Rin in die Kartoffeln!
Vor einigen Jahren besuchte ich im Winter als Mitglied einer Gruppe von Journalisten einen Industriebetrieb in der französischen Provinz. Stolz gab die Firmenleitung bekannt, dass es sich um eine der weltweit größten Produktionseinheiten von vorfrittierten Tiefkühl-Pommes frites handelt. Unsere Führung war unbestritten sehr aufschlussreich, denn sie gab Einblicke in die Art des Denkens und Handelns der Ernährungsindustrie. Als Erfahrung jedoch war sie mehr als unangenehm. Während des gesamten Verarbeitungsprozesses verfolgte ich das Fließband – über mehrere Kilometer. Inmitten des nervtötenden metallischen Lärms beobachtete ich, welche Qualen die Kartoffeln vom anfänglichen Waschen bis zum abschließenden Verpacken erleiden mussten. Mich verletzten die leeren Blicke der Arbeiter, die ununterbrochen auf die vorbeiziehenden Kartoffeln starrten. Hier und dort breiteten sie mechanisch ihre Hände aus, um die »Unregelmäßigen« einzusammeln, die den installierten Kameras entgangen waren – und dies tun sie acht Stunden am Tag, dreihundert Tage im Jahr, viele Jahre lang, bis zu ihrer Rente …
Beim Verlassen dieses Purgatoriums war ich traurig und seelisch erschöpft. In diesem Moment beschloss ich, nie wieder industriell verarbeitete Kartoffeln zu essen. Zu meinem Glück befand ich mich aber wenige Monate später im Kartoffelmuseum in München, wo mir dank der wunderbaren, umfangreichen Sammlung die große Liebe offenbart wurde, die die Menschen aller Völker und Hautfarben mit der Knolle verbindet. Genau in jenem Augenblick erwachte in mir der Wunsch, mehr über die Geschichte dieses Gemüses zu erfahren, das, wie wir ohne Übertreibung sagen können, unsere Welt verändert hat. Also begann ich alles zu studieren, was mir über die Kartoffel in die Hände fiel, und nach den Spuren zu suchen, die sie im Laufe der Zeit und im Leben der Menschheit hinterlassen hat. So erkannte ich bald, dass sich ihre Geschichte aufgrund ihres vielen Auf und Ab wie ein Roman liest: Sie war die Grundlage für das Überleben der armen Indianer und wurde irgendwann zu einer botanischen Kuriosität für Könige und Kardinäle. Sie wurde als Speise der Revolution gepriesen, aber auch von multinationalen Konzernen als Quelle des Reichtums verehrt. Gleichzeitig ist sie es auch, die Heinrich Heine einmal sagen ließ:
»Warum die Rose besingen, Aristokrat?
Besing die demokratische Knolle, die das Volk nährt!«
Sie ist es auch, die die Macht hat, als banaler Snack in Kombination mit verblödenden Fernsehprogrammen, die Menschen in »couch potatoes« zu verwandeln. Für mein Leben wählte ich das, was zu mir passt, und beim Schreiben der folgenden Seiten wurde ich von einem einfachen Kartoffelesser zu einem glücklichen Kartoffelsinnigen. Als ich schließlich erfuhr, dass die jährliche Weltproduktion an Kartoffeln einen viel höheren Wert hat als alles Gold, das die Spanier aus den Palästen der Indianer raubten und in den Bergwerken abbauten, verstand ich, dass die bescheidene Kartoffel in Wirklichkeit der Schatz ist, nach dem die Konquistadoren Pizzaro und Cortez gesucht hatten.
Die Kartoffel
Am dritten Tag der Reise
kam ich vom Pfad der Inkas ab
und schlug mich in den Anden herum,
als ich in wachsender Panik
an einer Hügelflanke unterhalb der Schneegrenze
einen Bauern traf, der auf den Weg deutete.
»Machu Picchu allá«, sagte er.
Er wusste, wohin ich wollte.
Aus meinem Gepäck zog ich eine Orange.
Sie schien Feuer zu fangen
in diesem hohen blauen Andenhimmel.
Ich gab sie ihm.
Er hatte in einem Garten gegraben,
einige Haufen Erde umgedreht,
einige merkwürdige, unförmige Klumpen,
einige Kartoffeln.
Er überreichte mir eine,
eine Kartoffel von der Größe der Orange,
die aussah, als wäre sie in der Erde
seit hundert Jahren.
Eine Kartoffel trug ich bei mir,
bis ich schließlich hinunter starrte
auf das Urubamba-Tal.
Gipfel stiegen aus dem Dschungel
in die Wolken,
und dort in den Nebeln
war der Sonnentempel,
und die verlorene Stadt der Inkas.
Nun zurückblickend,
all diese Jahre später,
war das,
woran ich mich am meisten erinnere,
was mir am meisten bedeutet,
der Bauer,
alleine auf seiner Hügelflanke,
der mir eine Kartoffel gab.
