In seinem Werk ER, das Cassirer 1921 (kurz nach Einsteins Hamburger Vortrag am 17. Juli 1920) über die „Grundlagen der Relativitätstheorie“ in Berlin veröffentlichte, behandelt Cassirer erstmals das philosophiegeschichtliche Problem der erkenntnistheoretischen Sichtweise auf die Kategorien des Raumes und der Zeit vom Standpunkt der neuesten modernen Physik. Im Kapitel „Maßbegriffe und Dingbegriffe“ gibt er einen kurzen Überblick über die Entwicklung der Fragestellung, die seit Kants Antwort auf den Eulerschen Versuch, eine nichtmetaphysische Erkenntnistheorie aus den Naturwissenschaften zu erklären, bis zur Entdeckung der Möglichkeit einer nichteuklidischen Geometrie und der Auflösung der rein mechanischen Physik die Frage nach dem „Wesen“ von Raum und Zeit bestimmt hatte. In Kants Nachfolge, so Cassirer, stehe es bis in die aktuelle und zukünftige philosophische Debatte hinein außer Zweifel, daß die Mathematik und die exakten Naturwissenschaften – an erster Stelle die Physik – der Erkenntniskritik das Material zu liefern haben. Die Relativitätstheorie sei für die neuere Philosophie deshalb vorrangig interessant, weil sie eine bestimmte erkenntnistheoretische Deutung in ihrem Ansatz schon in sich einschließe. Cassirer schreibt:
„Die Gesetze, die Newton und Euler als den völlig gesicherten und unerschütterlichen Besitz der physikalischen Erkenntnis ansahen: jene Gesetze, in denen sie den Begriff der Körperwelt, der Materie und Bewegung, kurz der Natur selbst definiert glaubten – sie erscheinen uns heute nur noch als Abstraktionen, durch die wir im günstigsten Falle einen bestimmten Bezirk, ein fest begrenztes Teilgebiet des Seins beherrschen und in erster Annäherung theoretisch beschreiben können. Und wenden wir uns mit der alten philosophischen Grundfrage nach dem >>Wesen<< von Raum und Zeit an die heutige Physik – so erhalten wir von ihr die genau entgegengesetzte Antwort, als Euler sie vor 150 Jahren erteilte.“[16]
Wenn, so fragt Cassirer sodann bezüglich der Kantschriften Cohens, Kant nichts anderes als der philosophische Systematiker der Newtonschen Naturwissenschaft sein wollte, müßte dann nicht auch seine erkenntniskritische Lehre dasselbe Schicksal wie die Newtonsche Physik erleiden, die mit der Relativitätstheorie ihrer Definition des Raumes als einem absoluten Gegenstand beraubt wurde? Gehen die neuesten physikalischen Ansätze, so Cassirers für das Buch ER programmatische Fragestellung, ebenso über Kant wie über Newton hinaus und wäre derart dem von Kant angestrebten Anspruch der KRV, der Erkenntnistheorie den „stetigen Gang einer Wissenschaft“[17] mit immer nur relativen Halt- und Ruhepunkten zu eröffnen, nicht seine Basis entzogen?
Dieser Fragestellung Cassirers ist in zwei separaten Schritten zu folgen – zunächst ist nach den Veränderungen zu fragen, die dem Raumbegriff Kants in der Reflexion Cassirers auf die Relativitätstheorie als physikalischer Begriff bzw. als aus dieser Naturwissenschaft stammendes Konzept widerfährt. Danach ist zu fragen, wie sich die mathematische Flankierung der Relativitätstheorie, also ihre repräsentative Darstellung in Zahl- und Maßwerten, auf die Fundierung des kantischen Raumbegriffs in der Formenwelt der euklidischen Geometrie auswirkt.
