Kapitel 2 – Bhakti Yoga
Die klassische Definition von Bhakti Yoga lautet: Vereinigung durch Hingabe. Mit Hingabe meinen wir den ununterbrochenen Fluss von Verlangen in Übereinstimmung mit einer Vision. Wir können die Vision ebenso Ideal nennen. Dieses Ideal wählt jeder von uns auf eine sehr individuelle und persönliche Weise für sich aus.
Bhakti ist der Hauptmotor für jeden spirituellen Fortschritt und für alle spirituellen Praktiken, die wir ausüben, um unseren spirituellen Fortschritt zu verbessern. Zuerst muss sich unsere Sehnsucht regen, bevor wir die Schritte einleiten können, welche die Voraussetzung für Wachstum sind. Sehnsucht ist eine Emotion, ein Bedürfnis. Wir brauchen nicht einmal zu wissen, was das genau ist, was wir nötig haben. Das Gefühl ist ausreichend, damit die Dinge geschehen – vorausgesetzt wir sind bereit zu handeln. Zuerst kommt der Wunsch, das Verlangen, dann kommt die Handlung. Und durch das Handeln erkennen wir mehr, was wir erfahren und wissen können. Das wiederum stimuliert unsere Sehnsucht.
Der gerade beschriebene einfache Prozess ist ein organischer, der den Kern einer jeden spirituellen Reise und auch jeder Religion bildet. Die Sehnsucht des Menschen nach Antworten auf die Frage: „Was ist unsere letztendliche Bestimmung und unser Schicksal?“, treibt die Mechanismen der spirituellen Erfahrung und Erkenntnis überall auf der Erde an. Und genauso treibt die Sehnsucht des Menschen nach Wahrheit die Religionen an. Diese dienen diesem großen Zweck in dem Maße, in dem sie in der Lage sind, über ihre politischen Programme und institutionellen Begrenzungen hinauszugehen. Das ist gar nicht so kompliziert.
Auch wenn man uns immer erzählt hat, dass unser Heil in den Händen dieses oder jenen Gottes oder dieser oder jener Religionsorganisation liege, liegt unser Heil in Wirklichkeit in dem Maße in unseren eigenen Händen, in dem wir selbst die Sehnsucht spüren und willig sind, danach zu handeln. Das menschliche Nervensystem – und nicht etwa eine Autorität außerhalb von uns – ist das Zentrum allen spirituellen Fortschritts. Wir wollen nicht sagen, dass wir uns der Gottheit oder dem Ideal, das wir seit unserer Kindheit kennen oder irgendetwas anderem, zu dem wir uns im Leben hingezogen fühlen, nicht hingeben sollen. Es gibt unzählige Quellen der spirituellen Inspiration und Energie in dieser Welt. Doch wir sind es, die das Ventil für diese Energie öffnen, damit diese in unser Leben fließen kann. Sind wir bereit, wird die spirituelle Energie sprudeln. Bleibt das Ventil aufgrund unseres eigenen Verlangens und unserer Handlung ununterbrochen offen, erkennen wir mit der Zeit, dass wir in einem Zustand der Gnade leben. Anhaltende Bhakti und Gnade sind die zwei Seiten ein und derselben Medaille.
Wir widmen unter Umständen alles, was wir besitzen und tun, unserem Gott oder unserem gewählten Ideal. Es ist unsere eigene Hingabe, die die Freiheit und das Glück erzeugt, das wir leben. Das ist Gnade. Das ist eine faszinierende Dynamik, die den Satz: „Je mehr wir geben, desto mehr erhalten wir.“, glaubwürdig erscheinen lässt.
Es liegt in unserer Hand, doch nur bis zu dem Maße, bis zu dem wir bereit sind. Glücklicherweise gilt hier nicht: alles oder nichts. Wir können unsere Bhakti Stück für Stück bis zu einer kraftvollen Dynamik ausweiten. Im Gegensatz zu dem, was uns vielleicht gelehrt wurde, gibt es auf dem Gebiet der Hingabe nichts Absolutes. Wir können mit den einfachsten Fragen wie: „Wer bin ich?“, und: „Was tue ich hier?“, beginnen.
Stellen wir die Fragen mit Sehnsucht, werden die Antworten anfangen sich einzustellen und wir können von dort aus weitergehen. Das ist das Wunder von Bhakti. Es ist in hohem Maße systematisch und kann mit der effektiven Nutzung eines jeden Gefühls, das wir hier und jetzt erfahren mögen, funktionieren. Die Ergebnisse von angewandtem Bhakti sind vorhersehbar und wiederholbar. Aus diesem Grund bezeichnen wir Bhakti als Wissenschaft der Hingabe.
Die Bhakti-Reise und die spirituelle Transformation des Menschen ist ein Kontinuum und kein augenblickliches Ereignis. Sie ereignet sich genau hier und genau jetzt. Unsere Erkenntnis der Wahrheit kann sich auf natürliche Weise im Rahmen des Lebens entwickeln, das wir leben. Es ist nicht nötig, dass wir fortlaufen und uns auf einem Berggipfel einrichten, oder unsere Familie oder Karriere für lange Gewänder und exotische Gurus eintauschen. Diese Fassaden sind im Vergleich zum sehnsüchtigen Herzen, das sich im gewöhnlichen Leben ausdrückt, völlig bedeutungslos. Bei der Erleuchtung geht es nicht um Orte. Wichtig sind unser Verlangen, das Ummünzen unseres Verlangens in effektive spirituelle Praktiken und, dass das natürlicherweise überfließt in unsere alltägliche Lebensführung.
