Die Autofreaks – oder: Das Leben auf der Überholspur
Einer langweiligen Informatik-Vorlesung im 7. oder 8. Semester an der Hochschule ist es letztendlich zu verdanken, dass ich zu meinem ersten „richtigen“ Job nach meinem Studium kam. Ein mir bis dato nicht bekannter Informatik-Freak hielt eine (Gast-)Vorlesung über die Programmiersprache JavaScript. Dieser sicherlich hochkreative Mensch war nicht nur extrem von seinem Thema begeistert, sondern auch so im Thema, dass er mit seinem Tempo bereits nach etwa zwanzig Minuten ungefähr achtzig Prozent der anwesenden Studenten inhaltlich abgehängt hatte – so auch mich. Was sollte ich also tun bis zum Ende der Vorlesung? Mit den anderen abgehängten Kommilitonen zu quatschen würde sicherlich die unter Umständen noch vorhandenen interessierten Zuhörer stören, daher entschied ich mich kurzer Hand dazu, die verbleibende Vorlesungszeit „sinnvoll“ zu verwenden und begann klammheimlich und leise damit, im Internet nach potenziellen zukünftigen Arbeitgebern zu surfen – von denen ich auch etliche fand.
Wie viele Bewerbungen ich damals genau schrieb, weiß ich nicht mehr ganz genau, aber es waren sicherlich an die zwanzig bis dreißig, die mich zu Bewerbungsgesprächen durch die halbe Republik führten. Und so war ich aus mehreren Gründen froh, als ich endlich im Frühjahr 1998 eine Zusage bei einem größeren Münchner Arbeitgeber in der Automobilbranche bekam.
Zum einen war die Position im Produktkosten-Controlling für Produkte in der Entwicklung exakt der Job, den ich mir gewünscht hatte, denn es war und ist eine ideale Aufgabe für Wirtschaftsingenieure, um sowohl technische wie auch betriebswirtschaftliche Kenntnisse optimal zum Einsatz zu bringen. Und das Ganze in einer äußerst spannenden Branche! Auf jeden Fall erschien es mir deutlich attraktiver, als in einem Waschmittel-Unternehmen Zahlen zu jonglieren.
Und zum anderen – ja, München! Denn von all den anderen Städten, in denen ich sonst noch so Bewerbungsgespräche geführt hatte, hatte ich nirgendwo jemanden gekannt, so dass der Sprung in eine neue Arbeitsumgebung auch den Aufbau eines neuen Freundeskreises beinhaltet hätte. Aber in München kannte ich sogar gleich zwei Personen: Zum einen Christoph, den ich während meines Praktikums in Paris kennengelernt hatte und zum anderen gab es da noch Veronika, meine frühere Mit-Azubine aus meiner Ausbildungsfirma und Studienkollegin zwei Jahrgänge über mir, die – wie sich später herausstellte – sogar in der gleichen Abteilung wie ich arbeitete.
Und wie es der Zufall so wollte, fand ich innerhalb von nur einem Besuchs-Wochenende im Juli auch gleich eine tolle Wohnung. Die war nicht nur vergleichsweise günstig, sondern auch noch richtig zentral gelegen. Selbst mit dem Fahrrad brauchte ich nur etwa zwanzig Minuten, um in die Arbeit zu kommen. Was natürlich besonders toll war, war, dass ich im Gegensatz zu der Vorort-Kleinstadt, in der ich aufgewachsen war, dort auch noch nach einem längeren Arbeitstag um 19 Uhr geöffnete Supermärkte oder Bekleidungsgeschäfte fand. Außerdem gab es in unmittelbarer Umgebung etliche nette Kneipen um „noch mal schnell“ zu Happy-Hour-Preisen einen Cocktail zu trinken. So nutzte ich natürlich vor allem in den ersten paar Jahren diese ganzen Möglichkeiten sehr intensiv.
Zudem hatte ich super nette Arbeitskollegen, von denen viele im gleichen Alter wie ich waren und die auch gerade erst frisch nach München gezogen waren und deshalb auch nur wenige Kontakte außerhalb der Arbeit hatten. Und so zogen wir auch in unserer Freizeit häufig zusammen durch die Kneipen, gingen zusammen zum Squash-Spielen oder am Wochenende in die Disco zum Tanzen. Oder wir luden uns gegenseitig zu Geburtstagsfeiern ein. Das Ganze funktionierte ungefähr so lange, bis einer nach dem anderen eine Freundin bzw. einen Freund hatte…
Was mir allerdings auch ganz recht war, denn irgendwann empfand ich es als etwas einseitig, auch in meiner Freizeit dauernd über die Arbeit zu reden. Und so war ich dann ganz froh, als mich Christoph irgendwann einmal fragte, ob ich nicht mal mit ihm und seiner Clique mit an den Gardasee kommen wollte. Ein nachhaltiges Erlebnis, denn dort machte ich nicht nur die Bekanntschaft mit vielen neuen Leuten außerhalb des Arbeitsumfeldes, sondern hatte seitdem auch ein neues Hobby: Mountainbiken.
