1 Allgemeine Einführung in .NET
1.1 Warum .NET?
Einem Leser, der über fundierte Grundlagenkenntnisse verfügt, eine Thematik nahezubringen, die seine Aufmerksamkeit erregt und ihm neue Kenntnisse vermittelt, ist ein nicht ganz einfaches Unterfangen. Dabei gleichzeitig einen Programmieranfänger behutsam in die abstrakte Denkweise der Programmlogik einzuführen, ohne zugleich Frust und Enttäuschung zu verbreiten, dürfte nahezu unmöglich sein. Ich versuche mit diesem Buch dennoch, diesen Weg zu beschreiten, auch wenn es manchmal einer Gratwanderung zwischen zwei verschiedenen Welten gleicht. Dabei baue ich schlicht und ergreifend auf den jahrelangen Erfahrungen auf, die ich als Trainer in vielen Seminaren mit teilweise ausgesprochen heterogenen Gruppen erworben habe.
Vielleicht wissen Sie überhaupt noch nicht, was sich hinter .NET verbirgt? Vielleicht haben Sie sich für dieses Buch entschieden, ohne die Tragweite Ihres Entschlusses für .NET zu kennen. Ich möchte Ihnen das zunächst einmal erläutern.
Blicken wir ein paar Jahre zurück, sagen wir in die 90er-Jahre, und stellen wir uns die Frage, wie damals Anwendungen entwickelt wurden und wie sich die IT-Welt während dieser Zeit entwickelt hat. Am Anfang des von uns betrachteten Jahrzehnts war der Hauptschauplatz der Desktop-PC, Netzwerke steckten noch mehr oder weniger in den Kinderschuhen. Grafische Benutzeroberflächen hielten langsam Einzug auf den Rechnern, das Internet war einem nur mehr oder weniger elitären Benutzerkreis bekannt und zugänglich. Desktop-PCs wurden mit immer besserer Hardware ausgestattet; ein Super-PC von 1990 galt zwei Jahre später als total veraltet und musste wegen der gestiegenen Anforderungen der Software an die Hardware oft zumindest drastisch aufgerüstet, wenn nicht sogar ersetzt werden.
Sie merken vielleicht an diesen wenigen Worten, wie dramatisch sich die IT-Welt seitdem verändert hat. Die Evolution betraf aber nicht nur Software und Hardware. Software muss, ehe sie den Benutzer bei seiner täglichen Arbeit unterstützen kann, entwickelt werden. Hier kochten viele Unternehmen ein eigenes Süppchen und warben bei den Entwicklern und Entscheidungsträgern mit Entwicklungsumgebungen, die zum einem auf den unterschiedlichsten Programmiersprachen aufsetzten und zudem mit eigenen Funktionsbibliotheken aufwarteten: Borlands Delphi, Microsofts Visual Basic, für die Puristen C und C++ – um nur die bekanntesten Vertreter zu nennen.
Die Vielfalt betraf jedoch nicht nur die Entwicklung der Software. Immer neue Plattformen, angepasst an den jeweils aktuellen Trend der Zeit, eroberten den Markt und verschwanden nicht selten auch schnell wieder. Die Unternehmensnetzwerke mussten mit der stürmischen Entwicklung Schritt halten, wurden komplexer und komplizierter und öffneten sich zunehmend auch der Welt nach außen.
In dieser Periode begann auch der Siegeszug des Internets. Obgleich es anfangs nur als weltweiter Verteiler statischer Dateninformationen positioniert war, wurden immer mehr Technologien ausgedacht, die die statischen Webseiten durch dynamische ersetzten, die dem Anwender nicht immer dieselben Informationen bereitstellten, sondern genau die, für die er sich interessierte. Datenbanken wurden hinter die Webserver geschaltet und fütterten die Webseiten mit dem aktuellsten Informationsstand.
Kluge Köpfe erkannten auch sehr schnell, dass die Spezifikationen des Internets sich auch dazu eignen, mehrere Unternehmen zu koppeln. Damit wurde die Grundlage dafür geschaffen, dass Sie heute im Reisebüro oder im Internetbrowser eine Reise buchen können, die nicht nur den Flug, sondern gleichzeitig eine gültige Hotelzimmerbuchung, vielleicht sogar samt Mietwagen, umfasst – obwohl hierzu schon drei Informationsquellen mit unterschiedlicher Software abgezapft werden müssen: ein nicht ganz einfaches Unterfangen, wenn Sie bedenken, dass möglicherweise die Schnittstellen, über die die verschiedenen Komponenten sich zwangsläufig austauschen müssen, nicht einheitlich definiert sind.
Bei dieser rasanten Entwicklung der Möglichkeiten, Daten auszutauschen oder auch nur weiterzuleiten, sollten Sie nicht vergessen, dass auch die Hardware eine ähnliche Entwicklung genommen hat. Ein Phone besitzen heutzutage schon die meisten schulpflichtigen Kinder, und der mobile Sektor entwickelt sich immer noch dramatisch schnell. Ein Ende dieser Spirale ist derzeit nicht zu erkennen.
An der Schnittstelle all dieser Vielfältigkeit steht der Entwickler – was nutzen die beste Hardware und die ausgeklügelten Spezifikationen, wenn die Bits sich nicht den Weg von einem zum anderen Endpunkt bahnen? Für diesen Bitfluss wollen Sie als Entwickler sorgen. Damit fangen aber wegen der oben erwähnten Vielgestaltigkeit der IT-Welt die Probleme an: verschiedene Plattformen, unterschiedliche Programmiersprachen, mehrere Klassenbibliotheken, eine Vielzahl zu beachtender Spezifikationen usw.
