Prolog
Es war ein kühler Samstagmorgen. Ich stand in einem zugigen Auditorium und schaute einer meiner Töchter bei der Kostümprobe für die jährliche Aufführung ihres Schauspielkurses zu. Als talentierte Darstellerin war sie ursprünglich für die Hauptrolle ausgewählt worden, aber einige Wochen vor der Kostümprobe hatte man sie mit einer kleineren Rolle abgespeist. Es war mir nicht gelungen, den Grund dafür herauszufinden – und meine Tochter weigerte sich, darüber zu reden –, bis eine ihrer Freundinnen ausplauderte, es sei geschehen, als ein neuer Regisseur die Produktion übernahm. Eine andere Dreizehnjährige habe diesem damals etwas über ihre Schauspielerfahrung vorgegaukelt, um die Rolle, die eigentlich meine Tochter spielen sollte, selbst zu ergattern – und dieses andere Mädchen war ihre beste Freundin!1
Die Mutter der neuen Hauptdarstellerin war an diesem Tag ebenfalls unter den Zuschauern, und als ich sie taktvoll auf das Thema anzusprechen versuchte, fiel sie mir schulterzuckend ins Wort und meinte völlig ungerührt: »Na ja, so ist das Leben nun mal, oder nicht?«
Ich war sprachlos, musste jedoch einräumen, dass sie nicht völlig unrecht hatte. Ganz sicher ist dies das Leben, das wir Erwachsenen für uns selbst geschaffen haben. Konkurrenz bildet Kette und Schuss im sozialen Gewebe der meisten modernen Industrienationen. Sie ist der Motor unserer Gesellschaft und gilt als die Basis der Mehrzahl unserer Beziehungen – im Geschäftsleben, in der Nachbarschaft, sogar unter engen Freunden. Um jeden Preis der Erste sein zu wollen ist auf irgendeine Weise zur Selbstverständlichkeit geworden: »Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt«, »Der Stärkste überlebt«, »Der Sieger nimmt alles« … Da überrascht es kaum, dass sich extrem konkurrenzorientierte Taktiken auch in die sozialen Beziehungen unserer Kinder eingeschlichen haben und zu großen und kleinen Verstößen führen.
Ich begann über den sozialen Austausch in meiner eigenen Nachbarschaft nachzudenken und darüber, wie sehr das, was Psychologen als »Relativitätsbewusstsein« bezeichnen, in diesem Umfeld überhaupt eine Rolle spielt. »Wie viele Kinder hast du?«, »Welches Auto fährst du?«, »Wie viele Urlaubsreisen kannst du dir dieses Jahr leisten?«, »Welches College besucht dein Kind?«, »Welchen Notendurchschnitt hat es?« … Oder anders gesagt: »Wo stehst du auf der sozialen Leiter?« Sogar die Besten unter uns erleben manchmal innere Momente wie Wallstreet-Yuppie und Investmentbanker Patrick Bateman in dem Roman American Psycho, der sich überwiegend an Äußerlichkeiten orientiert und bei einem Blick auf die edle neue Visitenkarte seines Kollegen denkt: »O mein Gott, sie hat sogar ein Wasserzeichen!«
Aus einer wissenschaftlichen Perspektive erschien mir der Gedanke, dass Konkurrenz ein fundamentales menschliches Bedürfnis ist, jedoch nicht schlüssig. Ich schreibe über Pionierleistungen der Forschung, und die neuesten Erkenntnisse aus vielen Disziplinen – von den Neurowissenschaften und der Biologie bis zur Quantenphysik – sprechen dafür, dass die grundlegendste Triebkraft der Natur nicht der Wettbewerb ist, wie es die klassische Evolutionstheorie behauptet, sondern das Streben nach Ganzheit. Ich hatte viele neue Forschungsergebnisse gesichtet, aus denen hervorging, dass alle Lebewesen einschließlich der Menschen so veranlagt sind, dass die Suche nach Verbundenheit für sie in Wirklichkeit wichtiger ist als jeder andere Impuls – sogar wenn sie persönlich einen Preis dafür zahlen müssen. Gleichwohl beharrt das derzeitige Paradigma der traditionellen Wissenschaft darauf, dass unser Universum ein Ort des Mangels ist, bevölkert von getrennten Subjekten und Objekten, die in Kontraposition zueinander stehen müssen, um zu überleben. Wir alle scheinen einfach davon auszugehen, dass »das Leben nun mal so ist«.
Aber selbst wenn das unser Weltbild wäre, entspräche es beispielsweise ganz gewiss nicht der Sicht des Tieres, das uns am nächsten steht: unser Hund Ollie. In Ollies Umfeld gilt keineswegs die Devise »Hund frisst Hund«. Obwohl er für Menschen nicht viel Zeit erübrigt, ist er doch freundlich zu jedem Artgenossen, den er auf seinen Spaziergängen trifft. Und regelmäßig schiebt er für T-Bone, die Affenpinscherdame unseres Nachbarn, Knochen unter dem Zaun durch und hebt für diese seine Hundefreundin sogar die größten Exemplare auf. Ollies Beziehung zu T-Bone widerspricht jeder gängigen biologischen Beschreibung des Gebotes, egoistisch zu handeln. Da T-Bone sterilisiert ist, zieht Ollie aus seinem Verhalten keinerlei persönlichen Vorteil, denn sie bietet ihm noch nicht mal die Möglichkeit, seine Gene weiterzugeben. Aber wenn seine Freundin ihn besucht, angelt Ollie für sie Hühnchenreste aus der Mülltonne und überlässt ihr anschließend großmütig seinen eigenen Fressnapf, seine Schweineohren und sein Spielzeug. Obwohl T-Bone kleiner ist als Ollie, lässt er sie beim gemeinsamen Spiel oft »gewinnen«, nur damit sie bleibt.