Parallel dazu begann ich eine Beziehung mit Albert, einem Arbeitskollegen, der allerdings in einer ganz anderen Abteilung arbeitete und den ich über gemeinsame Bekannte kennengelernt hatte. Außer dass die Freizeit dadurch natürlich doch wieder mit mehr Arbeitsthemen gespickt war, bereicherte er mein Leben durch ganz andere – für meine Verhältnisse neue – Aspekte. Denn auch wenn wir beide vom Sternzeichen her Wassermann sind, war er mit seiner ruhigen, ausgeglichenen und häuslichen Art eher das krasse Gegenteil von mir, die ich damals dauernd durch die Gegend zog. Zumindest war es mir bis dahin neu, dass man Visual-Basic-Programmieren oder Kurzwellen-Radio-Hören als Hobbies haben konnte. Aber abgesehen davon teilten wir nicht nur viele gemeinsame Interessen, zum Beispiel das Mountainbiken und Reisen und konnten viel gemeinsam lachen. Sondern es herrschte trotz unserer Unterschiedlichkeit auch ein großes Verständnis zwischen uns, das ich so bisher noch nicht erlebt hatte. Gleichzeitig zeigte er mir durchaus auch mal auf liebevolle Art meine Grenzen auf, was ich mir bisher auch nicht wirklich hatte bieten lassen. Und obwohl es mir natürlich einerseits gut tat, mich auch mal eher ruhigeren Sachen zu widmen, fühlte ich mich andererseits auch manchmal ausgebremst und zog dann doch wieder alleine (beziehungsweise mit anderen aber ohne ihn) durch die Gegend. Denn meine Abenteuerlust war nach wie vor ungebremst. Oder sollte ich besser sagen: Die Suche nach dem ruhenden Pol in mir selbst?
In der gleichen Zeit und auch später noch lernte ich an meinem ersten Job und dem damit verbundenen eigenen Einkommen schätzen, dass ich mir nun – nachdem ich während des Studiums eher immer nur Kurzurlaubsweise weggefahren war – auch längere Urlaubsreisen leisten konnte. Die ich auch dringend brauchte, um mich nach meinen Überstunden-intensiven Arbeitsphasen wieder zu regenerieren...
Meiner Abenteuerlust sehr entgegen kamen dabei die Rucksack-Reisen. Denn nachdem für meine Eltern ein Urlaub immer vergleichsweise bodenständig, durchstrukturiert und -organisiert gewesen war, fand ich es toll, außer einem Flug, der grob das Urlaubsziel vorgab, und einem entsprechenden Reiseführer nichts organisiert zu haben. So konnte ich spontan dort bleiben, wo es mir gefiel. Dadurch, dass ich jede Nacht mehr oder weniger an einem anderen Ort verbrachte und mich hauptsächlich mit den gleichen Verkehrsmitteln wie die Einheimischen fortbewegte, konnte ich nicht nur kostengünstig reisen (was mein Controller-Herz begeisterte) sondern mein jeweiliges Reiseziel natürlich auch sehr intensiv, bunt, lebendig und hautnah kennenlernen. Sozusagen mit allen Sinnen, denn „lebendig“ schloss meistens eine gewisse Lautstärke und auch Geruchsintensität mit ein…
Da mein Arbeitgeber irgendwann beschloss, im Jahresabschluss keine bilanziellen Rückstellungen für Überstunden mehr vorhalten zu wollen, wurde die Belegschaft mehr oder weniger komplett dazu angehalten, zum Jahresende vollständig Resturlaub und Überstunden abzubauen. Einer meiner Kollegen prägte dafür mal den Ausdruck „digitales Arbeiten“: Während des Jahres wochen- oder gar monatelang 130 % geben und am Jahresende wochenlang Überstunden abbummeln…. (Unter dem Gesichtspunkt einer ausgewogenen Work-Life-Balance würde ich heute ein solches Vorgehen nicht mehr wirklich befürworten). Damals schätzte ich jedoch an diesem Resturlaub in der Weihnachtszeit und an meinen damaligen Reisezielen besonders, dass sie mir den dunklen, feuchten und kalten mitteleuropäischen Winter erheblich verkürzten.
Außerdem gingen die Reisen häufig ans Meer, so dass ich irgendwann – eigentlich eher zufällig – das Tauchen für mich entdeckte. Wenn ich heute so darüber nachdenke, war es damals für mich die einzige Art und Weise, wie ich Ruhe und Stille wirklich wertschätzen und aushalten konnte, denn unter Wasser müssen bekanntermaßen selbst die größten Laberbacken (und davon gibt es viele unter Tauchern) die Klappe halten. Gleichzeitig lernte ich durch einen engen, achtsamen und kameradschaftlichen Kontakt zur Unterwasserwelt Kraft und Erholung für mich zu schöpfen.
Denn Kraft und Erholung schöpfen hatte ich ziemlich nötig bei meinem Lebenswandel (oder wie man auf neudeutsch sagt: „Lifestyle“). Wenn ich diesen mit einem Liedtitel beschreiben sollte, wäre wahrscheinlich „Ja, ich weiß, es war ‘ne geile Zeit, uns war kein Weg zu weit…” von der Gruppe Juli sehr zutreffend.
Denn in der Tat war für mich selten ein Weg zu weit, kein Sport-Programm war mir zu viel oder kein Berg zu hoch. Einen zu Hause verbrachten Urlaub empfand ich damals nicht als „richtigen“ Urlaub. So fuhr ich mit verschiedenen Freundeskreisen im Winter an den Wochenenden zum Skifahren in die Berge. Und im Sommer unternahm ich häufige Kurz-Urlaubsreisen in europäische Großstädte oder zum Tauchen nach Kroatien oder an den Gardasee, um mit meinem neuen Freund, dem Mountainbike, immer neue Berge zu bezwingen. Häufig war ich dabei mit meinen männlichen Kumpels unterwegs, denn das „Damenprogramm“ von deren Freundinnen war mir meistens zu langweilig.
Als kleine „Bonbons“, um mir meinen arbeitsintensiven, mal mehr, mal weniger abwechslungsreichen bis herausfordernden Alltag zu versüßen, ging ich unter der Woche mit Freunden auf Afterwork-Partys oder im Sommer...