Die Legende vom Strudel in der Badewanne
Physics tempted me with its romantic „particle accelerators“ and „thermodynamics“, strange crazy words which swelled with exotic mystery and sex appeal …
(John Joseph O’Brien)
It was no secret joke that brought the smile and the sparkle in his eye, it was physics. The joy of physics! The joy was contagious. We are fortunate who caught that infection …
(Albert R. Hibbs über Richard Feynman)
Vor einigen Jahren hatte ich die Idee zu einer scheinbar einfachen Zuschauerfrage im Rahmen unserer Fernsehsendung „Kopfball“, die da lautete: „Wie herum dreht sich der abfließende Wasserwirbel in der Badewanne?“ Die Antwort war aus meiner Sicht sehr eindeutig, so dachte ich jedenfalls, und die Zuschauer hatten eine Woche Zeit, um uns die Lösung auf einer Postkarte zuzusenden.
Ranga Yogeshwar leitet die Programmgruppe. Wissenschaft-Fernsehen beim WDR. Für seine Beiträge und Sendungen, darunter Quarks&Co, Kopfball und Globus, wurde der Physiker mit zahlreichen Preisen geehrt.
Falls Sie, verehrte/r Leserin oder Leser, sich intensiver mit Physik befasst haben, dürfte Ihnen diese Frage bekannt vorkommen, und ich gehe jede Wette ein, dass vielen von Ihnen in dem Zusammenhang das Wort Coriolis-Kraft einfällt.
Da die Erde ein rotierendes Bezugssystem darstellt, wirkt die Coriolis-Kraft auch auf das abfließende Wasser der Badewanne. Auf der Nordhalbkugel – so die Theorie – dreht der Strudel entgegengesetzt zum Uhrzeigersinn, auf der Südhalbkugel strudelt die Badewanne andersherum. Schließlich sorgt eben jene Coriolis-Kraft auch dafür, dass auf der Nordhalbkugel die Winde alle Hochdruckgebiete im Uhrzeigersinn umwehen und alle Tiefdruckgebiete gegen den Uhrzeigersinn.
Die richtige Antwort unserer „Kopfballfrage“ sollte also lauten: „Der Badewannenstrudel dreht entgegen dem Uhrzeigersinn!“ Die Frage war ein Erfolg, denn die Resonanz des Publikums war groß. In den folgenden Tagen erreichten uns über tausend Einsendungen, die von Mitarbeitern der Redaktion vorsortiert wurden. Kinder, alte Menschen, Physiker und Nichtphysiker schrieben uns ihre Antworten, doch das Ergebnis war verblüffend. Bei der Hälfte der Zuschauer drehte sich der Strudel im Uhrzeigersinn, bei der anderen genau entgegengesetzt. Bei einigen schien sich der Drehsinn sogar nach Belieben umzukehren. „Bist du dir bei der Antwort sicher?“ fragte mich meine Kollegin. Natürlich war ich mir sicher, der Stoff wird in jedem Physik-Vordiplom abgefragt, und in vielen Lehrbüchern und Kursen wurde der Badewannenstrudel als Illustration der Coriolis-Kraft genannt. Ich schlug ein Physikbuch auf und zeigte ihr die entsprechende Stelle, doch sie blieb skeptisch: „Ich habe es ausprobiert– es stimmt nicht!“
Kurze Zeit später standen wir in unserer Teeküche und ließen das Waschbecken voll laufen. Während das Becken sich füllte, erzählte ich von den Hoch- und Tiefdruckgebieten und davon, dass das Phänomen nicht am Äquator auftaucht. Nein – es könne keinen Zweifel daran geben – die Antwort war eindeutig. Dann zog ich den Stopfen heraus, und gemeinsam beobachteten wir, wie sich der Strudel bildete. „Genau wie es die Theorie vorhersagt!“ Der Strudel rotierte entgegen dem Uhrzeigersinn, und in mir machte sich das Gefühl einer Sicherheit breit – auf Physik ist schließlich Verlass!
Doch kaum war das Wasser abgeflossen, füllte meine ungläubige Kollegin – sie war Nichtphysikerin – das Becken erneut und wiederholte den Versuch. Dieses Mal drehte der Strudel im Uhrzeigersinn. „Siehst du – es stimmt nicht!“ An diesem Nachmittag wiederholten wir das Experiment etliche Male, und nachdem sehr viel Wasser durch den Abfluss gegangen war, gab es keinen Zweifel mehr: Der Drehsinn des Strudels schien beliebig zu sein, und ich fühlte mich von Herrn Coriolis und der Erdrotation verraten. Erst nach einigen Telefonaten und Berechnungen wurde mir klar, dass die Coriolis-Kraft beim Badewannenstrudel so gut wie keine Rolle spielt, denn andere Störungsphänomene besitzen einen weit größeren Einfluss auf den Drehsinn!
Am darauffolgenden Sonntag leistete ich Abbitte und eröffnete dem Fernsehpublikum meine überraschende Erkenntnis: „Er dreht sich doch – aber eben nicht so, wie ich dachte!“
Diese Geschichte illustrierte mir eine Schwäche der Physik. Wie kaum eine andere Disziplin besitzt sie zwar die Gabe, aus den vielfältigsten Naturerscheinungen die tieferliegenden Gesetze herauszulesen, doch das „richtige Leben“ begnügt sich nicht mit idealisierten Annahmen und einfachen Formeln.
