In der griechischen Mythologie hat jeder und alles einen zuständigen Gott. Die Zeit hat sogar zwei: Weit über die Grenzen Griechenlands hinaus bekannt ist Chronos, der für den Ablauf der Zeit und die Lebenszeit verantwortlich zeichnet. Er lebt noch heute im Chronometer, in der Chronologie der Ereignisse und – als Bad Boy – in chronischen Krankheiten weiter. Kairos, der Gott des günstigen Zeitpunkts einer Entscheidung, ist hingegen eher unbekannt. Dargestellt wird der jüngste Sohn des Zeus mit einer einzigen Haarlocke an der Stirn, dem Symbol für die gute Gelegenheit, die ergriffen werden soll, sobald man ihm begegnet. Ist der günstige Zeitpunkt verstrichen, lässt sich Kairos am kahlen Hinterkopf nicht mehr festhalten: Die Chance ist vertan. Doch ein Gott wäre kein guter Gott, wenn er den Menschen nicht die Hand reichen würde: In der linken hält Kairos deshalb eine Waage, um für uns die Zeit zu messen, die Wertigkeit des Moments; in der rechten trägt er eine Klinge, um die hinderlichen Bindungen zur Vergangenheit zu kappen und uns damit den Weg in eine bessere Zukunft frei zu machen, hinein in eine neue Dimension des Jetzt, in eine Zeit mit einer höheren Wertigkeit. Chancen bietet Kairos wahrlich allen, aber nur die Aufmerksamen sind in der Lage, die Vorzeichen wahrzunehmen, um diese Chancen dann auch tatsächlich als solche zu erkennen. Nur die Wachsamen bemerken, wann die Zeit für Veränderung reif ist. Kairos symbolisiert also die Qualität der Zeit, die Relevanz eines jeden einzelnen Augenblicks, während Chronos der Quantität der Zeit ein Gesicht gibt.
Wenn wir an Chancen denken, denken wir gleichzeitig auch an die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich uns überhaupt bieten. Denn nur wer die Chance auf Erfolg geboten bekommt, kann am Ende auch tatsächlich Erfolg verbuchen. Wir leben in dem Glauben, dass wir alle Chancen unter Berücksichtigung ihrer Wahrscheinlichkeiten mathematisch berechnen können, doch wir handeln nicht danach. Am Ende macht diese Inkonsequenz („Nach neunmal Rot muss doch jetzt endlich Schwarz folgen!“) nur die Spielcasinos reich. Kein Wunder, dass wir verwirrt sind, denn nicht nur im Englischen und Französischen ist mit dem Begriff „chance“ in erster Linie das deutsche „Glück“ gemeint. Der Begriff „Gelegenheit“ wird damit nur am Rande erfasst.
Wahres Glück ist seltener als Gold und immer auch eine Frage der Perspektive, die oftmals einen völlig falschen Blickwinkel bietet und das Ergebnis in logischer Konsequenz nicht nur optisch verzerrt. Wir reden zum Beispiel vom Glück der späten Geburt oder vom Glück, eher auf der Sonnenseite des Lebens oder auf der Nordhälfte von Mutter Erde geboren zu sein. Dass wir unsere Geburt nicht einem glücklichen Zufall, sondern dem Liebesglück und der daraus resultierenden Zeugungsbereitschaft unserer Eltern verdanken, wird bei aller Liebe zur Dramaturgie nur allzu gern übersehen.
Erfolg. Aus der Not geboren – mit Weitsicht realisiert.
Werfen wir einen kurzen Blick auf die Entstehungsgeschichte der Allianz Arena, direkt an der A 9 in der Fröttmaninger Heide gelegen, deren Baukosten sich auf rund 346 Millionen Euro summierten.
Der Anfang im Jahr 2000 war alles andere als rosig: Weil Günter Behnisch, der Architekt des Olympiageländes, sein Veto einlegte, konnte der mit Blick auf die Fußball-WM 2006 anvisierte Umbau des Olympiastadions zu einem WM-tauglichen Fußballstadion nicht umgesetzt werden. Zumindest nicht nach den Vorgaben der beteiligten Fußballvereine, die eine moderne Lösung ohne Leichtathletikbahn anstrebten. Die von der Stadt seit Jahren favorisierte Lösung war somit plötzlich vom Tisch – und die prestigeträchtige Teilnahme Münchens am FIFA World Cup 2006 in akuter Gefahr.
Ein Jahr später gingen die Rivalen FC Bayern München und TSV 1860 München eine historische Allianz ein: Sie gründeten gemeinsam eine Gesellschaft, die den Bau eines neuen, hochmodernen Stadions zum Gegenstand hatte – eine Lösung, die nach positivem Bürgerentscheid mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit umgesetzt werden konnte. Der Entwurf der Baseler Architekten Herzog & de Meuron, die auch für die 2017 in der Hamburger HafenCity eröffnete Elbphilharmonie verantwortlich zeichneten, machte das Rennen – und wurde vom österreichischen Baukonzern Alpine zügig umgesetzt. Die vom Stadtrat genehmigte Infrastruktur wurde parallel installiert, sodass den Bauherren die Arena am 30. April 2005 mehr als rechtzeitig übergeben werden konnte. Zu diesem Zeitpunkt stand bereits aufseiten der FIFA fest, dass sowohl das Eröffnungsspiel als auch fünf weitere Spiele der WM 2006 in der neuen Arena ausgetragen werden sollten.
