a) Erscheinungsformen und -orte des Schmerzes
Dem Ort des Schmerzgeschehens misstrauen
Wenn wir irgendwo am Körper einen Schmerz spüren, gehen wir in aller Regel davon aus, dass genau an dieser Stelle etwas nicht in Ordnung ist, und versuchen das Problem dort zu lösen. An der Hautoberfläche geht das an manchen Stellen recht gut (Finger, Gesicht), an anderen Stellen schlechter (Rücken). Je tiefer wir den Schmerz im Körper verspüren, umso schwieriger wird die Identifizierung der genauen Stelle. Rückenschmerzen werden in einer grossen Fläche wahrgenommen, die den eigentlichen Ursprung und das Zentrum nicht mehr erkennen lässt. Die Kolik, ausgelöst durch einen kleinen Stein in der Mitte des Körpers, der den Harnleiter an einer winzigen Stelle verschliesst, wird wie eine Explosion in einer ganzen Rückenhälfte wahrgenommen.
Um der Ungewissheit über das exakte Geschehen zu entkommen, legen wir uns mittels unserer Vorstellung und unseres vermeintlichen Wissens eine Erklärung zurecht: Wenn wir glauben, die Ursache liege in der Wirbelsäule, dann werden wir »spüren«, dass hier der Ausgangspunkt ist. Wenn wir eher auf einen Nerv tippen, dann beschreiben wir den vermuteten Nervenverlauf.
Auch die meisten Spezialisten konzentrieren sich in der Schmerzbehandlung auf die Stellen, wo der Patient seine Schmerzen angibt und suchen dort nach der Ursache. Das ist für den Betroffenen überaus überzeugend. Denn schliesslich können die Ärzte mit ihren hoch technisierten Geräten diesen Ort genau untersuchen, so das allgemeine Vertrauen.
Das Schmerzgeschehen ist aber viel komplizierter. Die Annahme, dass da, wo’s weh tut, auch ein Schaden vorliegen muss, ist viel zu einfach. Und sie führt zu unnötigen diagnostischen Massnahmen und häufig auch zu unsinnigen Therapien. Oft genug bringen dann auch teuerste Operationen und Medikamente nicht nachhaltige Linderung, wie viele von Ihnen sicher schon erfahren haben. Denn der Ort des Auftritts des Schmerzes ist selten der Ort des eigentlichen Geschehens.
Schmerz ist etwas Diffuses
Es ist auch nicht einfach, den Schmerz genau zu beschreiben. Was die eine Person als spitz beschreibt, benennt eine andere als grell oder brennend. Die meisten haben Schwierigkeiten, das auszudrücken, was sie spüren, und sie quälen sich um eine geeignete Formulierung.
Erstaunlich dagegen ist, wie viele Menschen gute Pantomimen sind, denn wenn ich jemanden einfach dazu auffordere, »zeigen Sie mir, wo Sie den Schmerz spüren und wie er aussieht«, dann versteht eigentlich jeder, was damit gemeint ist. Die lebhafte und verzerrte Mimik des Gesichtes, die plötzlich verbogene Haltung des Körpers und nicht zuletzt die sehr beredt sprechenden Hände und Finger erklären in Sekunden den Schmerz, den man in Minuten verbal nicht auszudrücken vermag. Offensichtlich gibt es einen Widerspruch im Gehirn zwischen gefühltem und logisch erklärbarem Schmerz. Das könnte unsere Sprachunsicherheit und Blockade erklären, wenn wir versuchen, irgendwie einen Schmerz zu beschreiben.
Schmerzen sind schlecht zu erklären und oft auch nicht genau zu lokalisieren
Schmerzerfahrung kann je nach Situation ganz verschieden sein. Wenn Sie besonders aufgeregt oder angespannt sind oder sich ganz konzentriert auf einen Punkt fixieren, dann nehmen Sie eine kleine Verletzung wahrscheinlich gar nicht wahr. Bei einer anderen Gelegenheit löst dasselbe Ereignis einen heftigen Schmerz aus. Es geht aber noch drastischer. Einige von Ihnen wissen aus eigener Anschauung, wie im Trancezustand oder unter Hypnose ein Schmerz nicht gespürt wird, oder wie eine Akupunktur deutlich die Schmerzen lindert.
Die Kraft der Samurais
Es geht auch alleine mit der Kraft des Geistes. Ist es nicht unglaublich, wie sich ein Samurai beim Harakiri konzentrieren kann und sich innerlich ablenkt? Er schneidet sich bei vollem Bewusstsein langsam seine Eingeweide durch, ohne eine Miene zu verziehen. Das vermag nur jemand, der sein Gehirn völlig umkonditionieren kann.
Schmerz kann angenehm sein
Auch ist nicht jeder Schmerz unangenehm. Jeden Tag wende ich zur Linderung der Schmerzen eine Technik zur Verkürzung der Muskelfasern an (wird später beschrieben S. → ff.). Zu Anfang der Behandlung kann das richtig wehtun. Eine Kaskade verschiedener Empfindungen geht los. Es beginnt mit einem heftigen Schmerz. Dann entspannt sich das Gewebe, wird lockerer und der Schmerz lässt ein wenig nach. Bald hat der Patient das Gefühl, sich an den Schmerz zu gewöhnen. Und dann sehr häufig der Kommentar von dem Betroffenen: »Ja, das tut gut« – »Das ist ein richtiger Wohlfühlschmerz«. Ab jetzt wird der Schmerz akzeptiert und aufgenommen und zum Schluss sogar als Erlösung begrüsst.