Die berechenbare Welt der Physik hat manchmal nichts mit der realen Welt zu tun!
Ausbruch aus dem Elfenbeinturm
Gerade im Fach Physik scheint das Verlassen heimischer Labore schwerer zu fallen als in anderen Disziplinen. Die in diesem Buch des Öfteren zitierten Absolventenstudien zeichnen ein ernüchterndes Bild: Bei der Beschäftigungssuche spielen Lehrende der Hochschule so gut wie keine Rolle, und auch die sonstigen Vermittlungshilfen seitens der Hochschule sind keine Alternative. Bei der Jobsuche ist also jeder für sich selbst verantwortlich! Im Klartext bedeutet dies: Bewerbungen auf ausgeschriebene Stellen und viel Eigeninitiative sind gefragt. Umso wichtiger ist es, genau zu wissen, was die „andere Seite“ von einem erwartet.
Oft erlebe ich Absolventen aus der Physik, die mir mit glänzenden Augen von ihrer Arbeit erzählen, aber häufig genug begegne ich auch verschlossenen Menschen, die in ihren letzten Universitätsjahren den Blick für die Realität gänzlich verloren zu haben scheinen. Da offenbaren sich hermetische „Institutskulturen“, deren Eigenleben geprägt ist von losgelösten professoralen Autoritäten und einer gefährlichen Realitätsferne. Dem „Herrn Professor“ ist wohl entgangen, dass zukünftige Arbeitgeber in der Regel nichts über die Details von Streuexperimenten an Teilchenbeschleunigern oder numerischen Lösungsansätzen multidimensionaler Feldgleichungen hören wollen … Die Studien belegen es: Die fachliche Spezialisierung steht nicht im Mittelpunkt, denn häufig werden auch Absolventen anderer Fächer für die gleiche Aufgabe eingestellt. Weit wichtiger sind Rekrutierungskriterien wie „Persönlichkeit“, Examens noten oder Fremdsprachenkenntnisse.
In dem Zusammenhang ermuntere ich jeden dazu, seine akademische Nabelschnur möglichst früh zu durchtrennen und aus dem Elfenbeinturm auszubrechen. Der zeitige Kontakt mit der „anderen Welt“ verhindert, dass man ziellos weiterstudiert. Zu viele Studenten vergeuden an der Universität kostbare Zeit in provisorischen und unterbezahlten Arbeitsverhältnissen, statt sich nach besseren Alternativen umzusehen. Das Motiv zu vieler Promotionen ist immer noch die Angst, das gewohnte Umfeld der Hochschule verlassen zu müssen.
Wo ist Einstein geblieben?
The unease set in when I went to the Welcome-to-New-Majorsin-Physics barbecue. I came hoping to meet some new people, see some new faces, get to know others who shared my enthusiasm for science. What I found were very pale thin guys wearing glasses. They lacked grace. They lacked charisma. They lacked breasts … In physics, it wasn't that there weren't attractive girls. It's that there weren't any at all …
(John Joseph O’Brien)
Jede Disziplin hat ihre Idole und Stars, und manche werden sogar zum Archetyp ihres Fachs. Mozart etwa erfüllt heute noch das Bild des genialen Komponisten, und Picasso gilt als „der Maler“. In der Physik zählt Einstein zu den zeitlosen Leitbildern. Er ist „der Physiker“, und so manche Physiker wollen so sein wie er: unkonventionell, fundamental, populär und gnadenlos genial. Ich bin mir ziemlich sicher, dass selbst Einsteins Kleiderordnung während seiner letzten Phase in Princeton einen spürbaren Einfluss auf die nachfolgende Physikerwelt hinterlassen hat. Physiker sind meist schlecht gekleidet, leicht zerzaust und dokumentieren damit, dass sie scheinbar über diesen Dingen des Alltags stehen: Die multidimensionalen Raum-Zeit-Systeme der Relativitätstheorie sind sehr weit weg von gebügelten Hemden und duftenden Shampoos. Das Genie liebt das Chaos! Und Physiker wollen genial sein!
Die Klischees der Zunft sind vielfältig und reichen von den brillanten Jungenstreichen des ewig lachenden Richard Feynman, den traurigen Augen des poetischen Atombombenbauers Robert Oppenheimer bis hin zur These, dass Physiker besonders musikalisch seien: Jawohl, es gibt sie, die Bilder von Einstein mit seiner Violine, doch zum Glück fehlen die entsprechenden Tonaufnahmen! Die Wirklichkeit präsentiert sich ganz anders: Entdeckungen sind das seltene Ergebnis einer kaum vorstellbaren Routine in trostlosen Labors mit künstlichem Neonlicht und unentwegt laufenden Kompressoren. Hinter jeder einfachen Physikformel verbergen sich Jahre der Askese und Entbehrungen, in denen das Abfahren unzähliger Messreihen an das Abbeten klösterlicher Rosenkränze erinnert. In den meisten Fällen reicht die neue Einsicht gerade mal...