1 Der Weg zur Bioenergetik
Die Bioenergetik basiert auf der Arbeit des großen, aus Österreich stammenden Psychoanalytikers Wilhelm Reich. Er war von 1940 bis 1952 mein Lehrer und von 1942 bis 1945 auch mein Analytiker. Ich lernte ihn 1940 an der New School for Social Research in New York kennen, wo er ein Seminar über Charakteranalyse hielt. Im Vorlesungsverzeichnis stand, es werde sich um die funktionelle Übereinstimmung zwischen dem Charakter eines Menschen und seiner Körperhaltung und Muskelpanzerung drehen, und diese Ankündigung hatte mich gereizt. Unter Muskelpanzerung versteht man das Gesamtbild der chronischen Muskelspannungen im Körper. Diese Spannungen werden als Panzer bezeichnet, weil sie dazu dienen, den Menschen vor schmerzlichen und bedrohlichen emotionalen Erlebnissen zu schützen. Sie schirmen ihn nicht nur vor gefährlichen Impulsen der eigenen Persönlichkeit, sondern auch vor Angriffen von außen ab.
Schon bevor ich Reich begegnete, hatte ich einige Jahre lang die Beziehung zwischen Körper und Geist studiert. Zu diesen Untersuchungen wurde ich durch eigene Erfahrungen bei körperlichen Betätigungen wie Sport und Gymnastik angeregt. In den dreißiger Jahren war ich Sportleiter in mehreren Ferienlagern gewesen und hatte festgestellt, dass regelmäßige körperliche Übungen nicht nur meinen Gesundheitszustand verbesserten, sondern auch positive Wirkungen auf meine geistige Verfassung hatten. Im Laufe meiner damaligen Arbeit beschäftigte ich mich mit der Rhythmiklehre des Schweizer Musikpädagogen Emile Jaques-Dalcroze und mit Edmund Jacobsons Konzept der «progressiven Entspannung». Diese Studien bestätigten meine Annahme, dass man geistige Haltung durch Körpertraining beeinflussen kann. Der Forschungsansatz der beiden Gelehrten befriedigte mich allerdings nicht hundertprozentig.
Wilhelm Reich dagegen fesselte mich bereits mit seinen ersten Worten. Er begann das Seminar mit einer Diskussion des Hysterieproblems. Der Psychoanalyse, erklärte er, sei es gelungen, den historischen Faktor des «hysterischen Konversionssymptoms», also der Verlegung psychischer Spannungen in körperliche Symptome, zu erhellen. Es handle sich um ein sexuelles Trauma, das die betreffende Person in ihrer frühen Kindheit durchgemacht und in späteren Jahren völlig verdrängt und vergessen habe. Die Verdrängung und die anschließende Verlegung der verdrängten Vorstellungen und Empfindungen in das eine oder andere Symptom bildeten den dynamischen Faktor der Krankheit. Obgleich Verdrängung und Konversion bzw. Verlegung damals bereits zu den anerkannten Grundbegriffen der psychoanalytischen Lehre gehörten, war der Prozess, der eine verdrängte Vorstellung in ein körperliches Symptom umwandelt, nach wie vor ungeklärt.
Was der psychoanalytischen Theorie noch fehle, meinte Reich, sei das Verständnis des Zeitfaktors. «Warum», fragte er, «entwickelte sich das Symptom ausgerechnet zu dem und dem Zeitpunkt und nicht früher oder später?» Um diese Frage beantworten zu können, musste man wissen, was der Patient in den dazwischenliegenden Jahren erlebt hatte. Wie kam er in dieser Periode mit seinen sexuellen Empfindungen zurecht? Reich glaubte, die Verdrängung des ursprünglichen Traumas werde durch die Unterdrückung der sexuellen Regungen ermöglicht. Diese Unterdrückung bilde die Wurzel des hysterischen Symptoms, das als Folge eines späteren sexuellen Erlebnisses manifest geworden sei. Reich sah in der Unterdrückung der sexuellen Empfindungen und der damit einhergehenden charakterlichen Einstellung die eigentliche Neurose; das Symptom war nur ihre sichtbare Äußerung. Die Berücksichtigung dieses Elements – Verhalten und Einstellung des Patienten gegenüber der Sexualität – führte dazu, dass man beim Neuroseproblem nun auch mit einem «ökonomischen» Faktor arbeiten musste. Die Bezeichnung «ökonomisch» bezieht sich auf die Kräfte, die einen Menschen zur Entwicklung neurotischer Symptome prädisponieren.
Reichs Scharfblick beeindruckte mich sehr. Ich hatte viele Werke von Freud gelesen und war mit dem psychoanalytischen Denken ziemlich vertraut, aber diesen «ökonomischen» Faktor hatte man meines Wissens noch nie einbezogen. Ich spürte, dass Reich mir neue Denkkategorien für menschliche Probleme zeigte, und war sofort fasziniert. Die ganze Bedeutung des neuen Ansatzes dämmerte mir indessen erst allmählich, als er seine Idee im Laufe des Seminars weiterentwickelte. Ich begriff, dass dieser Faktor ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis der Persönlichkeit war, denn er gab Aufschluss darüber, wie ein Mensch mit seiner sexuellen Energie und mit seiner Energie im Allgemeinen umgeht. Wie viel Energie hat ein Mensch, und wie viel entlädt er bei sexuellen Betätigungen? Der Energiehaushalt wie der Sexualhaushalt eines Menschen wird durch das Verhältnis zwischen Energieladung und -entladung oder zwischen sexueller Erregung und sexueller Entspannung bestimmt. Das hysterische Konversionssymptom entsteht nur, wenn dieser Haushalt, also diese «Ökonomie», aus dem Gleichgewicht kommt. Muskelpanzerung oder chronische Muskelspannungen sollen für eine ausgeglichene «Energiebilanz» sorgen, indem sie die Energie binden, die man, aus welchen Gründen auch immer, nicht entladen kann.
