sich ein Traum. Für dich ist sie deine Ehefrau, für sie bist du ihr Ehemann. Jetzt habt ihr beide denselben Traum, und alle Träume werden irgendwann zu Albträumen. Folglich werden alle Beziehungen letztlich zu Albträumen … denn eine Illusion hält man nicht allzu lange durch. Eine Illusion ist eine Seifenblase, die früher oder später platzen, verschwinden muss. Sie währt nicht ewig, sie ist nicht von Dauer.
Du liebst eine Frau und beginnst zu träumen – aber wie lange kannst du träumen? Kaum sind die Flitterwochen vorbei, ist der Traum weg – vorher schon. Dann stehst du da! Dann tust du, als ob, denn jetzt bist du ein Sklave deiner eigenen Versprechungen.
Du wirst vorgeben, dass du sie nach wie vor liebst. Du wirst säuseln: „Du bist immer noch schön!“ Du wirst säuseln: „Niemand ist so wie du!“ Aber jetzt ist alles Heuchelei. Und wenn du etwas vorheuchelst, woran du selbst nicht mehr glaubst, und dich einfach an euren Traum klammerst, wird es zu einer Last, einem Albtraum. Von nun an ist dein Leben ein einziges Leid. Euer Leid ist nichts als die Scherben eurer Träume – Scherben von Regenbögen, Scherben von Illusionen, Prätentionen. Und ihr habt Soviel in sie investiert, dass ihr die Wirklichkeit nicht ertragen könnt – nämlich dass es von Anfang an nur Träume waren.
Statt der Wirklichkeit ins Auge zu sehen, schiebt ihr einander die Schuld in die Schuhe. Dann sagt ihr: „Meine Frau hat mich betrogen. Sie war nicht so gut, wie sie vorgab. Sie hat mich hintergangen, sie hat mir ihr wahres Wesen verheimlicht.“ Und ihr wollt nicht zugeben, dass die Sache ganz anders liegt.
Du hattest aus ihr eine Traumfrau gemacht – und deswegen konntest du die Wirklichkeit nicht erkennen. Und sie hat dasselbe mit dir gemacht.
Wenn sich also zwei Menschen verlieben, sind sie nicht zu zweit, sondern zu viert: das Liebespaar und zwischen ihnen die beiden Traumgespinste eurer Projektionen. Die sind zwar nur Träume, aber diese beiden haben euch am Bändel.
Früher oder später, sobald der Traum geplatzt ist, seid ihr wieder zwei, nicht vier. Sobald ihr...