Warum »Transformation«?
Alles Lebendige verändert sich fortwährend
Leben bedeutet Veränderung. Wir werden geboren, werden älter und sterben schließlich – der normale Zyklus des Lebens. So gut wie alle regulativen Vorgänge in der Natur unterliegen diesen Zyklen. »Panta rhei»– alles fließt, wussten schon die alten Griechen. Das Einzige, was in der Welt sicher ist, ist die Unsicherheit, die Veränderung. Alles verändert sich fortwährend, wandelt seine Gestalt, passt sich an, tritt ein in die ewigen Wechselläufe der Evolution. Von den philosophischen Schulen über den Naturforscher Charles Darwin bis zu den Astrophysikern unserer Tage, die Sternen bei Geburt und Tod zusehen, ist die Erkenntnis der steten Veränderung eine Grundlage unseres Weltverständnisses.
Das Erkennen dieser transformationalen Muster ist laut Darwin unerlässlich für das Überleben einer Art: »Intelligence is based on how efficient a species became at doing the things they need to survive.«1 Nach Darwin zeigt sich in der Anpassungsfähigkeit von Tier und Mensch seine Intelligenz, die Fähigkeit zu überleben. In einer komplexen Gesellschaft wie der unseren gehört zu solch einem »Erkennen« nicht nur die Dynamik des eigenen Lebens. Wir sind spätestens seit der beginnenden Industrialisierung vor 200 Jahren als Gesellschaften politisch, wirtschaftlich und technologisch so eng miteinander verflochten, dass wir komplexe Systeme des Zusammenlebens – sichtbar in Staatensystemen, Handelsbeziehungen und Kommunikationstechnologien etc. – benötigen und schaffen. Die oftmals zitierte »Globalisierung« unserer Tage ist dabei nur eine Facette, eine neue, größere Spielart der Vernetzung.
Erkennen wir die stetige Veränderung (Transformation) auf allen individuellen, sozialen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ebenen als Tatsache an, so können wir innerhalb dieser Transformationen bedeutende und weniger bedeutende Bewegungen ausmachen. Quasi Haupt- und Nebentransformationen, die mal größere, mal kleinere Wirkungen hervorrufen. So mag eine Urlaubsreise für das weitere Leben von geringerer Bedeutung sein. Die guten und schlechten Erlebnisse am Urlaubsort beeinflussen das eigene Wohlbefinden und dienen im besten Fall als positive emotionale Stärkung. Um einiges mehr wird das Leben durch den Tod einer geliebten Person, vielleicht des Partners, erschüttert. Diese emotionale Transformation geht viel tiefer, sie durchdringt die inneren Schichten unserer Persönlichkeit und stößt intensive Verarbeitungsprozesse an. Am konsequentesten geschieht diese persönliche Transformation in der Begegnung mit der eigenen Sterblichkeit: der Diagnose einer Krebserkrankung zum Beispiel oder eine Nahtod-Erfahrung. In dieser letzten Variante geschieht Veränderung nicht nur im Beobachten des Außen, sondern radikaler in der Veränderung der eigenen Person und der individuellen Weltsicht.
Es geht hier nicht um das Ausschmücken von Horror-Szenarien. Ich will lediglich feststellen, dass es Zeitpunkte und Ereignisse in unserem Leben gibt, die so intensiv sind, dass sie uns als Person – unsere Werte und unsere Einstellung zur Welt – verändern, »transformieren« können. Dies gleicht einer Erschütterung – selbstverständlich auch in der Möglichkeit zum Positiven.
Was nun für den einzelnen Menschen gilt, gilt auch für größere Gruppen, ja ganze Gesellschaften. Beispielsweise ist die größte psychologische Transformation, die Deutschland je erlebt hat, die Herrschaft und der Niedergang des Nationalsozialismus. Diese Transformation war in ihren Ursachen, Dimensionen und Folgen so verheerend und gewaltig, dass ihre Nachwehen noch heute spürbar sind. Immer noch sind wir als Kollektiv mit dem Bewältigen der Vergangenheit beschäftigt, in Form von Büchern, Fernsehsendungen, Denkmälern, Demonstrationen etc. In kleinen gesellschaftlichen und sozialen Nachbeben bearbeiten wir immer noch das Trauma des Nazi-Regimes. Ebenso könnte man den amerikanischen Bürgerkrieg für die USA oder die Atombomben über Hiroshima und Nagasaki als Traumata ansehen, deren transformatorische Wellen immer noch deutlich sichtbar sind.
