1. Auf dem Weg zur Commedia
Am Eingang des 14. Jahrhunderts steht in monumentaler und einsamer Größe das Werk des Florentiner Dichters Dante Alighieri. Seine Commedia hat über Jahrhunderte hinweg die literarische Vorherrschaft Italiens über Europa begründet. Dante ist, vor Petrarca und Boccaccio, der erste der «tre corone», der drei Kronen, die das Trecento, das italienische 14. Jahrhundert, zur frühesten nachantiken Klassik in Europa gemacht haben.
Leben und Werk Dantes sind mit dem Florenz seiner Zeit unauflösbar verbunden. Schon seit Mitte des 13. Jahrhunderts wird das am Ufer des Arno schön gelegene Florenz zu einer der mächtigsten und reichsten Städte der Toskana, die es mit den bevölkerungsreichsten und wohlhabendsten Städten Europas aufnehmen kann. An der Wende zum 14. Jahrhundert ist Florenz eine der Geburtsstätten des europäischen Frühkapitalismus. Aber die Stadt ist nicht nur ein wirtschaftlich blühendes Gemeinwesen, sie ist auch in unablässige Auseinandersetzungen mit den toskanischen Nachbarstädten und im Innern in endlose, blutige Kämpfe zwischen kaisertreuen Ghibellinen und papsttreuen Guelfen verstrickt. Hinzu kommen die wachsenden Konflikte zwischen den zwei guelfischen Fraktionen der ‹Weißen› und der ‹Schwarzen› und nicht zuletzt zwischen den Ständen des Adels, des Mittelstands (popolo grasso) und der niederen Klasse (popolo minuto). Von der gnadenlosen Grausamkeit dieser Machtkämpfe geben die zeitgenössischen Stadtchroniken Dino Compagnis [1] und Giovanni Villanis [2] eine unmittelbare Vorstellung.
Dante Alighieri entstammte einer alteingesessenen Familie des Florentiner Kleinadels und wurde nach dem übereinstimmenden Zeugnis der frühesten Quellen 1365 in Florenz geboren. Über seine Kindheit und Jugend wissen wir erstaunlich wenig. Wenn wir einem verlorengegangenen Brief Dantes glauben wollen, der von Leonardo Bruni, dem Dante-Biographen und Kanzler von Florenz, bezeugt ist, hat Dante in noch jugendlichem Alter auf guelfischer Seite an der Schlacht von Campaldino gegen das ghibellinische Arezzo teilgenommen und sich dabei durch Tapferkeit ausgezeichnet. [3] Brunis Lebensbeschreibung von 1436, die unter den frühen Dante-Biographien wohl die zuverlässigste ist, berichtet auch, dass Dante früh schon Gemma Donati aus der Patrizierfamilie der Donati geheiratet und mit ihr mehrere Kinder gehabt habe. Angeleitet von seinem politischen Mentor, dem Florentiner Kanzler Brunetto Latini – Verfasser eines im Pariser Exil entstandenen Trésor, einer frühen Enzyklopädie in französischer Sprache –, habe sich Dante liebhaberisch enzyklopädischen Studien hingegeben, aber als junger Aristokrat auch geselligen Umgang nicht verschmäht.
Schon seinem dritten Jahrzehnt entgegengehend, entschließt sich Dante, seinem Leben eine festere Gestalt zu geben, und zwar gleichzeitig auf den ganz unterschiedlichen Feldern der Dichtung und der Florentiner Lokalpolitik. Um 1294/95 entsteht gleichsam als Akt der poetischen Selbstermächtigung seine Vita nova, die Geschichte seiner legendenhaften Begegnung mit der schönen, erst neunjährigen Beatrice, die den jungen, ebenfalls neunjährigen Dante schon beim ersten Anblick zutiefst bezaubert.
Dantes Vita nova ist ein entscheidender Schritt über seine Anfänge als Liebesdichter im Kreis der fedeli d’amore (der Getreuen Amors) hinaus, in dem sich eine dichtungsbegeisterte Florentiner Jeunesse dorée zusammenfand. Unumstrittener Mittelpunkt dieser mehr oder weniger begabten jungen Liebesdichter war Dantes Freund und Rivale Guido Cavalcanti, dessen Dichtung alle übrigen fedeli d’amore an lyrischer Intensität und Frische der Bilder weit übertraf.
Mit der Vita nova[4] wagt Dante den Schritt vom einzelnen, für sich stehenden Liebesgedicht zu einer in Stationen gegliederten Liebeslegende, die in den eingestreuten Kanzonen, Balladen und Sonetten ihren Intensitätsfokus hat. Die Liebesgedichte gehen dabei in den Zusammenhang einer Erzählung ein, treten aber gleichzeitig aus diesem Zusammenhang heraus. Die Vita nova ist eine Legende im Wortsinne der schriftlich aufgezeichneten, zum Vorlesen bestimmten Heiligenlegende, welche die Geschichte der vita nova eines Heiligen erzählt, wobei der Anfangspunkt seine plötzliche Erweckung, der Endpunkt sein seliges Sterben ist.
