Einführung
»It’s now or never …«
Elvis Presley
Der 7. Juli 1974 war ein strahlender Sommertag, ein Sonntag. Als junger israelischer Soldat auf Urlaub sah ich mir das Endspiel der Fußballweltmeisterschaft, Deutschland (die BRD zu damaliger Zeit) gegen die Niederlande, im Olympiastadion in München an. Johan Cruyff, das Aushängeschild der niederländischen Mannschaft, hatte gerade den Ball in seinen Besitz gebracht und dribbelte in Richtung Tor, dann beschleunigte er plötzlich sein Tempo und stürmte in den Strafraum. Noch bevor die Deutschen den Ball auch nur das erste Mal berühren konnten, wurde Cruyff gefoult und dem niederländischen Team ein Strafstoß zuerkannt.
Johan Neeskens, der den Strafstoß ausführen sollte, zielte auf die Mitte des Tors, doch Torwart Sepp Maier vollführte einen Hechtsprung, wie bei Torhütern häufig der Fall. Der Ball landete im Netz. Die Niederlande führten 1:0, und seit Spielbeginn waren erst zwei Minuten vergangen. Obwohl die Niederlande am Ende 1:2 verloren, hätte dieser Strafstoß Deutschland den Titel kosten können. Aber warum sprang Maier? Hätte er einfach stillgestanden und sich nicht vom Fleck bewegt, wäre ihm der Ball buchstäblich in die Arme gefallen!
Rückblickend geht mein Interesse an Sportpsychologie auf jenen spannenden Abend zurück. Während der folgenden zwanzig Jahre ließ mich die Torwart-Frage nicht mehr los, zumal ich ähnliche Situationen immer wieder miterlebte – es hatte den Anschein, als wären Torhüter darauf programmiert, den Ball mit einem Hechtsprung abzufangen, selbst dann, wenn es wesentlich effektiver gewesen wäre, die Stellung in der Mitte des Tors zu halten. Nach Beendigung meiner Militärzeit erhielt ich meine Promotion und wurde Universitätsprofessor, aber die Frage trieb mich nach wie vor um. Erst 1995 gelang es mir gemeinsam mit einigen Kollegen, sie aus der wissenschaftlichen Perspektive aufzurollen und die Aktivitäten eines Torwarts empirisch zu erforschen, was zu einer 2007 veröffentlichten Studie führte.
Wir werteten Videoaufnahmen von Strafstößen aus, die weltweit bei Fußballspielen (der Männer) in der ersten Liga und bei Meisterschaften gesammelt wurden. Wir stellten fest, dass sich die Torhüter fast immer nach links oder rechts bewegten, um den Ball abzuwehren, obwohl die Chancen größer gewesen wären, wenn sie ihre Position in der Mitte des Tors beibehalten hätten. Weitere Studien und Analysen dieses nicht-optimalen Verhaltens führten zu der Entdeckung, dass offenbar eine »Handlungsneigung« vorlag – der Impuls eines Menschen oder einer Gruppe, auch dann aktiv zu werden, wenn es nutzlos ist oder den eigenen Interessen zuwiderläuft. Anders ausgedrückt: Die Torhüter glaubten, während eines Strafstoßes »etwas tun« zu müssen, weil Nichtstun (zum Beispiel in der Mitte bleiben) im Falle eines Tors ein schlechteres Gefühl in ihnen ausgelöst hätte, als wenn sie aktiv geworden wären (zum Beispiel mit einem Hechtsprung); daher die Handlungsneigung.
»Interessant«, sagen Sie vielleicht. »Und was soll das?« Sie haben Recht: Ich hätte es dabei bewenden lassen und die Entdeckungen nutzen können, um Torhütern vor Augen zu führen, wie sie ihre Leistungen künftig verbessern. Aber mir fiel auf, dass die Anwendungsmöglichkeiten dieser Studie wesentlich breiter gefächert sind. Ich gelangte zu einer einfachen Maxime: Manchmal ist Nichthandeln die beste Handlungsoption. Und das gilt nicht nur in der Welt des Fußballs. Gleich ob es um Aktienverkäufe geht, wenn der Markt einen Tiefstand erreicht hat (statt den unvermeidlichen Aufschwung abzuwarten); um Vorträge, die so oft geprobt werden, bis sie einstudiert und steif klingen (statt locker und fließend); um Entscheidungen, bei denen man das Für und Wider akribisch auflistet (statt auf das eigene Bauchgefühl zu hören); oder um das Mikromanagement eines Teams oder einer Firma (statt Mitarbeitern eigenständiges Arbeiten zu ermöglichen) – wir alle verschwenden Zeit und Energie damit, »zu handeln«, obwohl es besser wäre, wenn wir uns zurücklehnen und der Natur ihren Lauf lassen würden.
Diese einzigartige, keineswegs intuitive Maxime fand großen Widerhall sowohl in der Wissenschaftsgemeinde als auch in den Medien. 2008 wurde die Studie im New York Times Magazine als eines der innovativsten, bahnbrechendsten Forschungsprojekte des Jahres bezeichnet. Mir wurde klar, dass es in einem Großteil meiner Forschungsarbeiten, die sich schon seit Jahren auf den Sport konzentriert hatten, eigentlich immer um die menschliche Leistung generell ging.