In ER findet sich das Kapitel „Der Raum- und Zeitbegriff des kritischen Idealismus“. Hier formuliert Cassirer erste Ansätze eines Versuchs der Annäherung des philosophischen Denkens an die Erkenntnisse aus der Relativitätstheorie Einsteins und Albert Minkowskis. Gleich am Anfang steht der Verweis, daß diese Theorie
„keinen einzigen Begriff [enthält], der nicht aus den Denkmitteln der Mathematik und der Physik ableitbar und in ihnen vollständig darstellbar wäre. Nur die volle B e w u ß t h e i t über ebendiese Denkmittel sucht sie zu erringen, indem sie nicht nur Resultate der physikalischen Messung darzustellen, sondern auch über die Form jeglicher physikalischen Messung und über ihre Bedingungen prinzipielle Klarheit zu gewinnen strebt. Damit scheint sie freilich in die unmittelbare Nähe der kritisch-transzendentalen Theorie zu rücken, die auf die >>Möglichkeit der Erfahrung<< gerichtet ist; aber sie bleibt nichtsdestoweniger ihrer allgemeinen Tendenz nach von ihr geschieden. Denn in der Sprache dieser transzendentalen Kritik ausgedrückt, ist und bleibt die Grundansicht über Raum und Zeit, die die Relativitätstheorie entwickelt, eine Lehre vom empirischen Raum und der empirischen Zeit, nicht vom reinen Raum und der reinen Zeit.“[18]
Darin stimmt Cassirer mit allen zeitgenössischen Interpreten der Relativitätstheorie, u.a. auch Natorp, überein, daß die vorherrschende Methode der Messung in der Physik keine direkte Übertragung in die transzendental-philosophische Methode, die nach dem Aufbau der empirischen Erkenntnis und der Bedeutung der Begriffe von Raum und Zeit als Erkenntnisquellen fragt, erlaubt:
„Was – wie der Raum und die Zeit – die Setzung von Gegenständen erst ermöglicht, das kann uns niemals selbst als einzelner Gegenstand im Unterschied zu andern gegeben sein.“[19]
Cassirer betont aufs Schärfste, daß der Grundsatz der Transzendentalphilosophie, daß Raum und Zeit nur das Verknüpfungsschema der sinnlichen Wahrnehmung, aber keine „Dinge an sich“ mit eigener Existenz und Daseinsweise sind, von den Ergebnissen der Relativitätstheorie unangetastet bleibe. Von diesem Standpunkt aus zieht Cassirer ein erstes Ergebnis. Er zitiert Einstein, der es als den „Grundzug der Relativitätstheorie bezeichnete, daß durch sie dem Raume und der Zeit >>de[r] letzt[e] Rest physikalischer Gegenständlichkeit<< genommen werde“[20] und sieht gerade hierin den nun durch die empirische Naturwissenschaften geführten Beleg des kritisch-idealistischen Standpunktes Kants erbracht, der ja eben genau darauf abzielte, Raum und Zeit zwar als Ordnungsformen des Geistes, aber nicht als vom Geiste abgetrennte Daseinsdinge zu behaupten.[21] Speziell für die Vorstellung vom „Raum“ spielt nach Cassirer dieser Kerngedanke Kants, neben die Ausgangsbedingung der Relativitätstheorie gehalten, eine entscheidende Rolle, weil gerade das Apriori der Anschauung des Raumes als eine Form des „äußeren Sinns“ (Kant) von einer „Gemeinschaft“, also einem simultanen und parallelen Vorhanden- und Gegebensein von Anschauer und Zu-Anschauendem ausgeht. Cassirer bezieht sich deshalb folgerichtig auf eine Stelle in der „Transzendentalen Analytik“ der KRV, in der Kant eben diese Schwierigkeit, das Zusammen und das Beisammen im Raum gemäß vor- und nachbegrifflichem Denken zu unterscheiden, benennt. Es heißt hier im dritten Abschnitt, in dem es um die systematische Vorstellung der synthetischen Grundsätze des reinen Verstandes geht:
„Das Wort Gemeinschaft ist in unserer Sprache zweideutig, und kann soviel als communio, aber auch als commercium bedeuten. Wir bedienen uns hier im letztern Sinn als einer dynamischen Gemeinschaft, ohne welche selbst die lokale (communio spatii) niemals empirisch erkannt werden könnte. Unseren Erfahrungen ist es leicht anzumerken, daß nur die kontinuierlichen Einflüsse in allen Stellen des Raumes unsern Sinn von einem Gegenstande zum andern leiten können; daß das Licht, welches zwischen unserm Auge und den Weltkörpern spielt, eine mittelbare Gemeinschaft zwischen uns und diesen bewirket und dadurch das Zugleichsein der letzteren beweiset; daß wir keinen Ort empirisch verändern (diese Veränderung wahrnehmen) können, ohne daß uns allerwärts Materie die Wahrnehmung unserer Stelle möglich mache und diese nur vermittelst ihres wechselseitigen Einflusses ihr Zugleichsein und dadurch bis zu den entlegensten Gegenständen die Koexistenz derselben, (obzwar nur mittelbar), dartun kann. (...) Den leeren Raum will ich hierdurch gar nicht widerlegen: denn der mag immer sein, wohin Wahrnehmungen gar nicht reichen, und also keine empirische Erkenntnis des Zugleichseins stattfindet; er ist aber alsdenn für alle unsere mögliche Erfahrung gar kein Objekt.“[22]
Diese von Cassirer zitierte und bearbeitete Stelle aus der KRV belegt auf das Genaueste, wie Cassirer das Ergebnis der Relativitätstheorie auf die Raum- und Zeitlehre des kritischen Idealismus anzuwenden gedachte: Nicht darum habe es zu gehen, daß die Relativitätstheorie die von Kant geforderte synthetische Einheit von Raum und Zeit in der Erfahrung im Ergebnis theoretisch verunmöglicht; sondern darum, daß die Auftrennung der dinglichen Einheit von Raum und Zeit, die aus der Relativitätstheorie folgt, zwar den Fortgang von der räumlichen Ordnung der Körperwelt aus auf das allgemeinere Gesetz der Einheit der Erfahrung als räumlich-zeitliche Einheit versperrt, die „Funktionseinheit“ (Cassirer) von Raum und Zeit, die gerade nicht über die Maßkategorie besteht, aber dadurch gerade erst fundiert (!) wird:
„Ist nicht ebendie Aufhebung der von Kant geforderten...