BUDDHA ERMUNTERT ZUM AUFBRUCH
Vor mehr als zweitausend Jahren ließ ein Königssohn Familie und Palast hinter sich, um als Wandermönch die Geheimnisse des Lebens zu ergründen. Er wollte den Menschen zeigen, was zu allen Zeiten und in allen Kulturen Glück und Unglück bedingt. Über fünfzig Jahre lang lehrte er als Wanderprediger. Den Namen Buddha (= der Erwachte) erhielt der Prinz erst, nachdem die Antworten, die er fand, von Tausenden von Zuhörern diskutiert und überprüft worden waren. Auch in der heutigen Zeit hat seine Lehre nichts von ihrer Aktualität verloren. Dank Buddhas Anregungen können wir lernen, unsere Aufmerksamkeit so zu schulen, dass sie Herz und Geist durchdringt. Dadurch wird es uns möglich, unsere persönliche Lebens- und Leidensgeschichte zu verstehen und loszulassen. Wenn wir uns mit Buddha auf den Weg machen, werden wir freier und zufriedener leben.
DIE FÜNF HINDERNISSE ERKENNEN UND LOSLASSEN
Buddha beschreibt fünf geistige Gewohnheiten, die Fünf Hindernisse, die unsere Wahrnehmung trüben. Diese Fünf Hindernisse heißen: Zweifel, Unruhe, Trägheit, Verlangen und Widerwille. Sie verschleiern Herz und Geist so sehr, dass wir unter ihrem Einfluss nur eingeschränkt denken und handeln können. Die fünf Gewohnheiten, die unser Denken und Fühlen trüben, lassen sich gut mit dem Wetter vergleichen, das uns daran hindert, eine Aufgabe zu erledigen, die wir uns vorgenommen haben.
Der Zweifel ist wechselhaft wie das Aprilwetter. Wir fühlen uns hin und hergerissen und verharren schließlich, wo wir sind.
Die Unruhe entspricht Winden aus wechselnden Richtungen. Wir finden keinen Ort zum ruhigen Verweilen.
Die Trägheit legt sich wie dichter Nebel auf uns, der den Antrieb hemmt.
Widerwille (auch Aversion) braust auf wie ein Gewittersturm, der sich allem entgegenstellt.
Das Verlangen ist wie ein himmlischer Sommertag, dem wir uns einfach nur hingeben möchten.
Manchmal tauchen gleich mehrere Hindernisse auf einmal auf, manchmal ist nur eines vorhanden. Natürlich wird jede Beschreibung der Hindernisse immer etwas idealtypisch erscheinen. In Wirklichkeit lassen sie sich nicht klar voneinander abgrenzen, sie vermischen sich und beeinflussen sich gegenseitig. Die meisten von uns nehmen sie gar nicht wahr, denn sie legen sich unterschwellig und unbemerkt über alle unsere Wahrnehmungen. Erst wenn wir uns mit Buddhas Lehren auseinandersetzen, erkennen wir, wie die Hindernisse auf unseren Geist wirken. Warum ist das wichtig? Buddha lehrt, wir sollten unser Leben selbst in die Hand nehmen und die Verantwortung für unser Handeln übernehmen. Doch genauso wenig wie der Baum verantwortlich ist für den Wind, der ihn schüttelt, sind wir auch nicht verantwortlich für das Hindernis, von dem unser Geist geplagt wird. Unsere Verantwortung besteht vielmehr darin, wie wir mit dem Hindernis umgehen. Widerwillle und Verlangen begleiten uns durch unser ganzes Leben. Ob wir uns aber diesen Triebkräften unbedacht ausliefern oder nicht, das können wir selbst bestimmen. Unser Lebensglück liegt in unseren eigenen Händen, denn wir können ergründen, welches Verhalten uns glücklich stimmt und welche Erfahrungen uns unglücklich machen. Daraus ergeben sich Prioritäten für unser alltägliches Handeln. Dieses Buch möchte Sie darin unterstützen, eine klare Ausrichtung in Ihrem Leben zu entwickeln. Sie werden die Fünf Hindernisse zunächst kennenlernen und dann üben, wie Sie die Hindernisse durch gesunde Gegengewichte ausgleichen und mehr und mehr loslassen können.