Mein Interesse an Reich wuchs, als er seine Gedanken und Beobachtungen ausführlicher erläuterte. Der Unterschied zwischen einem gesunden und einem neurotischen Sexualhaushalt war keine Frage der mehr oder weniger ausgeglichenen Bilanz. (Damals sprach Reich nicht von Energiehaushalt, sondern von Sexualhaushalt; die beiden Bezeichnungen hatten für ihn jedoch die gleiche Bedeutung.) Ein neurotischer Mensch wahrt das Gleichgewicht, indem er seine Energie durch Muskelspannungen bindet und seine sexuelle Erregung abwürgt. Ein gesunder Mensch würgt seine sexuellen Empfindungen nicht ab und blockiert seine Energie nicht durch Muskelpanzerung. Deshalb kann er seine gesamte Energie für sexuelle Betätigung oder irgendeine andere kreative Selbstverwirklichung einsetzen. Sein Energiehaushalt funktioniert gut. Bei den meisten Menschen funktioniert der Energiehaushalt jedoch schlecht, und das ist einer der Gründe für die Neigung zu Depressionen, die man überall in unserem Kulturkreis beobachten kann.
Obwohl Reich seine Ideen klar und logisch darlegte, blieb ich während der ersten Zeit ein bisschen skeptisch. Inzwischen habe ich erkannt, dass diese Haltung bezeichnend für mich ist. Ihr verdanke ich nicht zuletzt meine Fähigkeit, die zur Diskussion stehenden Fragen selbst zu durchdenken. Meine Skepsis wurde dadurch geweckt, dass Reich die Rolle der Sexualität beim Entstehen emotionaler Probleme für meine Begriffe überbewertete. Sexualität ist nicht die ganze Antwort, dachte ich. Dann verschwand meine Skepsis plötzlich, ohne dass ich mir dessen bewusst war. Das Seminar überzeugte mich davon, dass Reich auf dem richtigen Weg war.
Der Grund dieses Meinungsumschwungs wurde mir erst zwei Jahre später klar, nach einigen therapeutischen Sitzungen mit Reich. Mir fiel ein, dass ich eines der Bücher, die er häufiger genannt hatte, nicht zu Ende gelesen hatte; es handelte sich um Freuds Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Mitten im zweiten Aufsatz – Die infantile Sexualität – hatte ich aufgehört. Jetzt begriff ich, dass die Lektüre dieses Textes meine unbewusste Angst vor der eigenen infantilen Sexualität, ich meine, der Sexualität meiner Kindheit, wachgerufen hatte, und diese Erkenntnis beseitigte meine Zweifel an der eminenten Bedeutung der Sexualität. Das Seminar über Charakteranalyse endete im Januar 1941. Auch bis ich dann mit der Analyse bei Reich begann, war ich ständig mit ihm in Verbindung. Ich nahm an einer Reihe von Meetings in seinem Haus in Forest Hill teil, wo wir die soziale Bedeutung seiner sexual-ökonomischen Begriffe diskutierten. Außerdem entwickelten wir ein Projekt, bei dem wir im Rahmen eines öffentlichen Hilfsprogramms für psychisch Gestörte mit diesen Begriffen arbeiten wollten. In Europa hatte Reich auf jenem Gebiet bahnbrechend gewirkt.
Meine persönliche Therapie bei Reich fing im Frühling 1942 an. Im Jahr davor hatte ich sein Labor ziemlich häufig besucht. Eines Tages sagte er: «Lowen, wenn Sie sich wirklich für meine Arbeit interessieren, gibt es nur einen Weg, um richtig hineinzukommen – die Therapie.» Ich war überrascht, denn diesen Schritt hatte ich noch nie erwogen. Halb im Scherz antwortete ich ihm: «Ich interessiere mich sehr dafür, aber ich möchte vor allem berühmt werden.» Reich nahm die Bemerkung ernst, denn er erwiderte: «Ich werde Sie berühmt machen.» Und seine Worte erwiesen sich als prophetisch. Sie waren der Anstoß, den ich brauchte, um meinen inneren Widerstand zu überwinden und meine Lebensaufgabe in Angriff zu nehmen.
Meine erste Sitzung mit Reich war ein Erlebnis, das ich nie vergessen werde. Ich ging in der naiven Annahme hin, bei mir wäre alles in Ordnung. Es würde sich lediglich um eine Analyse zu Ausbildungszwecken handeln. Ich legte mich mit einer Badehose bekleidet auf das Bett. Reich benutzte keine Couch, da seine Therapie körperorientiert war. Er befahl mir, die Knie anzuziehen, mich zu entspannen und mit offenem Mund und entkrampften Kinnbacken durchzuatmen. Ich befolgte die Anweisungen und wartete ab, was passieren würde. Nach einer ganzen Weile sagte Reich: «Lowen, Sie atmen ja gar nicht.» Ich behauptete: «Selbstverständlich atme ich, sonst wäre ich doch schon tot.» Darauf er: «Ihre Brust bewegt sich aber nicht. Fühlen Sie dagegen meine Brust!» Ich legte eine Hand auf seinen Brustkorb und stellte fest, dass er sich bei jedem Atemzug merklich hob und senkte. Meiner tat...