Ich begann mir eine grundlegende Frage zu stellen: Muss es so sein, dass wir ständig miteinander konkurrieren? Ist es uns tatsächlich bestimmt, so miteinander umzugehen, wie wir es tun? Wie ist es dazu gekommen? Und wenn es nicht unser Schicksal ist, was ist uns stattdessen bestimmt?
Seit jener Kostümprobe denke ich, dass wir irgendwann den »Gesellschaftsvertrag« zerrissen und vergessen haben, wie man zueinanderfindet. Irgendwann und irgendwo haben wir die Erinnerung daran verloren, wie wir sein sollen.
Aber so muss es nicht bleiben. Als ich für dieses Buch zu recherchieren begann und mir die neuesten Entdeckungen aus vielen Fachgebieten ansah – allgemeine Biologie, Physik, Zoologie, Psychologie, Botanik, Anthropologie, Astronomie, Chronobiologie und Kulturgeschichte –, erkannte ich immer klarer, dass die Lebensweise, für die wir uns entschieden haben, nicht zu dem passt, was wir eigentlich sind. Ich habe entdeckt, dass viele andere Gesellschaften zum Teil völlig unterschiedlich zu uns leben und dass ihre Weltsicht eher mit den neueren Erkenntnissen der aktuellen Wissenschaft in Einklang steht. Diese Kulturen nehmen das Universum als unteilbares Ganzes wahr, und ihre Kernüberzeugung hat eine völlig andere Weltsicht und einen anderen Umgang mit der Welt zur Konsequenz als unsere. Sie glauben, dass sie zu allem, was lebt, in Beziehung stehen – sogar zur Erde selbst. Wir sehen das Objekt, das einzelne Teilchen; sie sehen den Klebstoff zwischen den Teilchen – das, was sie zusammenhält. Für diese Gesellschaften ist nicht das Individuum wesentlich, sondern die Beziehung zwischen Individuen, in der sie ein »Ding« ganz eigener Art sehen.
Sie haben verstanden, dass die grundlegende Natur der Menschheit eine Zusammenkunft ist – eine Kommunion –, und das hat in der Regel ein glücklicheres Leben, niedrigere Scheidungsraten, weniger gestörte Kinder, weniger Kriminalität und Gewalt und eine stärkere Gemeinschaft zur Folge.
Sie haben sich für eine bessere Lebensweise entschieden, eine authentischere Seinsweise – und zwar eine solche, von der ich meine, dass sie ursprünglich auch Ihnen und mir zugedacht war. Und sie leben auf diese Weise, weil sie sich an einer anderen Geschichte orientieren, an einem anderen Bild davon, wer wir sind und warum wir hier sind, einem Bild, das sich grundlegend von dem unterscheidet, das unsere Kultur und vor allem unsere konventionelle Wissenschaft vertreten.
Ich habe dieses Buch geschrieben, um zu beweisen, dass wir nach überholten Regeln leben. Ich will zeigen, dass die wissenschaftliche Geschichte darüber, wer wir sind, sich drastisch verändert hat und dass wir uns mit ihr verändern müssen, wenn wir überleben wollen. Der Wettbewerbsimpuls, der jetzt noch ein wesentlicher Teil unseres Selbstbildes ist und die Unterströmung unseres gesamten Lebens bildet, ist genau die Denkweise, welche jede einzelne der großen globalen Krisen hervorgebracht hat, die uns jetzt zu zerstören drohen. Wenn wir wieder zur Ganzheit in unseren Beziehungen zurückfinden, dann werden wir meiner Meinung nach beginnen, unsere Welt zu heilen.
Ich hoffe, dass Ihnen die Lektüre dieses Buches zu einer besseren Nachbarschaft verhelfen wird – zu sozialen Beziehungen, in denen der konkurrenzorientierte Vergleich und das Übervorteilen wie das »Stehlen« von Rollen nicht mehr zu den Spielregeln gehören.
Ich möchte ausdrücklich darauf hinweisen, dass dieses Buch keine Apologetik des Kommunismus oder des Sozialismus ist und auch kein neues ökonomisches oder politisches Modell propagiert. Ich genieße die Freiheiten der Demokratie genauso, wie Sie es wahrscheinlich tun, wenn auch nicht die jüngsten Exzesse des ökonomischen Modells, das sie hervorgebracht hat; und in den vielen Jahren, die ich nun in Großbritannien lebe, habe ich die Mängel der früheren, mehr sozialistisch ausgerichteten Politik am eigenen Leib erfahren. Die in diesem Buch vorgestellten Ideen sollen weder die Wissenschaft als Profession noch die Entdeckungen der großen Genies wie Isaac Newton oder Charles Darwin herabwürdigen. Ich gehöre ausdrücklich nicht zu den Kreationisten. Gleichwohl ist die Wissenschaft eine endlose Abfolge von Entdeckungen. Kein einzelner ihrer Protagonisten schreibt die für alle Zeiten endgültige Welterklärung. Während neue Forschungsergebnisse ans Licht kommen, verändern oder ersetzen neue Kapitel frühere Fassungen der Geschichte. Seit geraumer Zeit erleben wir eine radikale Revision unseres Selbstbildes und unseres Weltbildes. Viele Theorien, die uns heilig waren, darunter auch die ursprüngliche Evolutionstheorie, werden in...