ACHTSAMKEIT IST EINE ERHÖHTE AUFMERKSAMKEIT
Um zu bestimmen, was in unserem Leben Vorrang haben soll, brauchen wir Klarheit und Achtsamkeit. Buddha lehrt, dass Aufmerksamkeit der Stoff ist, aus dem unser Geist besteht. Und dieser Stoff hat ganz spezielle Eigenschaften: Er kann sich selbst ernähren und vermehren, und er kann sich auch selbst erkennen. Stellen Sie sich vor, Sie könnten sich selbst mit eigenen Augen sehen. Das entspricht der Möglichkeit, dass Aufmerksamkeit sich selbst mit Aufmerksamkeit betrachtet – Ihre Aufmerksamkeit erkennt, dass Sie tatsächlich aufmerksam sind. Diese erhöhte Form von Aufmerksamkeit wird als Achtsamkeit bezeichnet. Achtsamkeit ist somit eine Aufmerksamkeit, die weiß, dass sie jetzt gerade aufmerksam ist und was sie gerade in diesem Moment mit Aufmerksamkeit erkennt. Ein Beispiel: Ich lese diese Zeilen. Ich weiß, dass ich lese und dabei im Sofa versinke, Kaffeeduft zieht mir in die Nase, ich komme darüber ins Sinnieren und schweife ab. Das bemerke ich und kehre aufmerksam zum Text zurück. Ich freue mich, weil es mir gelungen ist, nicht länger als zwei Minuten abzuschweifen. Nun überlege ich, welche enormen Kräfte in unserem Geist freigesetzt werden würden, wenn wir alle immer hundertprozentig achtsam wären. Und ich stelle fest, dass ich schon wieder mechanisch über die Buchstabenreihen schweife, anstatt mich auf das zu konzentrieren, was direkt vor mir liegt. So kommt und geht achtsames Wahrnehmen, verdichtet sich und verliert sich wieder. Es ist ein beständiger Impuls nötig, hier und jetzt mit allen Sinnen anwesend zu sein.
TÄGLICH ÜBEN
Mir entfährt noch heute ein lauter Stoßseufzer, wenn ich mich an eine Unachtsamkeit erinnere, die schon zwanzig Jahre zurückliegt. Andrew, ein Freund aus New York, war bei mir zu Besuch. Er ist Reiseschriftsteller und tippte gerade eifrig auf einem der ersten Laptops, das ich je gesehen hatte, während ich eine Bügelaktion vorbereitete. Um das Bügeleisen aufzuheizen, zog ich den Stecker seines Laptops raus. Im gleichen Augenblick stieß Andrew einen lauten Schrei aus! Mit der von mir ausgelösten Stromunterbrechung hatten sich seine Texte in Luft aufgelöst. »Warum hast du mich nicht vorher gefragt?«, stöhnte Andrew. Es war mir so peinlich! Ich hatte einfach nicht nachgedacht. Achtsamkeit schrieb ich damals noch mit kleineren Buchstaben. Doch diese Episode ist mir so sehr in die Glieder gefahren, dass sie ab und zu an völlig unvermuteter Stelle auftaucht und mich daran erinnert, mich täglich neu in Achtsamkeit zu üben. Denn nur wenn wir uns kontinuierlich darum bemühen, kann die Achtsamkeit wachsen – ähnlich wie ein Muskel, den wir regelmäßig trainieren. Deshalb ist es wichtig, dass Sie sich feste, ungestörte Zeiten – vielleicht eine halbe oder eine Stunde am Tag – für die Beschäftigung mit diesem Buch und den darin enthaltenen Übungsaufgaben reservieren.
