2 Störungstheorien und -modelle (S. 24-25)
Die bisherige wissenschaftliche Auseinandersetzung mit chronischen Erschöpfungszuständen ist durch andauernde Spekulationen über deren Ätiologie gekennzeichnet, ohne dass es bislang gelungen ist, eine unikausale Ursache nachzuweisen oder einen allgemein anerkannten Konsens zwischen psychologischen und medizinischen Störungsmodellen zu erreichen. Das im Folgenden vorgestellte Störungsmodell ist deshalb ausdrücklich integrativ, d. h. bio-psycho-sozial. Zur besseren Verständlichkeit soll ein multidimensionales Störungsmodell anhand eines Fallbeispiels (siehe Kasten) beschrieben werden.
Fallbeispiel 2: Entstehung und Verlauf chronischer Erschöpfung – Ich habe eine chronische Virusinfektion!
Patient: Seit vier Jahren bin ich jetzt chronisch erschöpft, d. h. ich bin natürlich nicht nur erschöpft, ich habe auch starke Halsschmerzen, meine Lymphknoten sind oft geschwollen und mir tun nach Anstrengungen immer so die Gelenke und die Muskeln weh. Ich habe sehr viel über meine Krankheit im Internet gefunden, jetzt weiß ich wenigstens, dass es nichts Psychisches ist, sondern organisch. Leider ist das den meisten Ärzten nicht bekannt, so dass ich immer gegen deren Unwissen kämpfen muss.
Therapeut: Das muss ja sehr anstrengend für Sie sein. Bevor wir aber über die Ursachen sprechen, möchte ich ein wenig mehr über die Umstände erfahren wie das Ganze entstanden ist und wie der Verlauf seitdem war.
Pat: Das ist eine lange Geschichte …
Th: Ich würde mir gerne die Zeit nehmen, es ist wichtig, dass genau anzusehen.
Pat: Also, im Herbst 1998 habe ich mich selbstständig gemacht und so ab Januar 1999 fing es an. Zuerst dachte ich, dass es nur eine normale Grippe ist, ich hatte Halsschmerzen, starken Schnupfen und auch Fieber. Ich bin dann nicht zum Arzt, weil man ja nicht wegen jeder Grippe zum Arzt geht. Es ging dann auch wieder besser, aber seitdem hat sich was verändert. Ich war abends immer sehr müde und ging oft schon früh ins Bett, so gegen 21 Uhr. Eine Woche später fing es dann richtig an, ich war total fertig, auf der Arbeit konnte ich mich nicht mehr konzentrieren und ich hatte den ganzen Tag hohe Temperatur. Ich bin dann zum Arzt und der sagte, ich solle ins Bett und mal für eine Woche Pause machen. Das ging aber nicht, da wir im Geschäft gerade einen großen Auftrag hatten, da konnte ich nicht einfach fehlen. Ich habe dann Aspirin genommen und abends Vitamin C. Die Zeit war die Hölle, ich hab mich dann über vier weitere Monate gequält. Eigentlich war das nur Arbeiten und Schlafen.
Komischerweise gab es zwischendrin noch einige Tage, an denen es mir fast gut ging. Ich dachte dann immer, jetzt bin ich über den Berg, und hab dann versucht, die verschwendete Zeit aufzuholen, ich konnte mich ja nicht einfach hängen lassen! Leider habe ich mich da getäuscht, der Körper hat immer wieder zurückgeschlagen. Es war zum verrückt werden. Dann habe ich im Internet nachgesehen. Ich war total erstaunt, dass es so was wie das chronic fatigue syndrome (CFS) gab, dass hat mir ja keiner vorher gesagt! Ich habe dann auch im Internet einen spezialisierten Arzt gefunden. Da bin ich dann hin und der hat mir sofort gesagt, dass ich CFS habe. Er hat mir dann eine Therapie empfohlen, aber die Krankenkasse wollte das nicht zahlen und deswegen habe ich es nicht gemacht. Hätte ich es doch nur, dann ginge es mir bestimmt heute besser. Mein Hausarzt meinte, CFS gäbe es nicht, ich müsse halt mal einen Gang runterschalten und mehr entspannen. Auf der Arbeit gab es dann immer mehr Probleme, oft konnte ich nichts mehr machen. Im Juni wurde ich krankgeschrieben. Das war ein echter Schlag, ich war ja sonst der, der immer alles machte und da war, wenn es mal brannte. Es ging mir nicht gut. Meine damalige Freundin hatte dann auch mal bald genug, man kann es ja fast verstehen, ich war nicht mehr der, den sie von früher kannte. Meist stand ich erst gegen 11 Uhr auf, schon beim Zähneputzen musste ich mich auf den Boden setzen, so schwach war ich. Hunger hatte ich eher wenig, nach dem Frühstück ging es mir richtig schlecht und ich wurde total müde. Ich musste mich dann oft wieder hinlegen. Es war schrecklich, man kann sich das nicht vorstellen. Ich war ja immer ein Arbeitstier, alle dachten bestimmt, ich wäre faul, dabei hätte ich meinen rechten Arm für meine alte Energie gegeben. Die Krönung ist natürlich, dass mir niemand glaubt.
Th: Bitte sagen Sie mir, wenn es für Sie zu anstrengend wird. Sie haben ja gerade den Beginn beschrieben, wie ging es weiter?
Pat: Ja, wie ging es weiter? Gar nicht, würde ich sagen. Es blieb so. Anfangs konnte ich von meinem Erspartem leben, später habe ich mich in die Mühle der Berentung begeben. Nach vielen hin und her bekam ich die Diagnose „Depression". Das hat mich echt aufgeregt, aber ich habe lernen müssen, auch bittere Pillen zu schlucken. Lange Zeit ging nichts, ich habe mich mit den rechtlichen Streitereien wegen der Berentung rumgeschlagen, es gab so viele Gutachten, dass war der Horror. Jetzt lebe ich davon, eher schlecht als recht.
Th: Und wie sieht Ihr Leben heute aus?