Bhakti – ganz nah und persönlich
Traditionellerweise betrachtet man Bhakti als die Liebe zu Gott, und damit ist es gewöhnlich etwas, das in das Reich der Religionen gehört. Das ist gut und schön. Doch es gibt noch eine andere Seite von Bhakti, die nicht notwendigerweise religiös ist. Denn Bhakti kann man auch spirituell betrachten, ohne dass das mit irgendeiner Religion in Verbindung gebracht werden muss.
Es gibt viele Formen von Bhakti, genauso viele wie es Ishtas (gewählte Ideale) und Attribute gibt, die wir uns vorstellen können, d.h. unendlich viele! Hier wollen wir uns nicht so sehr über die bekannten traditionellen Ausdrucksformen von Bhakti auslassen. Das ist die Domäne der Religionen. Für jene, die gerne die Gottheit in ihren religiösen Traditionen anbeten, ist das ausgezeichnet. Für jene, die nicht so ausgerichtet sind, bleibt Bhakti dennoch eine Option. Yoga und spirituelle Entwicklung kann sehr gut mit den traditionellen Anbetungsformen vorankommen – oder auch ohne sie. Es funktioniert auf dem einen wie auf dem anderen Weg.
Die Form von Bhakti, die wir in diesem Buch untersuchen, ist die ganz nahe und persönliche. Das ist ein nicht-sektiererischer Ansatz, der keinerlei speziellen religiösen Glauben benötigt. Für diese Art von Bhakti brauchst du nur hingebungsvoll zu den Möglichkeiten oder Potenzialen in dir selbst zu werden.
Hier geht es bei Bhakti um dich, um dein Nervensystem, deine Wünsche, deine Übungen, deine spirituellen Erfahrungen und wie sich diese auswirken, während du hinausgehst und dich in Handlungen des täglichen Lebens engagierst. Sprechen wir hier von Bhakti im Sinne von Liebe zu Gott, meinen wir damit: Was ist unsere höchste Wahrheit? Was ist das höchste Ideal, das wir für uns erstreben?
Soweit mag das nur eine Frage sein, die wir für uns beantwortet sehen wollen, wie: „Gibt es da noch mehr als das?“
Stellen wir diese Frage mit Ernsthaftigkeit in unserem Herzen und legen wir unsere Gefühle da hinein, dann ist bei uns schon ein gepflegtes Bhakti am Werk. Wirkliches Bhakti ist ungemein persönlich. Es geht um unseren innersten Wunsch, etwas mehr in unserem Leben zu werden. Es geht um den Wunsch, die Wahrheit zu wissen und darum, wie wir unsere Gefühle nutzen können, damit wir uns dem annähern. Das kann eine reine Emotion sein – ein tiefer Hunger und ein tief empfundener Wunsch, zu wissen. Das kann sich positiv oder negativ ausdrücken und wir können beide Arten von Gefühlen nutzen, um unserer Reise Schub zu verleihen. Das ist Bhakti.
Bhakti kann des Weiteren bedeuten, dass wir sehr in der Beziehung zu Kultobjekten oder Idealen unserer Religion aufgehen. Das ist genauso Bhakti, die Art, mit der wir vielleicht seit unserer Kindheit konfrontiert waren und über die wir uns schon lange Gedanken gemacht haben. Bei denen, die hierzu neigen, kann es um formale Anbetung, Gebete, Anrufung, Chanten, Rituale und andere traditionelle hingebungsvolle Handlungen gehen.
In welcher Form sie auch immer auftritt, der Bhakti-Prozess ist derselbe: Unsere Emotionen werden bewusst und willentlich eingespannt, uns einem Ideal näherzubringen, das Energie durch unser Nervensystem bewegt, es reinigt und öffnet.
Äußert sich ein Verlangen lebhaft und wird es dann in die Stille tief in uns losgelassen, geschehen die Dinge: Antworten beginnen sich einzustellen; Übungen finden zu uns. Dann beginnen wir uns zu öffnen und wollen höher aufsteigen. Später kommen mehr Öffnungen, mehr Antworten und mehr Übungen. So in der Art. Bhakti wirkt wie Zauberei, wenn sie sich spiralförmig nach oben windet. Das korrespondiert mit der Öffnung unseres Nervensystems. Das menschliche Nervensystem ist das Tor zur Unendlichkeit.
Ist unser Nervensystem einmal gereinigt, können wir dadurch nach Außen in die Unendlichkeit sehen. Gott/Wahrheit wird sich in unserem Nervensystem als zunehmende Bhakti in unserem Herzen manifestieren. Gott, der Guru und Bhakti in unserem Inneren sind dasselbe. Es ist das Unendliche, das auf unser innerliches, durch das Tor unseres Nervensystems dringendes Rufen antwortet.
Öffnet sich unser Nervensystem und vermählen wir unsere Übungen mit unserem sich ausdehnenden Verlangen, kommt ein spirituelles Verlangen ganz natürlich auf. Das ist für jeden von uns ein persönlicher Prozess, in dem es allerdings ziemlich leicht fällt, verschiedene Stufen zu unterscheiden. Diese sind gar nicht abstrakt oder nebulös.
Ein gelenktes Verlangen ist bei allen spirituellen Übungen der wichtigste Bestandteil. Es ist Bhakti, die uns jeden Tag zu unseren Meditationssitzen zurückbringt. Dann favorisieren wir locker und leicht die Vorgehensweise unserer Übung. Tägliche Yoga-Übungen sind so entworfen, dass sie uns im Lauf der Zeit stetig mehr und mehr öffnen. Damit...