MACHEN SIE SICH NOTIZEN
Ich empfehle Ihnen, sich ein Übungsheft anzuschaffen, in dem Sie sich regelmäßig Notizen machen: zu den Übungen, den Meditationen und den Vorschlägen, die Sie jeweils am Ende der einzelnen Kapitel finden. Kaufen Sie ein hübsches Heft, dick genug, um all Ihren Reflexionen zu den Übungen Platz zu geben. Das Aufschreiben hilft Ihnen, innere Prozesse zu erfassen. Sobald Sie Erfahrungen in Worten ausdrücken können, stehen sie Ihnen unmittelbarer zur Verfügung. Sie lernen dadurch schneller und intensiver und können Fortschritte auf Ihrem Weg erkennen. Durch Ihre persönliche Veränderung werden auch Ihre Beziehungen positiv beeinflusst. Ihr ganzes Leben gewinnt an Farbigkeit und Lebendigkeit, wenn Sie kontinuierlich und mit persönlichem Einsatz Buddhas Anleitungen in Ihrem Alltag umsetzen. Da Achtsamkeit die entscheidende Fähigkeit auf Ihrem Weg hin zu Veränderungen ist, stelle ich Ihnen nun die erste Übung vor, die Ihre Achtsamkeit schult. Sie lässt sich überall und jederzeit durchführen.
ÜBUNG
Achtsam durch den Tag
Versuchen Sie, drei Minuten am Morgen, drei Minuten am Abend und – für den Anfang – dreimal eine Minute am Tag ganz achtsam zu sein.
Bevor Sie morgens aus dem Bett steigen, bleiben Sie einige Minuten ganz ruhig mit offenen Augen liegen und rufen Sie sich ins Bewusstsein: »Ich bin wach, ich liege noch, spüre meinen Körper, nehme mir vor, mich heute immer wieder daran zu erinnern, allen Erfahrungen mit Achtsamkeit zu begegnen.«
Oder Sie setzen sich auf die Bettkante, spüren die aufrechte Haltung Ihres Körpers und lassen die ersten Gedanken heraufziehen. Gedanken an den neuen Tag, vielleicht auch Nachklänge von Träumen der vergangenen Nacht. Was empfinden Sie, welche Gefühle herrschen vor? Nehmen Sie alles nur zur Kenntnis, ohne etwas ändern zu wollen. Stellen Sie mit liebevoller Akzeptanz fest: So ist es jetzt.
Halten Sie im Lauf des Tages von Zeit zu Zeit inne und nehmen Sie den gegenwärtigen Moment bewusst wahr, Versuchen Sie, Ihre Erfahrung innerlich in Worte zu fassen. Mit jeder Erfahrung, die Sie machen, verbindet sich ein Gefühl, eine Empfindung im Körper. Sie steigen Treppen hoch und empfinden eine Last auf Ihren Schultern. Sie öffnen eine Tür, und Ihr Herz hüpft vor Freude. Je genauer Sie diese Eindrücke registrieren, umso besser können Sie künftig mit Ihren Gefühlen umgehen.
Vor dem Einschlafen rufen Sie sich den vergangenen Tag ins Bewusstsein: In welchem Moment wären Sie gerne achtsamer gewesen und wo waren Sie wirklich einverstanden mit Ihrem eigenen Verhalten? Wie waren die Körperempfindungen, die Gefühle und Gedanken in diesem Moment? Dieses bewusste Nachspüren steigert Ihre Achtsamkeit.
AUS ERFAHRUNG LERNEN
Bald werden Sie herausfinden: Achtsamkeit ist eine faszinierende Kraft. Mit ihrer Hilfe wird es Ihnen immer öfter gelingen, aus Erfahrungen, die Sie im Laufe Ihres Lebens machen, bewusste Schlüsse zu ziehen, und es wird Ihnen nach und nach immer leichter fallen, ungünstiges Verhalten abzulegen. Denn aus Achtsamkeit entsteht die Kraft für...