Luca Signorelli, Kopf eines Mannes mit Kappe, vielleicht Porträt des Dante Alighieri, um 1485/90, Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett
Die Form der Legende gewinnt jedoch bei Dante eine grundlegend neue Orientierung. In der traditionellen Legende sind erzählte Instanz, das Leben des Heiligen, und erzählende Instanz, der Legendenerzähler, grundsätzlich voneinander geschieden. Bei Dante ist es der Erzähler selbst, der in dem «libro de la mia memoria» (dem Buch meines Gedächtnisses) die Geschichte seiner Liebe zu Beatrice bereits aufgeschrieben vorfindet. Ihr Anfang lautet ganz wie der Textanfang in einem Codex: «Incipit vita nova» (Hier beginnt mein neues Leben; S. 27f.). Es ist die Arbeit der Erinnerung, die der Liebesgeschichte des Ich die Prägung der ihrer eigenen Wirklichkeit zugehörenden Liebeslegende gegeben hat. Das Ich, dem sich die Liebeslegende verdankt, ist nur der Kopist, der die im eigenen Innern vorfindliche Herzensschrift umkodiert.
Wie die Heiligenlegende kennt auch Dantes Liebeslegende den Versucher, der den Liebenden von seinem Weg abzubringen und in selbstgefährdende Entzweiung zu treiben droht. Amor, der Liebesgott, ist zugleich der unerbittliche, glücksgefährdende Versucher, gegen den der Liebende sich nicht ohne innere Kämpfe und Niederlagen behauptet. So ist die traumhaft entrückte Legende einer wahrhaft wundersamen Liebe, die dem Erzähler als Knaben zuteil wird, zugleich der Seelenroman eines schwankenden, von Amor in immer neue Gefühlsverwirrungen geworfenen Ich. In dieser Geschichte einer Liebe, die jeder alltäglichen Wirklichkeit enthoben ist, gewinnen die der Erzählkonstellation entspringenden Liebesgedichte eine Eigenbedeutung, welche über die Zeitlichkeit ihrer Entstehung hinausreicht. In ihrer Situationsentrücktheit sind sie zugleich Gegenstand des Kommentars durch das Autor-Ich, das aus seiner Erzähler- und/oder Kopistenrolle heraustritt. Mit der kühnen Innovation des Autorenkommentars bezeugt Dante seinen Anspruch, ein Werk hervorgebracht zu haben, dessen literarische Qualität des Kommentars würdig ist.
Mit neun Jahren also begegnet der Ich-Erzähler der gleichfalls neunjährigen Beatrice, die vornehm mit einem blutroten Kleid angetan ist, und erfährt bei ihrem Anblick eine erste, unauslöschliche Liebesregung, die ihn ganz der Herrschaft Amors unterwirft. Genau neun Jahre später erwidert bei einer Zufallsbegegnung die jetzt ganz in Weiß gekleidete Beatrice überaus freundlich den schüchternen Gruß des Erzählers, was ihn in einen Sturm der Beglückung versetzt. In seine Kammer zurückgekehrt, überkommt ihn ein Traum, der mehr und mehr zum Alptraum wird: In einem feuerfarbigen Nebel erscheint ihm eine schreckenerregende Gestalt, die zugleich eine wundersame Heiterkeit ausstrahlt und unschwer als eine Gestalt Amors lesbar ist. In seinen Armen hält er eine nackte, nur mit einem blutroten Tuch umhüllte Frauengestalt, in der Dante die zuvor erblickte Beatrice wahrnimmt. Amors Hand umfasst ein brennendes Objekt, das Dante als sein eigenes Herz erkennt. Darauf weckt die Gestalt die schlafende Beatrice auf und nötigt sie, Dantes Herz zu verzehren. Nun wandelt sich Dantes Fröhlichkeit zu bitterer Klage, und mit Beatrice, die er in seinen Armen umfängt, erhebt er sich zum Himmel.
Dieser enigmatische Traum, Frucht dessen, was Freud Traumarbeit nennen wird, verdichtet sich zum ersten Sonett, in dem sich der Erzähler, schon erfahren in der Kunst des Reims, seinen Dichterfreunden mitteilt, verbunden mit der Bitte, sie mögen ihm seine wundersame Traumvision deuten. Es folgt eine kurze Intervention des Kommentators, der den Aufbau des Sonetts etwas pedantisch erklärt, ehe der Erzähler nicht ohne Stolz von dem großen Echo berichtet, das sein erstaunliches, alle Gepflogenheiten der im Kreis der fedeli d’amore üblichen Liebesdichtung durchbrechendes Traumsonett gefunden hat. Zu den Reaktionen zählt auch die Antwort Guido Cavalcantis, die eine tiefe Freundschaft zwischen den beiden Dichtern begründet habe.
Von nun an steht der Erzähler ganz im Bann jenes mirabile, das von der Begegnung mit Beatrice auszugehen scheint und die Welt des Erzählers ins Traumhafte verwandelt. «Mirabile», wundersam, wird fortan zum Kennwort, das die gesamte Liebeslegende durchzieht. In seiner autobiographischen Erzählung Aurélia, die in einem engen intertextuellen Zusammenhang mit der Vita nova steht, spricht Gérard de Nerval in einer glücklichen Formulierung vom «épanchement du songe dans la vie réelle» (dem Eindringen des Traums in das wirkliche Leben). [5] Auch Dantes Erzählung steht im Sog einer solchen Verwandlung, die zugleich zum Grund einer neuen Dichtung wird.
Schicksalhafte Liebe,...