Das Leistungskonzept – die Messung und Beurteilung eines zielgerichteten Verhaltens – spielt in der westlichen Kultur der Gegenwart eine Schlüsselrolle. Jeder ist bestrebt, besser zu werden – nicht nur im beruflichen Bereich, sondern auch, was Hobbys, Beziehungen und andere Aktivitäten gleich welcher Art betrifft. Und um die eigene Leistung in gleich welcher Situation zu steigern, ist die Fokussierung und Entwicklung der psychischen Fähigkeiten unabdingbar, die den Erfolg begünstigen.
Genau wie ihre physischen Entsprechungen können auch psychische Fähigkeiten gelehrt, gelernt und durch Übung feingeschliffen werden. Wenn Sie das menschliche Verhalten sowohl von Einzelpersonen als auch von Gruppen besser verstehen, können Sie diese psychische Kompetenz stetig weiterentwickeln und nutzen, um Bewusstsein und Aufmerksamkeit zu schärfen, Talente und Fertigkeiten auszubauen und Ihren persönlichen Leistungsgipfel zu erreichen. Dabei stehen die mentale Leistungsbereitschaft und psychische Achtsamkeit im Vordergrund – sie befähigen uns, in jedem Umfeld erfolgreich zu sein.
Als einer der ersten Forscher mit Schwerpunkt auf den psychischen Einflussfaktoren, die eine prägende Auswirkung auf menschliche Spitzenleistungen im Sport haben – beispielsweise Stress, Anspannung, Motivation, Bestrebungen, Selbstvertrauen, Entscheidungsprozesse, Sozialdynamik, mentale Vorbereitung und ethisches Verhalten – habe ich festgestellt, dass diese Determinanten nicht nur für den Sport von entscheidender Bedeutung sind. Ich begann, Gemeinsamkeiten zu entdecken: zwischen dem Verhalten und der mentalen Leistungsbereitschaft von Spitzenathleten und Firmenlenkern; bei der Kreativität, die Hochsprung-Champions und die innovativsten Unternehmen gleichermaßen auszeichnet; bei der Fähigkeit, Teams zu motivieren und zu führen, gleich ob als Trainer einer Baseballmannschaft oder als CEO eines Fortune-500-Unternehmens; bei Zielsetzungen im Firmen- und im Sportsektor; beim Streben nach einem optimalen Stressniveau, um Präsentationen oder Strafstoß-Aktivitäten zu verbessern; und in vielen anderen Bereichen.
Die Denk- und Verhaltensmuster, die mit Spitzenleistungen im Sport einhergehen, führen auch bei vielen anderen menschlichen Vorhaben zu Spitzenergebnissen. Lektionen aus der Sportpsychologie lassen sich auf sämtliche Bereiche anwenden, in denen wir uns bemühen, menschliches Verhalten zu verstehen, sind aber besonders aussagekräftig in der Welt der Unternehmen, der Wirtschaft und der Finanzen.
Angesichts der aktuellen Fortschritte bei der Entschlüsselung des Verhaltens von Einzelpersonen und Gruppen sind die Lektionen für Führungskräfte in einem zunehmend vielfältigen internationalen Unternehmens- und Wirtschaftsumfeld heute wichtiger als jemals zuvor. Heute ist es für jeden, der ein Team leitet – gleich ob im mittleren Management oder auf höchster Leitungsebene – ein absolutes Muss, diese Lektionen über die Unterstützung, Anleitung und Motivation von Kollegen und Mitarbeitern umzusetzen, um ihnen zu helfen, ihre persönliche Maximalleistung zu realisieren und ein Arbeits- und Unternehmensumfeld zu schaffen, das den Erfolg nachhaltig fördert. Durch Beobachtung der ganz spezifischen psychischen Kräfte, die menschliches Verhalten antreiben, können Führungskräfte in allen Sparten lernen, ihren »Sweetspot«, sprich ihre effektive Zone zu finden, um ihre eigene Leistung und die ihres Unternehmens zu verbessern und stetig zu steigern.
Als Sportpsychologe habe ich dieses Thema nicht nur seit annähernd vier Jahrzehnten erforscht, analysiert und darüber geschrieben, sondern auch in der Praxis mit Sportlern, Trainern und Mannschaften an der Verbesserung ihrer Leistungen gearbeitet. In diesem Buch werden die Lektionen aus der Sportpsychologie auf die menschlichen Verhaltensweisen und Leistungen übertragen; sie zeigen, dass wir dieses Wissen nutzen können, um persönliche Spitzenleistungen zu erzielen und den Erfolg sowohl im Berufs- als auch im Privatleben zu fördern.
Vielleicht fragen Sie sich, warum dieses Buch erst jetzt entstanden ist, obwohl ich schon Anfang der 1970er Jahre, als ich noch Soldat war, über die psychischen Einflussfaktoren der menschlichen Leistung nachgedacht hatte. Das liegt zum Teil daran, dass sich Wissenschaftler generell einem Problem gegenübersehen: Sie haben gelernt, Ideen mit wissenschaftlicher Präzision zu formulieren und schriftlich festzuhalten. Vielleicht habe ich mich auf diesem vertrauten wissenschaftlichen Terrain einfach sicherer gefühlt … doch dann trat etwas ein,...