Einen ersten Schritt in Richtung Vereinheitlichung beschritt die Firma Sun mit Java. Der Erfolg, den diese plattformunabhängige Sprache hatte und auch immer noch hat, war auch ein Zeichen für Microsoft, um das Entwicklerterrain zu kämpfen. Nach einer eingehenden Analyse der Anforderungen, die gegen Ende der 90er-Jahre an die damalige Software gestellt wurden, sowie einer Trendanalyse der Folgejahre wurde das .NET Framework entwickelt. Dabei konnte Microsoft die »Gunst der späten Stunde« nutzen und die Nachteile und Schwachpunkte, die jedes Produkt, also auch Java, hat, durch neue Ideen ausmerzen.
Nein, .NET ist natürlich auch kein Heilsbringer und wird sicherlich nicht die Menschheit überdauern. Aber nach heutigen Maßstäben ist .NET das wahrscheinlich effizienteste Framework, in dessen Mittelpunkt die .NET Klassenbibliothek steht. Diese bietet Ihnen alles, was Sie zum Entwickeln brauchen – egal, ob es sich um eine einfache Anwendung handelt, die nur ein paar Daten anzeigt, oder um eine Unternehmensanwendung großen Stils. Sie können Desktop-Anwendungen genauso erstellen wie eine hochkomplexe Internetanwendung. Sie können die Microsoft Office-Produkte damit programmieren, fremde Datenquellen anzapfen, Programme für Ihr Phone schreiben und vieles mehr. Dazu müssen Sie sich nicht immer wieder in neue Programmiersprachen und neue Entwicklungsumgebungen einarbeiten, denn alles ist wie aus einem Guss.
Ich möchte jetzt nicht den Eindruck vermitteln, dass alles ganz einfach ist und Sie demnächst ganz tolle Anwendungen mit den tollsten Features präsentieren können. Dafür ist die .NET-Klassenbibliothek einfach zu umfangreich. Aber Sie können sich darauf verlassen, dass Sie sich nun auf das Wesentliche Ihrer Arbeit konzentrieren können: Sie arbeiten unabhängig vom Typ der zu entwickelnden Anwendung immer in derselben Umgebung, zum Beispiel mit Visual Studio 2019. Sie brauchen sich nicht immer wieder aufs Neue in andere Programmiersprachen einzuarbeiten, sondern können auf gewonnene Kenntnisse aufsetzen. Und Ihnen werden alle Mittel an die Hand gegeben, um auf wirklich einfachste Weise mit fremden Anwendungen zu kommunizieren, wenn sich diese an bestimmten, allgemein anerkannten Spezifikationen orientieren.
Eine Funktionssammlung (eigentlich müsste ich an dieser Stelle richtigerweise von einer Klassenbibliothek sprechen) ist nur so gut, wie sie auch zukünftige Anforderungen befriedigen kann. Dass .NET hier architektonisch den richtigen Weg beschritten hat, beweist die derzeit aktuelle Version 4.7.x.
Genau an dieser Stelle darf ich Ihnen natürlich auch den großen Haken nicht verschweigen, den die ansonsten so hervorragende Umgebung hat: Sie werden mit Sicherheit niemals alle Tiefen von .NET ergründen. Als jemand, der von der ersten Beta-Version mit dabei war, muss ich sagen, dass ich mich immer wieder aufs Neue davon überraschen lassen muss, welche Fähigkeiten in der .NET-Klassenbibliothek schlummern. Verabschieden Sie sich von der Idee, jemals alle Klassen mit ihren Fähigkeiten erfassen zu können. Dafür ist die Klassenbibliothek ist einfach zu mächtig.
1.1.1 Die Zukunft von .NET
.NET lebt, aber das .NET Framework ist mit Visual Studio 2019 in seine letzte Runde eingetreten. Warum das, werden Sie sich an dieser Stelle fragen.
Wie viele Dinge im Leben, bedarf .NET einer Grunderneuerung. Viele Bibliotheken sind veraltet und wurden durch neue Bibliotheken ersetzt. Viele APIs (Programmierschnittstellen) sind obsolet, sollten also nicht mehr verwendet werden. Allerdings wurde bisher der alte »Ballast« immer mitgeschleppt. Zudem hat sich sehr viel in der Welt der Programmierung getan: Neben Windows werden nunmehr auch andere Betriebssysteme wie macOS und Linux von Microsoft akzeptiert. Darüber hinaus dürfen wir nicht übersehen, dass der mobile Sektor in allen Bereichen Einzug gehalten hat: Android hat beispielsweise in Deutschland einen Marktanteil von 71 %, iOS liegt bei ungefähr 25 %. Den Trend zu alternativen Betriebssystemen konnte Microsoft nicht weiter ignorieren. Das äußerte sich einerseits in der Übernahme von Xamarin (ein Tool, mit dem sich Windows-Phone-, iOS- und Android-Apps mit C# entwickeln lassen), aber auch die Einführung von .NET Core. Und damit ist auch bereits das wichtige Stichwort gefallen: .NET Core. .NET Core beschreibt Klassenbibliotheken, die sowohl unter Windows, aber auch unter Linux und macOS lauffähig sind. Gleichzeitig wird der alte Ballast über Bord geworfen, .NET Core ist also schlanker als das .NET Framework.
Welche Konsequenzen wird .NET Core auf die Entwicklung einer Software mit C# ausüben? Die Antwort ist recht...