Die Allianz Arena München Stadion GmbH, 100%-ige Tochter der FC Bayern München AG, ist mittlerweile alleiniger Eigentümer der Immobilie. Auch weil die Allianz AG 2014 Aktienanteile am FC Bayern im Wert von 110 Mio. Euro erworben hatte (adidas war bereits 2002 mit 75 Mio. Euro, Audi 2010/11 mit 90 Mio. Euro eingestiegen), konnten die Baukredite bereits im Jahr 2014 getilgt werden – etliche Jahre vor Ende der ursprünglich kalkulierten Laufzeit.
“Warum die optimale Lage wählen, wenn man sie auch selbst erschaffen kann?”
Doch warum ausgerechnet Fröttmaning? Aus mehr als einem Dutzend Vorschläge kristallisierten sich damals zwei Favoriten heraus: Fröttmaning und das ZHS-Gelände (Zentrale Hochschulsportanlage gegenüber dem Olympiapark), wobei der ZHS-Standort aufgrund der vorhandenen Infrastruktur die besseren Karten hatte. Fröttmaning machte am Ende das Rennen, obwohl die erforderliche Infrastruktur mit rund 200 Mio. Euro zu Lasten der Stadt zu Buche schlagen sollte. Einer der Gründe für die Entscheidung: die befürchteten Auseinandersetzungen mit den Anwohnern im Olympiadorf, die Protest gegen das Bauwerk angekündigt hatten. Weil die Zeit drängte und zeitfressende Klagen nicht ins Konzept passten, wurde das Projekt im Norden Münchens aus dem Boden gestampft – und damit ein Glücksfall für den FC Bayern und die Stadt München, denn dort konnten sämtliche Register einer modernen Planung gezogen werden – ohne Rücksicht auf beschränkende Aspekte jeglicher Couleur.
Mit diesem Beispiel lässt sich anschaulich beweisen, dass zum Zeitpunkt einer Entscheidung für einen Standort nicht die Lage entscheidend ist, denn sonst hätte man alles auf die Karte ZHS setzen müssen. Man ist einen anderen Weg gegangen: Man hat die optimale Lage nicht gewählt, sondern erschaffen. Mit ihrer Entscheidungsfindung haben die Bauherren Weitsicht bewiesen – und für Fußballfans aus aller Welt und die eigene Bilanz langfristig das Optimum bereitgestellt.
Alles nur Zufall?
Bereits Aristoteles war sich ziemlich sicher: „Zur Wahrscheinlichkeit gehört auch, dass das Unwahrscheinliche eintritt.“ Doch das Attribut „Zufall“ verpassen wir gern nach Gutdünken. So war es schließlich schon immer: Der eigene Misserfolg wird gern Pech genannt, der Erfolg der anderen in der Rubrik „reiner Glückstreffer“ kategorisiert. Uns allen begegnen im Leben günstige Gelegenheiten, aber viele haben nicht die Gabe, diese Gelegenheit auch als solche zu erkennen – oder nicht den Mut, im richtigen Moment beherzt zuzugreifen, um den Ball nach einem beherzten Solo im Netz des Erfolgs zu versenken.
Mit dem Glauben an den Zufall ist das übrigens so eine Sache. Die meisten Ereignisse, die wir uns sonst nicht erklären können, bezeichnen wir als Zufälle, weil wir nicht genügend Informationen besitzen, um uns das Geschehen als logische Folge aufeinander aufbauender Ereignisse bewusst zu machen. Wenn uns die Jugendliebe just in dem Moment anruft, in dem wir an sie denken, sind wir erstaunt über die göttergleiche Macht des Zufalls. Nicht erstaunt waren wir hingegen in den abertausenden Momenten, in denen wir in den Jahrzehnten davor an sie gedacht haben – und in denen sie nicht angerufen hat. Genauso verhält es sich mit den Glückstreffern im Fußball, denn nur allzu gern wird dem Zufall nicht vorhandenes Erklärungspotenzial zugeschrieben: Geht der Ball von Innenpfosten zu Innenpfosten und dann ins Netz, nachdem der Schuss kurz zuvor von einem Verteidiger minimal abgelenkt wurde, sprechen wir von einem Zufallstreffer. Dass dem Schützen das in seiner langen Karriere schon hundert Mal passiert ist, er aber immer das Pech hatte, dass der Ball nach dem zweiten Pfostenkontakt die Torlinie nicht überquerte, wird bei solchen Betrachtungen gern außer Acht gelassen.
Die Hand Gottes des Kraken Paul, der bei der WM 2010 beeindruckende Vorhersagen getroffen hatte, hat es anschaulich bewiesen: Ob ein Ereignis – mag es auch noch so selten und beeindruckend sein – reiner Zufall ist oder nicht, erklärt der gesunde Menschenverstand. Wenn wir es ihm denn erlauben.
Gelegenheit macht Liebe
Kairos lebt. Und das nicht nur in der Psychologie, wo „Kairophobie“ für die Angst steht, Entscheidungen fällen zu müssen. Zum Beispiel die Entscheidung, eine sich bietende Chance blitzschnell beim Schopf zu packen. Kairos, die göttliche Gelegenheit, ist immer und...