Einen lustvollen Schmerz können wir auch in höchster Ekstase erleben. Hier verschwimmen die Gegensätze und werden gar eins. Wieder ein Beispiel für die Modulation der Schmerzempfindung im Gehirn.
Die akute Verletzung fordert sofortige Ruhigstellung…
Unmittelbar während und nach einer Verletzung empfinden wir gewöhnlich den Schmerz am heftigsten. Das zwingt uns dazu, sofort, die verletzte Stelle eine Zeitlang ruhigzustellen. Danach nimmt der Schmerz im Allgemeinen kontinuierlich ab und wird erträglich. Das ist bei allen Säugetieren so.
Sehen wir uns eine Szene in der Savanne an. Ein Löwe jagt eine Antilope. Er setzt zum Sprung an. Die Antilope macht einen Haken, so dass der Löwe sie nicht voll, sondern nur mit einer seiner scharfen Klauen an einem ihrer hinteren Schenkel erwischt. Noch bevor die Pranke des Löwen wieder den Boden berührt, ist das Hinterbein der Antilope angezogen und gelähmt. Sofort setzt die Blutgerinnung ein. Das ganze Glied wird praktisch abgekapselt, weniger durchblutet und immobilisiert.
Nicht nur der Teil mit der Wunde wird lahmgelegt, sondern, besonders wichtig, auch der Gegenmuskel. Hier schmerzt es, oder genauer: Hierhin projiziert das Gehirn den Schmerz. Denn es muss auf alle Fälle jede mögliche Bewegung verhindert werden. Und das kann nur der Gegenmuskel initiieren. Gut möglich, dass der Löwe zu träge ist, einen weiteren Jagdversuch zu unternehmen. Dann rast die Antilope, so gut es geht, auf drei Beinen weiter und kuriert die Wunde in ihrem Versteck. Ihr Bein wird sie allmählich wieder mehr bewegen können. Je nach Heilungsverlauf braucht es Tage dazu.
Schmerz hat die wichtige Funktion, uns zu warnen. Ohne ihn könnten wir nicht überleben,
… es sei denn, anderes ist wichtiger
Allerdings, nicht einmal bei einem starken Trauma ist die Schmerzreaktion zwangsläufig. Es gibt gravierende Verletzungen ohne jeglichen akut gefühlten Schmerz. Zwei Beispiele:
In der Schlacht vor Landshut im Jahre 1504 verlor der für ein deftiges Goethe-Zitat bekannte Ritter Götz von Berlichingen seine Hand. Er beschreibt das in seiner Autobiografie so: »… und wie ich so dahin sehe, da hängt die Hand noch ein wenig an der Haut, und der Spiess liegt dem Pferd unter den Füssen. Da tat ich so, als kümmerte ich mich nicht darum und wandte das Pferd ruhig um und kam ungefangen von den Feinden weg zu meinem Haufen.« Also seine eigene abgeschlagene Hand, die gepanzert vor ihm im Dreck lag, hat den Ritter so wenig beeindruckt, dass er sich in dem Gefecht seelenruhig zu seinen Leuten durchgeschlagen hat. Erst danach kamen die Schmerzen. Götz weiter lapidar: «Was ich in dieser Zeit (noch Monate danach) für Schmerzen erlitten habe, das kann sich jeder selbst gut vorstellen.«
Hier noch eine andere, ähnliche Episode, diesmal aus dem Zweiten Weltkrieg. Die Alliierten landen südlich von Rom in Anzio. An einem Brückenkopf explodiert eine Granate. Einem Soldat wird der halbe Arm abgerissen. Er registriert nichts davon. Er kämpft weiter und versucht mit allen Mitteln aus der Hölle herauszukommen. Er schreit seinen Kameraden noch einen Befehl zu und rennt hinter die nächste Deckung. Bis zu 5 Minuten, so wird berichtet, kann es dauern, bis eine verletzte Person realisiert, was geschehen ist.
Meistens allerdings blockiert das Gehirn jede weitere Bewegung sehr schnell, noch bevor die Verletzung bewusst registriert wird, auch beim Menschen. Besonders bei blutenden Wunden kann dadurch die Gerinnung sofort einsetzen und die Blutung stoppen. In dem Mass, in dem die Wunde oder die Entzündung heilt, wird man sich wieder stärker bewegen können. Der Körper weiss ganz genau, zu lange ohne Bewegung führt mehr und mehr zu einer Verkürzung des Gewebes und damit zu weiterer Unbeweglichkeit. Das soll von Anfang an möglichst vermieden werden.
Das normale ärztliche Vorgehen ist zunächst ganz ähnlich: Verband, Ruhigstellung, eventuell sogar mit einer Gipsschiene. Die elegante Technik der Natur aber, der zunehmenden Beweglichkeit im Heilungsverlauf gerecht zu werden, können wir (noch?) nicht nachahmen. In diesem Punkt ist uns die Natur haushoch überlegen.
Chronischer Schmerz hat eine Warnfunktion, die er allerdings nicht immer ausübt. Schmerz bedeutet also nicht »Es ist etwas kaputt« Aber auch anders herum gibt es keine Sicherheit. Zerstörte Gelenke und Knochen müssen keine Schmerzen aussenden
Wir basteln uns unseren eigenen Schmerz
Dem Gehirn geht es, so lässt sich aus den obigen Beispielen schlussfolgern, nicht in erster Linie darum, eine Information über eine Verletzung oder einen Schaden weiterzuleiten, sondern seine oberste Aufgabe ist es, den Körper zu schützen. Es geht ihm darum, immer die beste Lösung für den jeweiligen Moment zu finden. In den beiden geschilderten Extremsituationen war es für die verletzten Männer wichtiger, beweglich zu bleiben und...