Bevor ich zu den wirtschaftlichen und psychologischen Transformationen komme, die ich für wesentlich halte, möchte ich dem Leser ein Transformationsmodell vorstellen, dass eine größtmögliche historische und globale Perspektive aufzieht: die Theorie der »Dritten Welle« des Futurologen Alvin Toffler. Diese Theorie halte ich für so bedeutend, dass ich sie hier aus einem der Hauptwerke Tofflers etwas ausführlicher zitieren will. Toffler schrieb sein Buch »Die Zukunftschance« (Originaltitel: »The Third Wave«) 1980 (!), skizzierte darin jedoch bereits soziale und technologische Revolutionen, die erst um die Jahrtausendwende hin zum 21. Jahrhundert einsetzten. Toffler schreibt:
»Die Menschheit steht vor einem Quantensprung. Sie sieht sich konfrontiert mit sozialen Umwälzungen und einem kreativen Umstrukturierungsprozess bisher ungeahnten Ausmaßes. Ohne bisher genau zu erkennen, wohin der Weg führt, sind wir bereits dabei, eine von Grund auf neue Stufe der gesellschaftlichen, technischen und kulturellen Entwicklung zu errichten. Hierin liegt die Bedeutung der Dritten Welle.
1980: Alvin Toffler entwirft seine Theorie der »Drei Wellen«
Im Lauf der Menschheitsgeschichte hat es bislang zwei große Innovationswellen gegeben, die jeweils die zivilisatorischen Charaktermerkmale der vorangehenden Epoche weitgehend vergessen machten. An ihre Stelle rückten neue Lebensformen, die den Menschen aus der Zeit vorher fremd, ja unvorstellbar erschienen wären.
Die Erste Welle, die Agrarrevolution, bestimmte das Leben der Menschen einige Jahrtausende lang. Die Zweite Welle, das Werden der Industriellen Revolution, beanspruchte nur mehr drei Jahrhunderte. Heutzutage geht die Entwicklung noch weitaus schneller vonstatten, und so wird wahrscheinlich die Dritte Welle innerhalb weniger Jahrzehnte über uns hinwegfegen. Wir, die wir den Planeten Erde gerade in diesem explosiven Moment der Erklärung bevölkern, werden daher noch innerhalb unserer eigenen Lebensspanne die volle Wucht des Ansturms jener Dritten Welle zu spüren bekommen.
Familien driften auseinander, die Grundlagen unserer Wirtschaft werden erschüttert, unsere Wertvorstellungen geraten ins Wanken, unser politisches System ist paralysiert: die Dritte Welle trifft jeden von uns. […] Vieles in dieser sich abzeichnenden neuen Gesellschaftsform steht im Widerspruch zur alten, traditionellen Industriegesellschaft. Einerseits hochgradig technologiebestimmt, ist sie auf der anderen Seite antiindustriell.
Diversifizierte, erneuerbare Energiequellen; Produktionsweisen, die das Fließband weitgehend überflüssig machen; neue, die herkömmliche Kleinfamilie ablösende Formen menschlichen Zusammenlebens; die Institutionalisierung dessen, was man als elektronisches Heim bezeichnen könnte; von Grund auf andere Schul- und Verbandsformen: dies alles kommt im Gefolge der Dritten Welle auf uns zu und wird zu einem gänzlich neuen Lebensziel beitragen.«2
Toffler ist kein Hysteriker, im Gegenteil. Sein Werk ist durchdrungen von positivem gestalterischem Willen, einem Appell, die neuen Zeiten kraftvoll anzugehen. In diesem Sinne unterschied er sich auch von manchen Katastrophendenkern seiner Zeit. Was ist nun der Unterschied zwischen Tofflers Modell und meiner Theorie der »Drei Transformationen«?
Toffler argumentiert aus einer globalen Perspektive heraus, historisch wie geografisch. Ihm geht es um die großen Zusammenhänge in der Entwicklung der Menschheit, betrachtet über Jahrhunderte. Dies gelingt ihm lebendig und elegant.
Er analysiert die Dinge auf drei Hauptebenen, der sozialen, der technologischen und der politischen Ebene. Für ihn knüpfen diese drei ein Netz an Dynamiken, das für die großen Transformationswellen in der Geschichte sorgt.
Toffler geht davon aus, dass sich Wellen »überlagern« können, ja müssen. So speise sich eine Menge an politischen, wirtschaftlichen und sozialen Konflikten genau aus diesem Aufeinanderprallen zweier Wellen (Toffler spricht von »Wellenkämmen, die aufeinanderbranden«).
»Meine« Transformationen nehmen dagegen einen schmaleren Ausschnitt der Wirklichkeit ins Visier. Sie sind daher »näher dran« an der Lebensperspektive des Einzelnen und haben dafür einen kleineren Wirkbereich als das Toffler’sche Modell:
Mein zeitlicher Fokus beginnt mit der Industriellen Revolution, nicht wie bei Toffler mit der Agrarrevolution vor ca. 10 000 Jahren. Seine »Erste Welle« (die Agrarrevolution) spielt für meine Überlegungen daher keine Rolle. Die Drei Transformationen, um die es mir geht, spielen sich in einem Zeitraum der letzten 170 Jahre ab, von ca. 1850 bis heute.
Weiterhin konzentriere ich mich auf den Schnittpunkt von wirtschaftlich-technologischer Veränderung und Psychologie. Mit anderen...