Kapitel 1
Am 30. Februar … Warum Freiheit nicht immer verantwortliches Handeln nach sich zieht
„Das kann nicht wahr sein! Das ist eine Katastrophe!“ Eine wütende Stimme schallt mir aus dem Smartphone ins Ohr. Und hört nicht mehr auf zu schimpfen: „Von Anfang an war das ein Desaster! Ich hätte nicht gedacht, dass Sie Ihr Unternehmen so wenig im Griff haben! Wo um Himmels Willen ist Ihr Projektleiter? Erklären Sie es mir, Herr Osthus!“
Ich bin in der Schweiz und diskutiere in gepflegter Atmosphäre seit Stunden hochkonzentriert mit Atilla, meinem Freund und Führungsexperten, und einem Beraterteam. Dafür habe ich mir zwei Tage freigeschlagen. Wir wollen expandieren und in den nächsten Monaten sind wichtige Standortentscheidungen zu treffen. Es geht um sehr viel Geld. Es geht um die Zukunft meines Unternehmens.
Doch nun unterbricht mich dieser Anruf eines Kunden aus Norddeutschland und holt mich schlagartig zurück ins Tagesgeschäft. Es geht um die Auslieferung einer Software an diesen Kunden. Etwas muss grundlegend schiefgegangen sein. Darüber besteht kein Zweifel. Im ersten Moment weiß ich gar nicht, wie mir geschieht.
Doch auch im zweiten Moment habe ich der Stimme am Ohr nichts entgegenzusetzen.
„Wir bestellen bei Ihnen Software. Unsere Produktion hängt davon ab. Und dann klappt nichts!“
Es geht weiter und weiter mit Vorwürfen und Anklagen. Ab und zu sage ich etwas, aber mein telefonisches Gegenüber ist nicht interessiert an meinen Antworten. Dass man mir am anderen Ende offensichtlich gar nicht zuhört, ist das einzig Gute an diesem Gespräch. Denn ich habe keine überzeugenden Antworten.
Vor allem kann ich nicht erklären, warum mein Projektleiter heute nicht bei der Auslieferung dabei gewesen ist. Das ist ohne Wenn und Aber ein eklatantes Versäumnis, denn bei einer Auslieferung kann es immer mal ein Problem geben. Probleme sind zum Lösen da – aber ein Projektleiter kann das nur tun, wenn er auch vor Ort ist …
So langsam steigt hinter meiner Ohnmacht die Wut auf. Nicht auf den Kunden, sondern auf meinen Projektleiter. Eigentlich sollte ich mich um die Unternehmensstrategie kümmern. Doch stattdessen werde ich mit Vorwürfen für die Arbeit meines Projektleiters konfrontiert.
Irgendwann ist das Gespräch zu Ende. Ich bin erschöpft und fühle mich hilflos. Was kann ich tun? Ich bin rund 700 Kilometer Luftlinie entfernt vom Ort des Geschehens.
Ich starre vor mich hin, Atilla fragt, was los sei. Ich antworte, wir hätten ein Problem und mein Projektleiter sei nicht vor Ort. Ich müsse fahren.
Ich schaute Atilla in die Augen und sah seine Enttäuschung. Fliegen konnte ich nicht mehr, es war zu spät. Ich ließ das Geschehene dann erst einmal sacken, ging raus in den Garten und wählte die Nummer des Projektleiters. Aber jetzt kam erst das Schlimmste. Ausreden, Ausreden, Ausreden: Es sei völlig unnötig, dass er vor Ort sei, er könne ja sowieso nichts machen. In dem Moment wurde es still in mir und ich merkte, wie in mir ein innerer Tsunami entstand. Innerhalb von Millisekunden kippte meine Enttäuschung in Wut und Aggression und ich schrie ins Telefon. Vorbei war es mit der Contenance. Der Abend war gelaufen, ich konnte mich nicht mehr auf das Gespräch konzentrieren. Ich ging früh ins Bett, konnte aber nicht schlafen, die Gefühle – eine Mischung aus Verzweiflung, Wut und Hilflosigkeit – ließen mich einfach nicht los. Am nächsten Morgen saß ich beim Kunden. Ich war zurückgeflogen aus der Schweiz. Anders als gedacht, ging es an diesem Tag also nicht um den neuen Standort, sondern darum, beim Kunden wieder ein Standing zu erhalten.
Und so saßen wir dann zu zehnt am Tisch und ich gab wirklich alles, um die Fronten aufzuweichen. Am Nachmittag besorgte ich Kuchen. „Wo nichts mehr hilft, da hilft Schokolade …“ – ich wusste gar nicht, wo ich das her hatte. Irgendwie klappte es und die Stimmung wurde besser. Der Projektleiter hatte es schließlich auch hierher geschafft. Und tatsächlich hatte er bei der Problemlösung gute Vorschläge. Und das war nun wirklich typisch für ihn. Eigentlich ist er ein bewährter Problemlöser in der Firma. Deswegen war er auch zu diesem Projekt hinzugestoßen, als sein Vorgänger auf dem besten Wege gewesen war, an der komplexen Aufgabe zu scheitern.
Ja, das Projekt war kurz vor dem Abgrund gestanden, doch dann kam er und hat es aus der Krise geführt. Er hat die Fähigkeit, Dinge zu retten. Er hat überhaupt sehr viele Fähigkeiten. Vor allem ist er ein extrem guter Technologieexperte.
Angesichts der schwierigen Ausgangslage hat er einen guten Job gemacht. Das erkenne ich auch an, ohne Wenn und Aber. Nur was die Auslieferung betrifft – das machte mich fassungslos. Bei der Auslieferung des Produkts dabei zu sein ist eine Selbstverständlichkeit. Wie kann er sich erlauben, bei diesem ohnehin schon angespannten Kunden nicht anwesend zu sein, wenn wir ins Ziel steuern? Interessiert ihn das denn nicht?
