Wir hätten Vorreiter sein können, aber wir haben den Film nicht richtig gemacht. Heute gäbe es einen Aufschrei, und das ist richtig. Warum soll Martha sagen: ›O mein Gott, was ist mit mir, ich bin so verdorben, ich habe dich ruiniert‹? Sie würde kämpfen für die Liebe, die in ihr keimt. […] Das überstieg unsere Vorstellungskraft. Audrey und ich haben nie darüber geredet. Ist das nicht merkwürdig?
Shirley MacLaine heute über den Film Infam[1]
Das war durchaus eine verkorkste Situation
Gerda Eschweiler, 68 Jahre
Es ist nicht mehr ganz früh am Morgen, als der Zug in Freiburg einfährt, doch die Feuchtigkeit der Nacht hält sich hartnäckig zwischen den herbstlich gefärbten Bäumen, trübt den Blick auf die Weinstöcke der umliegenden Hügel. Ich finde schnell den richtigen Bus zur Weiterfahrt. Die Frau, die in einer modernen Neubausiedlung im Studentenviertel auf mich wartet, hat mir den Weg akribisch genau beschrieben. Bald schon stehe ich vor einem verwinkelten, in kräftigen Farben gestrichenen Gebäude und spüre ein letztes Mal vor dem bevorstehenden Gespräch meinen gemischten Gefühlen nach. Gerda Eschweiler war mir am Telefon mit Skepsis begegnet, als ich sie um das Interview bat. Was denn das Besondere sei an einer lesbischen Lehrerin, hatte sie mich gefragt, das eine habe doch mit dem anderen eigentlich nichts zu tun. Ich versuchte sie von dem Projekt zu überzeugen und spürte dennoch, dass ihre Zweifel nicht wirklich gewichen waren, als wir uns verabredeten. Jetzt aber öffnet sie mir die Tür, und ein waches Augenpaar mustert mich wohlwollend. Ihr Blick ist auf eindringliche Weise interessiert und gleichermaßen scheu. Schnell erkenne ich, dass ihre im Vorfeld geäußerten Bedenken sich nicht in die vor uns liegenden Stunden drängen werden, dass sie bereit ist, meinen Fragen offen zu begegnen. Erleichtert schalte ich das Aufnahmegerät ein und bin gespannt auf die Geschichte, die sie mir erzählen wird.
Gerda Eschweiler ist erst nach ihrer Pensionierung nach Freiburg gezogen, der Liebe wegen, wie sie verschmitzt gesteht. Eigentlich kommt sie eher aus dem nordwestdeutschen Raum; sie ist in Duisburg geboren und hat ihr ganzes Berufsleben lang an einem Gymnasium in Bielefeld unterrichtet, Mathematik und Chemie waren ihre Fächer. Lehrerin war schon ihr Traumberuf gewesen, als sie noch ein Kind war, doch sie musste einen langen und anstrengenden Weg zurücklegen, um ihr Ziel zu erreichen.
Als Gerda sechs Jahre alt ist, sind die Schulen kaputt und die Lehrer an der Front. Ihre Einschulung verzögert sich, und so startet sie schon später als gewöhnlich. Nach den ersten Jahren wechselt sie zunächst auf eine Realschule, denn sie stammt aus einer armen und kinderreichen Familie, und zum nächstgelegenen Gymnasium führt wegen der schlechten Verkehrsverbindungen in den Nachkriegsjahren buchstäblich kein Weg. Als am Ende ihrer Schulzeit alle in ihrer Klasse gebeten werden, ihren Berufswunsch aufzuschreiben, gibt sie dennoch ›Lehrerin‹ an. Ihre Klassenlehrerin nimmt sie daraufhin zur Seite. So blöd sei sie doch nicht, wundert sie sich, Gerda müsse doch wissen, dass sie mit einem Realschulabschluss nicht Lehrerin werden kann. Gerda aber lässt sich nicht beirren. »Da steht Berufswunsch«, beharrt sie nachdrücklich, »da steht nicht, was ich hinterher machen will, da steht Wunsch, und mein Berufswunsch ist, Lehrerin zu sein.« Sie legt eine bedeutungsvolle Pause ein und grinst zufrieden, als ihre damaligen Worte im Raum nachklingen.
Die Klassenlehrerin hilft Gerda, ein Hauswirtschaftliches Gymnasium in der Nähe besuchen zu können. Ein Abschluss dort berechtigt sie zwar nicht zu einem Studium an der Universität, wohl aber ermöglicht er es ihr, Volksschullehrerin zu werden. Gerda bereitet sich auf das Abitur vor, und kurz vor den Prüfungen will sie sich an der Pädagogischen Hochschule in Dortmund einschreiben. Sie füllt die Anmeldeformulare aus, doch dann stellt ihr jemand die für sie lebensentscheidende Frage: »Ja, und welches Instrument spielen Sie?« – Gerda schüttelt nur den Kopf, denn sie spielt kein Instrument. – »Dann können Sie nicht Volksschullehrerin werden«, bekommt sie daraufhin zu hören. Sie kauft sich von dem Geld, das sie als Nachhilfelehrerin verdient, eine Gitarre und ein Buch zum Selbststudium. Gitarre spielen sei ganz einfach, hat man ihr gesagt, ein bisschen Klimpern, das sei leicht zu lernen. Sie hebt die Schultern zu einer entschuldigenden Geste. »Ja, und daran bin ich gescheitert.« Sie lacht amüsiert, und der Ton, in dem sie diese Offenbarung äußert, klingt eher triumphierend als bedauernd. Denn so entschließt sie sich stattdessen, nach dem Abschluss am Hauswirtschaftlichen Gymnasium mit Hilfe einer Extraprüfung das richtige Abitur, das zum Studium an der Universität berechtigt, nachzuholen. Dazu muss sie insbesondere eine Prüfung in Mathematik ablegen und eine weitere in Französisch, eine neue Hürde, denn sie hat erst am Hauswirtschaftlichen Gymnasium Französischunterricht erhalten und ist daher viel schlechter als alle anderen in ihrer Klasse. Um sich nun auf die Prüfung vorzubereiten, geht sie nach Genf, arbeitet dort in einem Haushalt und besucht gleichzeitig Kurse an der Universität, um ihr Französisch zu verbessern. Ich bewundere ihr Durchhaltevermögen, und sie bestätigt mir: Ja, sie sei ein freundlicher Mensch, habe ihre Mutter immer gesagt, aber wenn sie ihren Dickkopf aufsetze, dann könne niemand etwas dagegen tun.
