Obsession
Wir sind besessen von unserem Körper oder, genauer gesagt, von allem, was an ihm nicht stimmt. Wir sind besessen davon, unseren Körper zu schrumpfen, zu straffen und zu formen, schlank und fest zu werden, Fett zu verbrennen und abzunehmen, einen flachen Bauch zu bekommen, Kurven zu betonen und Unschönes zu verbergen, die Röllchen zu bekämpfen und möglichst zum Idealbild unserer selbst zu werden!
Und wofür das alles? Was versuchen wir damit zu erreichen? Es muss etwas Tolles sein, weil das alles so gar keinen Spaß macht. Fragen Sie irgendjemanden am fünften Tag seiner Kohlsuppendiät, wie viel Spaß er hat – viel Glück dabei! Natürlich sollen wir niemals zugeben, wie wenig Freude das alles macht, und belügen uns dabei sogar selbst: Ich lebe wirklich gern von Cayennepfeffer-Ahornsirup-Drinks, das ist das Beste, was ich je für mich getan habe! Die Fassade bröckelt aber, wenn wir beim Anblick der Pizza unserer Freundin in Tränen ausbrechen und überlegen, ob man Papierservietten essen kann und wie viele Kalorien sie wohl haben. Warum belügen wir uns selbst und tun uns so viel Unangenehmes, sogar Schmerzen an? Wozu?
Wir tun all das für den perfekten Körper. Manche von uns verbringen ihr gesamtes Leben mit der Jagd nach diesem makellosen Körper, der uns endlich schön macht, der uns endlich glücklich sein lässt. Diesen Körper stellen wir uns vor, während wir verzweifelt auf dem Laufband keuchen, bis die Knie aufgeben. Nur noch einen Kilometer mehr! An diesen Körper denken wir, wenn wir uns mal wieder unser Lieblingsdessert verwehren. Das landet doch direkt auf der Hüfte! Diesen Körper haben wir vor Augen, wenn wir auf die Waage steigen und die Zahlen an uns vorbeirauschen. Bitte nur noch zwei Pfund diese Woche, wir haben doch so hart dran gearbeitet! Wir hungern, schwitzen und weinen auf dieser Waage und verlieren beim Blick in den Spiegel die Nerven. Wir schwören, nächste Woche wird es besser gehen.
Wir tragen beständig das Gefühl des Nichtgenügens in uns, und das beeinflusst alles, was wir tun. Das kann ich mit meiner Figur nicht tragen! Ich bin nicht hungrig, ich habe schon gegessen, ehrlich! Schau mich doch an, die interessieren sich nicht für mich! Das mache ich, wenn ich erst mal abgenommen habe. Unser ganzes Leben wird vom Körperideal in Geiselhaft genommen und muss sich seine Freiheit erarbeiten. Nur Perfektion zählt. Und die ist immer gerade so unerreichbar. Nur noch ein Pfund, nur noch eine Problemzone (die sind wirklich überall, als ob sie jemand extra erfinden würde …). Aber wir glauben fest daran, dass wir es erreichen können. Wir glauben nach all der Zeit immer noch, dass wir uns nur ausreichend selbst hassen müssen, um uns irgendwann zu lieben. Wir merken nicht, dass wir hinters Licht geführt wurden.
Wie konnte es dazu kommen, dass wir es absolut normal finden, unseren Körper zu hassen? Alle Frauen, die ich kenne, lehnen ihren Körper ganz oder in Teilen ab. Man hat uns davon überzeugt, dass unser Lebensziel darin besteht, unseren Körper zu verändern. Das hat im vergangenen Jahrhundert zwar vor allem den Frauen gegolten, aber heute ist kein Körper mehr davor sicher. Männer hören zunehmend, dass ihr Wert in ihren Muskeln liegt und dass sie nicht genügen, wenn sie nicht mindestens wie das Covermodel eines Fitnessmagazins aussehen. Dank eines toxischen Bilds von Maskulinität dürfen sie auch nicht über Probleme mit ihrem Körperbild sprechen. Es ist ganz normal geworden, seinen Körper zu hassen.
Die meisten von uns kennen jemanden mit einer Essstörung, jemanden, der beim Schönheitschirurgen war, jemanden, der die immer gleichen 20 Pfund ab- und dann wieder zunimmt. Menschen leiden unabhängig von Größe, Alter, Geschlecht, Hautfarbe und Fähigkeit unter einem gestörten Körperbild. Wir sind zu fett, zu faltig, zu männlich, zu weiblich, zu dunkel, zu blass, zu queer, zu anders. Wir sind immer »zu« irgendwas im Vergleich zum Idealkörper, und dieser Druck wird übermächtig. Unser Selbsthass breitet sich aus wie ein Buschfeuer und setzt im Dienst der Perfektion langsam, aber sicher alles in Brand.
Das ist Ihnen sicher alles nicht neu. Sie sehen es jeden Tag in den Anzeigen für den »Neuen! Einfachen! Schnellen! 10-Pfund-in-10-Tagen-Abnehmplan«. Sie sehen es auf den Riesenplakaten, auf denen Models alles bewerben, von Burgern bis zu Parfüm. Sie hören es im unablässigen Geraune in der S-Bahn, im Büro, auf der Party, wie viele Pfund jemand diese Woche wieder abgenommen hat. Sie sehen es in den Magazinen im Wartezimmer, wo der neueste Hype über Saftdiät oder Detox durchgehechelt wird.
