Herausgegeben von
Andreas Michalsen und
Manfred Roth
Blutegeltherapie
Unter Mitarbeit von
M. Aurich
M. Blessmann
P. Flecken
J. Graf
U. Groß
R. Schmelzle
U. Storck
E. Wittke-Michalsen
3., unveränderte Auflage
52 Abbildungen
Karl F. Haug Verlag · Stuttgart
Geleitwort
Als ich vor nunmehr zehn Jahren zum ersten Mal in einer Klinik arbeitete, in der die Blutegeltherapie bereits seit Langem zur Behandlung der schmerzhaften Kniegelenksarthrose eingesetzt wurde, war ich skeptisch. Nachdem ich zuvor zwölf Jahre lang meine internistische Ausbildung an der Universitätsklinik in Freiburg absolviert hatte und zwei Jahre in den USA in der Grundlagenforschung gearbeitet hatte, konnte ich meinen früheren Kollegen gegenüber nicht allen Ernstes vertreten, Anhänger der Blutegeltherapie bei Kniegelenksarthrose zu sein, zumal es sich um ein Verfahren handelte, über das keine einzige Studie bei dieser Indikation vorlag.
Also versuchte ich, diese Therapieoption zunächst eher zu ignorieren. Auffallend war jedoch, dass die Patienten, bei denen die Arthrose in der Regel nur eine Nebendiagnose darstellte, regelmäßig von sich aus, ohne dass man sie danach gefragt hatte, über eine eindrucksvolle Linderung ihrer Schmerzen berichteten. Durch die Blutegeltherapie reduzierte sich die Schmerzintensität offensichtlich erheblich, oder die Schmerzen verschwanden vollständig. Die Patienten konnten danach wieder problemlos Treppen steigen, oder eine vorher starke Kniegelenksschwellung war nicht mehr nachweisbar.
Aus diesem Dilemma heraus entschied ich mich, nachdem ich selbst Leiter der Modellklinik für Naturheilkunde und Integrative Medizin an dem Akademischen Lehrkrankenhaus der Universität Duisburg-Essen, den Kliniken Essen-Mitte, geworden war, dafür, die Blutegeltherapie in unser Therapiespektrum aufzunehmen und systematisch zu untersuchen. Prof. Dr. Andreas Michalsen, ehemaliger leitender Oberarzt unserer Klinik, und Frau Ellen Wittke-Michalsen in ihrer Praxis setzten mit großer Sorgfalt, Begeisterung und wissenschaftlicher Neugier das therapeutische „Wundertierchen“ ein. Durch die Verbindung mit der langjährigen biologischen Expertise von Dr. Manfred Roth und dem therapeutischen Erfahrungsschatz von Dr. Ulrich Storck und Petra Flecken entstand ein dynamisches medizinisches Gebiet.
Die Notwendigkeit für das vorliegende Buch entstand aufgrund der auch im Rahmen der wissenschaftlichen und medialen Veröffentlichung unserer Studienergebnisse wachsend großen Nachfrage und des großen Interesses von Therapeuten und Patienten in Deutschland.
Zuvor bereits war international die Renaissance der Blutegeltherapie durch die eindrucksvollen Behandlungserfolge im Indikationsgebiet der plastischen und rekonstruktiven Chirurgie eingeleitet worden. Im Bereich der Naturheilkunde stand die Behandlung von symptomatischen Arthrosen und lokalen Schmerzsyndromen im Vordergrund. In den vergangenen Jahren wurden allein an der Essener Klinik weit über 1500 Blutegeltherapien in diesem Indikationsgebiet durchgeführt. Dabei ist es in keinem Fall zu einer schweren Komplikation gekommen. Die häufigsten Nebenwirkungen waren Juckreiz an der Bissstelle, der nach einigen Tagen wieder verschwand, oder eine verlängerte lokale Nachblutung. Wie Sie auch im vorliegenden Werk lesen werden, sind in jedem Fall die entsprechenden Kontraindikationen z. B. bei Gerinnungsstörungen oder medikamentöser Antikoagulation sowie bei immunsupprimierten Patienten zu beachten.
Insgesamt erscheint mir die Blutegeltherapie als ein gutes Beispiel für den Ansatz der sich neu entwickelnden Integrativen Medizin, die neben der konventionell bewährten Medizin auch die Naturheilkunde und Komplementärmedizin sowie die Mind-Body-Medicine mitberücksichtigt. Der Begriff Integrative Medizin versteht sich metaphorisch, wir übersetzen ihn mit „Mehrsprachigkeit“. Der integrativ arbeitende Therapeut bedient sich in sinnvollem Zusammenspiel verschiedener medizinischer Verfahren der konventionell bewährten Medizin (der Begriff „Schulmedizin“ wird bewusst nicht gewählt, da er ursprünglich diskriminierend verstanden wurde), der angewandten Naturheilkunde und der Mind-Body-Medicine. Zugleich bezieht er aktive, verhaltensbezogene Verfahren zur Krankheitsbewältigung mit ein. Vorurteilslos geht er auf die individuelle Situation des Patienten ein. Die Entscheidung für die jeweilige Therapieoption trifft er unter Berücksichtigung der entsprechenden wissenschaftlichen Evidenz des entsprechenden Therapieverfahrens (externe Evidenz) und aufgrund der eigenen Erfahrungen (interne Evidenz).
Warum Integrative Medizin?