Es war ein unendlich langer Tag. Am Ende klappte es schließlich doch noch, Lösungen zu finden und die Auslieferung zu retten. Spät in der Nacht komme ich nach Hause. Ich bin wirklich müde. Und es sind nicht nur die vielen Gespräche, die mir in den Knochen stecken. Nein es sitzt tiefer: Ich habe es satt! Nicht nur bei diesem Projekt, sondern grundsätzlich: Ich habe keine Lust mehr, die Kohlen aus dem Feuer zu holen. Es ist wie ein Mantra in meinem Kopf. Ich möchte den Tag erleben, an dem die Mitarbeiter an die Gesamtverantwortung denken und nicht nur an ihren Teil. Wann arbeiten sie wirklich selbstständig? Ohne mich. Wird es diesen Tag geben?
Meine innere Stimme meldet sich zu Wort. Sie klingt ironisch. Sie klingt geradezu gemein: „Torsten, gewiss wird dieser Tag kommen. Und ganz gewiss wird es der 30. Februar sein.“ Denn dieser steht im Gegensatz zum 29. niemals im Kalender.
Warum nur klappt es so schlecht, etwas vollständig weiterzugeben? Etwas vollständig erledigt zu bekommen? Sich um nichts mehr kümmern zu müssen? Ist Verantwortung für die Mitarbeiter ein unmögliches Geschäft? Oder liegt es an unserer Erwartung als Führungskraft, dass ein Mitarbeiter Verantwortung übernimmt für etwas, das er noch gar nicht sehen kann?
Das große Ganze
Das, was ich da erlebt habe, erlebt jeder Chef, der seinen Mitarbeitern Verantwortung geben will – nur in unterschiedlicher Intensität. Egal, ob es die Entwicklung, die Administration oder der Vertrieb ist, der Punkt ist immer der: Sie geben Ihrem Mitarbeiter eine Aufgabe – und am Ende machen Sie es selbst. Es ist wie mit einem Bumerang. Eine Zeitlang haben Sie die Hände frei, aber dann kommt zurück, was Sie delegiert haben. Und dann hat es noch mehr Wucht. Ist so richtig akut. Wirft Sie aus allem heraus, was es eigentlich zu tun und erledigen galt. Sie werden zum Feuerwehrmann.
Aber warum ist das so? Warum nur klappt es so schlecht, Aufgaben vollständig weiterzugeben und sie vollständig erledigt zu bekommen? Also nicht zu 80 oder 90 Prozent, nein, wirklich zu 100 Prozent. Zumal Plan K ja auch nicht gewollt ist.
Plan K wie Kontrolle. Und das ist kein guter Plan. Sie wissen doch: Wenn Sie zu viel vorgeben und zu viel kontrollieren, dann sind die Mitarbeiter eingeschüchtert. Deswegen geben Sie ihnen ja gerade Freiheit! Warum also übernehmen sie nicht die volle Verantwortung? Wollen sie denn lieber kontrolliert werden?
Zwar hat jeder Mitarbeiter seinen Bereich gut im Griff, aber oftmals fehlt der Blick, die Verantwortung für das Ganze. Das Problem dabei ist, dass die Teile für den Kunden erst dann einen Wert erhalten, wenn das Ganze zusammengefügt ist und der Kunde das funktionierende Endprodukt in den Händen hält. Solange die Mitarbeiter Stückwerk abliefern und keine Verantwortung für das Ganze übernehmen, ist ihr Einsatz viel weniger wert. Wenn der Abschluss nicht funktioniert, wird alles wertlos, was Mitarbeiter vorher geleistet haben. Das ist bei Menüs so, das ist bei Konzerten so, das ist bei einer Rede so – und bei Software auch. Das verbockte Ergebnis ist das, was schlussendlich in den Köpfen der Kunden und Führungskräfte hängenbleibt.
Warum denken manche Mitarbeiter nicht daran? Warum denken viele nur an ihren Teil, doch nicht daran, dass am Ende das Gesamtergebnis zählt?
Viele Führungskräfte, die ihren Mitarbeitern mehr Freiheit und Verantwortung gegeben haben und damit gescheitert sind, fühlen sich von ihrem Team im Stich gelassen und ziehen nach den ersten bitteren Erfahrungen die Zügel wieder an. Sie stellen kleinteilige Regeln auf, statt über eine generelle Geschäftspolitik zu führen, die klar besagt: „Eine Rechnung ist geschrieben, wenn das Geld auf dem Konto ist“, also ein bestimmtes Ergebnis erzielt ist. Sie sagen ihren Leuten von nun an nicht nur, was zu tun ist, sondern wieder genau, wie Projekte zu laufen haben. Dann eben doch die „Mikro-Kontrolle“. Die Kandare eng nehmen, die Leute streng führen. Immerhin haben sie es ja versucht: Sie haben den Mitarbeitern vertraut. Das hat nicht funktioniert. Dann müssen die Freiheiten eben wieder beschnitten werden. Selber schuld.
In der Tat, ich finde diese Reaktion nachvollziehbar. Ich habe ja selbst schon so reagiert. Der Wunsch nach Kontrolle ist etwas zutiefst Menschliches. Dahinter steht das tief sitzende Bedürfnis nach Orientierung und Sicherheit. Die Ursache dessen ist leicht erklärt, dem Chef fehlen Vertrauen und Zutrauen in seine Mitarbeiter.
Der Preis von zu viel Kontrolle ist jedoch, dass die persönliche Entfaltung, die Entwicklung aller Beteiligten auf der Strecke bleiben. Im Extremfall führt der Wunsch...