Eine Kartoffel mit ihrem rustikalen Antlitz,
ihren Beulen und Mondkratern,
eine Kartoffel, die genau in meine Hand passte,
eine Kartoffel, die mir beim Wandern Trost spendete,
mir sagte, ich solle mich nicht fürchten,
mich nahe an der Erde hielt,
die Kartoffel, die ich in dieser Nacht in einen Topf legte,
die Kartoffel, die ich hoch über Machu Picchu kochte,
die geduldige, knorrige Kartoffel, die ich aß.
(Joseph Stroud aus »Country of Light«)
Hoch aus den Anden …
In den Höhenlagen der Anden, in dem vom Wind gepeitschten Landstrich, wo einst die Inkas herrschten und es den barbarischen europäischen Eroberern gelang, sie innerhalb weniger Jahre zu vernichten, entstand irgendwann eine liebliche Geschichte über eine unglückliche Liebe. Viele Jahrhunderte lang reiste sie herrenlos durch die Zeit, bis sich jemand entschied, sie niederzuschreiben. Hört also diese Geschichte:
Eine Jungfrau, die dem Sonnengott geweiht war, liebte einst einen armen Ackerknecht. Natürlich wussten beide, dass diese Liebe verboten war. Aber ihre Liebe war so stark, dass sie den Fesseln, die ihr Leben einschränkten, zu entkommen versuchten. Der König geriet in großen Zorn und sandte Soldaten auf die Spuren des Mädchens, das den heiligen Eid gebrochen hatte. Die Verfolger brauchten nicht lange, um sie und ihren Gefährten zu finden. Den Befehlen des Sonnengottes gehorchend, begruben sie die beiden gemeinsam bei lebendigem Leibe. Viel Zeit war jedoch noch nicht vergangen, als eine große Dürre das Land heimsuchte. Felder vertrockneten, Bäume verdorrten und Flüsse trockneten aus. Nur auf dem Grab der zwei Liebenden ergrünte die Erde. Angesichts des verzweifelten Volkes überredeten die höheren Priester den König, das Grab der zu Unrecht Verurteilten zu öffnen und das Paar zu verbrennen, um anschließend ihre Asche zu verstreuen und das Unheil abzuwenden. Als sie jedoch das Grab aushoben, fanden sie nichts außer einer dicken Wurzel, die sich teilte und vermehrte. Alle sahen nun, dass Pachamama, die allmächtige Göttin der Erde und der Fruchtbarkeit, die harte Strafe des Königs in ein Geschenk für ihre Kinder, die Menschen, verwandelt hatte.
Auf diese Weise also wurde die Kartoffel erschaffen. Ihre Bedeutung war für die Inkas so groß, dass sie auch die Kartoffelgottheit Axomama verehrten, deren Gestalt mit den charakteristischen Kartoffelaugen wir heute in unseren Museen begegnen – auf Tongefäßen verewigt. Die Fruchtbarkeit und die Bewahrung des Lebens sind weibliche Kräfte. Deshalb werden alle heiligen Handlungen, die mit Axomama in Verbindung gebracht werden, aber auch das Einlegen der Kartoffeln in die Erde und die Kartoffelernte, ausschließlich von Frauen verrichtet.
Die Macht des Inkareichs stützte sich in hohem Maße auf die Kartoffel, da diese – zusammen mit Mais und Bohnen – die Ernährungsgrundlage der (in ihrer Blütezeit) zwanzig Millionen Angehörigen dieses Volkes bildete. Als sehr bedeutend für das Überleben der Menschen erwies sich die Eigenschaft der Kartoffel, sich in ein entwässertes und sehr leichtes Produkt verwandeln zu lassen, das »chuños« genannt wird und eine frühe Form der heute weit verbreiteten gefriergetrockneten Nahrung darstellt. Die Herstellung ist einfach und bis heute gleich geblieben: Nach der Ernte werden die Kartoffeln am Boden ausgebreitet und für zwei oder drei Nächte draußen liegen gelassen, bis sie völlig gefroren sind. Anschließend werden sie mit nackten Füßen gut zerstampft, sodass das gesamte Wasser austreten kann. Danach werden sie bis zu zwei Wochen der starken Sonnenstrahlung ausgesetzt, damit sie vollkommen trocknen.
Neben den »chuños« gibt es noch eine schneeweiße Variante, »tuntas« genannt. Bei diesem Herstellungsverfahren werden die Kartoffeln nach dem Gefrieren in Säcke gefüllt und ungefähr einen Monat lang in den Fluss gelegt, bevor sie der Sonne zum Trocknen überlassen werden. Danach sind sie sehr leicht, aber steinhart. In dieser Form behalten sie über viele Jahre hinweg die Fähigkeit, sobald sie in Wasser gekocht werden, den Speisen bei Hochzeiten, Taufen und anderen Festen die begehrte herbe Würze zu schenken.
Heute wissen wir, vor allem Dank der siebenjährigen Forschung sowjetischer Forscher, die in den 1920er Jahren die Andenketten auf einer Länge von sechstausend Kilometern durchkämmten, dass die ersten essbaren wilden Kartoffeln in der Region um das heutige...