Es sind die hinterhältigen Komplimente, wie gut Sie doch »für Ihr Alter« aussehen, und die besorgten Fragen aus dem Familienkreis, wann Sie denn mal was wegen … na, du weißt schon … tun wollen. Es sind die Supermarktregale voller fettarmer, zuckerfreier, kalorienloser Produkte aus Luft und Wasser, die Sie ohne »schlechtes Gewissen« essen dürfen. Dann wollen Sie sich bei Ihrer Lieblingsserie im TV entspannen und dürfen eine endlose Parade dürrer, weißer, schöner, junger und fitter Körper abnehmen.
Sie merken es nicht, aber Sie lernen daraus. Sie erfahren jeden Tag auf unzähligen kleinen Wegen, dass es ein Ideal gibt, dem Sie nicht entsprechen. Wenn Sie dem Geraune entkommen und zu Hause all die Bilder, Anzeigen und Spots ausblenden und ganz allein mit sich, Ihrem Körper und Ihren Gedanken sind … wissen Sie es immer noch, denn da hängt ein Spiegel, dessen Bild gnadenlos alle Mängel zeigt, alles, woran Sie arbeiten müssen, alles, was an Ihrem Körper nicht stimmt. Sie wissen es einfach.
Wenn es Ihnen wie mir geht, wissen Sie das schon lange. Seitdem Sie alt genug waren, die Wörter, Bilder und Lektionen in sich aufzunehmen. Ich war gerade einmal fünf, als ich das erste Mal dachte, ich bin zu fett. Länger hat es bei mir nicht gedauert, bis ich wusste: Ich bin zu viel. Ich war zu fett, zu weich, zu braun, zu hässlich, mein Bauch war zu rund, und meine Haare waren nicht blond genug.
Ich fantasierte stundenlang, wie ich wohl als Erwachsene aussehen würde, im festen Glauben, dass ich eines Tages schön (also dünn) sein würde. Das war die einzige Option. Natürlich würde ich dünn werden, denn schließlich waren alle Vertreterinnen schöner Frauenkörper, die ich kannte, dünn: Barbie, Disney-Prinzessinnen, Rachel, Monica und Phoebe. In meinem fünfjährigen Kopf mussten Frauen so aussehen. Da hielt mich der Umstand, dass ich ein Kind war, nicht davon ab, mich mit ihnen zu vergleichen.
Neueren Studien zufolge haben schon Dreijährige ein gestörtes Körperbild, und Vierjährige wissen bereits, wie man abnimmt.[1] Dabei sollten die größten Sorgen in diesem Alter sein, ob man Rad schlagen oder sich das Alphabet merken kann, nicht, ob man zu fett ist oder wie viele Kalorien es braucht, seinen Körper zu verändern. Diese Obsession beginnt immer früher, und das sind die Folgen:
97 Prozent der Frauen gaben in einer Umfrage des Magazins Glamour zu, mindestens einmal pro Tag ihren Körper zu hassen, der Durchschnitt lag bei 13-mal pro Tag.[2]
In einer Umfrage des Magazins REAL mit 5000 Teilnehmerinnen gaben 91 Prozent an, unglücklich mit ihrem Körper zu sein.[3]
Das Centre for Appearance Research befragte 384 britische Männer, von denen 35 Prozent ein Jahr ihres Lebens gegen einen perfekten Körper eintauschen würden.[4]
Nach einer Umfrage des Magazins Esquire würden 54 Prozent der Frauen lieber überfahren werden, als fett zu sein.[5]
Tausende von Studien und Umfragen enthüllen die Wahrheit hinter unserem Körperbild. Wir befassen uns tagein, tagaus mit unseren Mängeln. Wir bremsen unser gesamtes Leben aus, weil wir uns unseres Körpers nicht würdig fühlen. Wir würden Lebenszeit opfern, Schmerzen, Krankheit und sogar Tod riskieren, um unsere Körper liebenswert zu machen. Und wir bringen unseren Kindern bei, genauso über sich selbst zu urteilen. An Statistiken kann man leicht heruminterpretieren, deshalb hier die hässliche Wahrheit: Wir zerstören uns selbst für einen unerreichbaren und wirklichkeitsfremden Körpertyp.
Was wir im Interesse des perfekten Körpers zu tun bereit sind, spricht für sich selbst. Wir hungern und verwehren uns wichtige Nährstoffe und Grundbedürfnisse. Wir treiben uns über die Grenzen unserer körperlichen Leistungsfähigkeit hinaus an. Wir verbringen Stunden damit, uns mit Lotionen und Salben einzureiben, die uns wahre Wunder versprechen. Wir quetschen uns in elastische Hüllen, die unsere Silhouette formen, und streben nach einer Taille, die so von der Natur nie vorgesehen war. Wir trinken Tees und schlucken Pillen, die Herzrasen machen und uns die ganze Nacht auf der Toilette festhalten.
Wir sitzen jede Woche in Selbsthilfegruppen, fantasieren über unsere Ziele und tun so, als hörten wir den knurrenden Magen der Sitznachbarin nicht. Wir leben von Luft und Säften in der Überzeugung, dass unser Körper voller Toxine steckt, die wir ausscheiden müssen. Wir bezahlen Unsummen dafür, dass jemand an unserem gesunden Körper herumschneidet, ihn tackert, umformt und wieder zusammennäht. Und es sind nicht nur einige wenige, die alles für ihren Traumkörper zu tun bereit sind, das betrifft uns alle: die alleinerziehende Mutter ein paar Häuser weiter, die ehemalige Mitschülerin, die alte Englischlehrerin, die Spitzensportlerin, die clevere Geschäftsfrau, die A‑Prominente, die Selfmade-Millionärin. Der Druck der Perfektion lässt niemanden unberührt.
Zu den körperlichen Dingen, die wir uns jeden Tag antun, kommt...