Betrachtet man die Art der Krankheiten im europäischen Sozialraum summarisch, dann hat es in den vergangenen Jahrzehnten eine recht deutliche Verschiebung gegeben. Akute Infektionserkrankungen haben aufgrund des rasanten medizinischen Fortschritts viel von ihrem Schrecken verloren; die Zahl der durch sie ausgelösten Todesfälle nahm stetig ab.
Chronische Erkrankungen hingegen entwickeln sich zunehmend zu einer neuen Geißel der (westlichen) Menschheit. So ist die überwiegende Mehrheit der über 65-Jährigen chronisch krank, was zu einer Explosion der Gesundheitskosten führt. Allein in Deutschland müssen demnach ca. 80% aller Ausgaben im Gesundheitssystem für chronisch Erkrankte aufgewendet werden. Eine der häufigsten Erkrankungen sind Schmerzsyndrome des Bewegungsapparates und Arthrosen, die häufig zu einer deutlichen Beeinträchtigung der Lebensqualität führen. Die medizinische Behandlung ist jedoch nicht nur ein finanzielles, sondern auch ein therapeutisches Problem.
Ein Teil der dauerhaft Kranken spricht nur vermindert auf konventionelle Therapien an. In der Regel wird dann, den jeweiligen Leitlinien und Stufenplänen folgend, auf Medikamente mit anderen, potenteren Wirkmechanismen und häufig auch einem höheren Nebenwirkungsprofil umgestellt. Andererseits führt eine medikamentöse Dauertherapie nur in den seltensten Fällen zu einer kompletten Ausheilung der Krankheit. Neben erhöhten Behandlungskosten und dem Nebenwirkungspotenzial ergibt bei chronisch Kranken darüber hinaus die Polymedikation mit vielfach unklaren Interaktionen weitere Problemkonstellationen.
In nicht wenigen Fällen können durch die langjährige medikamentöse Behandlung schwerwiegende Nebenwirkungen auftreten, die wiederum eine ambulante oder stationäre Behandlung notwendig erscheinen lassen, eine Fortsetzung der medikamentösen Therapie erschweren oder letztlich sogar zum Tode führen. So versterben z. B. in den USA nach offiziellen (!) Zahlen jährlich über 100 000 Menschen an den Nebenwirkungen von Pharmaka [1] und über 16 000 Menschen davon versterben an den Nebenwirkungen von nichtsteroidalen antientzündlichen Medikamenten, die vorzugsweise zur Schmerztherapie bei Arthrose eingesetzt werden [2]. In dieser Situation sind nun die erweiterten Behandlungsmöglichkeiten von besonderer Bedeutung.
Integrative Medizin in Deutschland
Nachdem seit 1989 am Universitätsklinikum Benjamin Franklin in Berlin 14 Jahre lang der erste Lehrstuhl für Naturheilkunde mit angeschlossener Klinik bestand, an dem bereits vor Jahren die erste Doktorarbeit über Blutegeltherapie durchgeführt wurde, wurde im Jahre 2002 ein Lehrstuhl für Naturheilkunde an der Universität Rostock etabliert, der sich schwerpunktmäßig mit den Möglichkeiten naturheilkundlicher Therapien in der Rehabilitation befasst.
Im Jahre 1999 wurde die erste Klinik für Innere Medizin mit dem Schwerpunkt Integrative Medizin an den Kliniken Essen-Mitte als Modellvorhaben des Landes Nordrhein-Westfalen ins Leben gerufen. Ziel der Einrichtung, die 54 stationäre Betten, eine Tagesklinik und eine Ambulanz umfasst, ist die Erforschung, Evaluation und Anwendung naturheilkundlicher Behandlungsansätze und deren Integration in die klinische Versorgung. Seit Eröffnung der Einrichtung wurden über 10 000 Patienten stationär, teilstationär und ambulant behandelt, weit über 1500 davon unter anderem mit Blutegeln bei verschiedenen Indikationen. Im Oktober 2004 erfolgte die Einrichtung des bislang einzigen Lehrstuhls Deutschlands für Naturheilkunde mit Schwerpunkt Integrative Medizin an der Universität Duisburg-Essen. Förderung erfuhr er durch die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung. Klinik und Lehrstuhl bieten die ideale und modellhafte Möglichkeit, aktuelle wissenschaftliche Ergebnisse der naturheilkundlichen Forschung integrativ in der klinischen Versorgung umzusetzen.
Beispiel: Blutegeltherapie bei Gonarthrose
Die Blutegeltherapie zur Behandlung der schmerzhaften Kniegelenksarthrose ist ein gutes Beispiel für das Paradigma der Integrativen Medizin. Diese in unseren Breiten recht exotisch anmutende Methode ist seit der Antike bekannt. Wissenschaftliche Arbeiten konnten deren positive Wirkung bei der Kniegelenksarthrose bestätigen. Durchschnittlich drei Tage nach einer einmaligen Therapie mit vier bis sechs Blutegeln am Knie stellt sich bei 80% aller Patienten eine Schmerzreduktion um durchschnittlich 60% ein [3]. Die Wirkung ist nachhaltig mit Schmerzlinderung über mindestens drei Monate bei 70% und reduziertem Schmerzmittelbedarf noch nach zehn Monaten bei 45%. Damit übersteigt die Wirkung der Blutegel die Effektivität aller bisher bekannten schmerzlindernden Therapien der Kniegelenksarthrose bei Weitem. Darum sind häufig die Reduktion bzw. das Absetzen einer analgetisch-antiphlogistischen Therapie – und damit eine...