Gerda weiß lange Zeit nicht, dass sie lesbisch ist. Wie viele Frauen ihrer Generation hat sie keine Ahnung, »dass es das gibt.« In dem Französisch-Kurs in Genf trifft sie mit Studierenden aus Afrika und Asien, aus den USA und vielen Ländern Europas zusammen. Ein weiterer Student aus Deutschland spricht sie eines Tages an und rät ihr, sie solle aufpassen, die Professorin, die sie unterrichtet, sei lesbisch. »Was ist die?« fragt Gerda erstaunt. Sie kennt das Wort überhaupt nicht, hat wohl schon einmal etwas vom § 175 gehört, »dem Homosexuellenparagraphen«, aber nun wundert sie sich doch: Was ist denn das nun wieder? Der Student erklärt es ihr: Lesbisch sei eine Frau, die Frauen liebt. Und die Professorin habe ein Auge auf Gerda geworfen. »Warum nicht?« entgegnet sie ihm. »So unhübsch bin ich ja auch nicht.« Sie lacht schelmisch und versichert mir: »Aber da war nichts.«
Gerda beginnt das Lehramtsstudium im Alter von 22 Jahren an der Universität in Göttingen. Sie bewohnt ein winziges Zimmer in einem Studentenheim – wenn sie links und rechts die Arme ausbreitet, stößt sie gegen die Wände, die Decke ist schräg, es ist das billigste. Sie studiert lange, hat noch immer Nachholbedarf und weiß am Anfang nicht, ob sie das Studium durchhalten wird. Besonders die Mathematik bereitet ihr Kopfzerbrechen.
Obwohl das Studium ihre ganze Konzentration erfordert, merkt Gerda schon, dass sie sich nicht in Männer verliebt. All ihre Kommilitoninnen haben einen Freund, und sie selbst geht auch tanzen und wird eingeladen, aber sie verliebt sich eben nicht. Das findet sie schade, aber sie denkt dennoch nicht, sie müsse auch einen Freund haben »und den streicheln und küssen und mit dem ins Bett gehen.« Das will sie nicht, und so brütet sie stattdessen über ihren Mathematikaufgaben und sucht nach Lösungen, holt ihren Lernrückstand auf, während die anderen Studentinnen spazieren gehen. Nach sechs Semestern, im Alter von 25 Jahren, macht sie die ersten Prüfungen. »Mit Eins in Mathematik«, sagt sie ganz leise, tatsächlich ist es eher ein Flüstern, das ich gerade noch verstehen kann.
Nach der mühseligen Paukerei beschließt Gerda, sich eine Auszeit zu gönnen. Sie will auch weg aus Göttingen, das ihr kulturell nicht viel zu bieten hat. Schon oft ist sie nach Berlin und Hamburg getrampt, um ins Theater zu gehen, und jetzt zieht es sie in die Großstadt, wo sie sich für das weitere Studium einschreiben, es aber zunächst langsam angehen lassen will. Ihre Wahl fällt auf Hamburg. »Wegen Gustav Gründgens«, erklärt sie mir. Sie habe ihn im Theater gesehen, und das sei entscheidend gewesen. In den Semesterferien des Jahres 1963 kommt sie in der Hansestadt an; kurz darauf erfährt sie, dass Gründgens sich das Leben genommen hat.
Gerda wohnt auch in Hamburg in einem Studentenheim, und hier verliebt sie sich – in Elke, eine Kommilitonin. Es ist ihre erste Liebe, aber Gerda Eschweiler spricht ganz sachlich darüber, fügt lediglich hinzu: »Das wurde dann bemerkt, und ich musste Hamburg verlassen.« Der Druck sei zu groß geworden, nicht offiziell von Seiten der Universität, aber es ging nicht mehr. Was genau nicht mehr ging, will ich wissen, und auch, wo denn der Druck herkam? Meine Fragen lassen sie innehalten. Dann erzählt sie mir die ganze Geschichte, nicht mehr sachlich und abstrakt, sondern leise und laut, aufgeregt und bedauernd.
Bevor Gerda nach Hamburg gegangen war, hatte sie sich mit einer Studienkollegin aus Göttingen für die Ferien zu einem gemeinsamen Urlaub verabredet. Als sie sich dann in Hamburg verliebt, fragt sie diese Frau, ob sie etwas dagegen habe, dass Elke mitfährt. Die Reisepartnerin ist einverstanden; zu dritt machen sie sich mit dem Auto auf den Weg nach Griechenland. Bald schon fällt der früheren Mitstudentin auf, dass zwischen Gerda und Elke mehr als Freundschaft ist, dass sie ein Liebesverhältnis haben. Ihnen gegenüber sagt sie aber den ganzen Urlaub lang nichts, im Gegenteil, nach der Rückkehr übernachten Gerda und Elke sogar noch bei ihr, bevor sie gemeinsam nach Hamburg zurückfahren. Doch kaum haben sie sich in...