2. Wie viel Gehirn steckt im Darm?
Das Bauchhirn – dieser Begriff suggeriert nicht zufällig, dass das zweite Nervensystem im Körper ein geheimnisvolles Eigenleben führt. Dort werden, ist in populären Zeitschriften zu lesen, »Erinnerungen« gespeichert, und der »Sitz der Intuition« soll an allen möglichen Entscheidungen beteiligt sein – von der Liebe bis zum Aktienkauf.
Aber was ist wirklich dran an solchen Spekulationen? Dass dem Bauch eine zentrale Rolle zugeschrieben wird, zeigt sich in allen Kulturen der Welt. In Asien zum Beispiel ist die Wahrnehmung der Körpermitte entscheidend für das Selbstbild: Für Japaner etwa ist »Hara« das Zentrum der geistigen und körperlichen Kraft des Menschen. Ein »Mann mit Bauch« steht dort sprichwörtlich für eine gefestigte Persönlichkeit. Und wer den dicken Bauch eines lachenden Buddhas berührt, hofft auf Glück und Segen. Im indischen Ayurveda, der 4000 Jahre alten traditionellen Heilkunst, steht das »Verdauungsfeuer« (Akni) für ein zentrales Lebensprinzip, und Hippokrates nannte eine schlechte Verdauung »die Wurzel allen Übels«. Im Bauch sah die griechische Mythologie aber auch einen Ort der Weisheit: Zeus nämlich sicherte sich den Vorsitz im Olymp der Götter dadurch, dass er Metis, die Göttin des Maßes, überlistete. Er forderte sie auf, ihre legendären Zauberkünste dadurch zu beweisen, dass sie sich in eine Fliege verwandelte. Sie ließ sich provozieren – doch dann wurde sie als Insekt von Zeus verschluckt. Seither weissagt sie aus Zeus’ göttlichem Bauch heraus.
Wie »smart« aber ist der Darm wirklich? Beim Gehirn spielen sich die Debatten um Bewusstsein und Geist zwischen Neurobiologen und Philosophen ab – die Anatomie ist inzwischen gut beschrieben. Seine Arbeit leistet das Gehirn über Elektrizität. So wissen wir zum Beispiel, dass eine rote Rose verschiedene Sinneswahrnehmungen und Erinnerungen auslöst – rot, dornig, duftend, verliebt –, die dann durch eine synchrone Entladung von Nervenzellen im 40-Hertz-Bereich miteinander verknüpft werden. Unser Gehirn formt also einen Begriff der Rose, wenn alle beteiligten Neurone ihr Schwingungsverhalten aufeinander abgestimmt haben. Das beantwortet die Frage, wie eine Wahrnehmung entstehen kann. Nicht aber, wie sie bewusst wird. An diesem Rätsel wird noch gearbeitet.
Auch an der Frage, die dieses Buch wie ein roter Faden durchzieht: Warum verfügt der Mensch über eine zweite Schaltzentrale im Bauch?
Bauchhirn an Kopfhirn …!
Die erste Frage muss sein: Sind die beiden Nervensysteme wirklich so ähnlich?
Sehen wir uns zunächst die Zahlen an: Der Mensch hat 86 Milliarden Nervenzellen im Gehirn, die Maus gerade mal 75 Millionen. Erstaunlicherweise tragen alle Lebewesen eine ähnliche Anzahl an Nervenzellen im Bauch, nämlich je nach Tierart zwischen 100 und 1000 Millionen – mehr oder weniger unabhängig von ihrer Größe –, der Mensch nur wenig mehr als die Maus (Bild 4). Die großen Tiere haben einfach eine geringere Auflösung ihrer Schaltkreise – bei der Maus muss die Peristaltik hingegen auf ganz kleinem Raum organisiert werden, dicht an dicht. Beim Gehirn gibt es schon größere Unterschiede: Menschen tragen 800-mal mehr Nervenzellen im Kopf als im Bauch, das Schwein 20-mal und manche kleinen Tiere haben sogar weniger »Hirn« im Kopf als im Bauch.
Jetzt zur Struktur: Beide Nervenzentren enthalten dieselben Nervenzellen, Neurotransmitter und andere Botenstoffe. Sie sind aber unterschiedlich organisiert: Die Zellen des Bauchhirns kommunizieren nur über kurze Strecken – schon die im Dickdarm wissen nicht, was jene im Dünndarm tun. Das müssen sie auch nicht, weil auf jedem Quadratzentimeter des Verdauungstraktes Hunderte von Sensoren, Motor- und Interneuronen sitzen. Sie sind in Ganglien organisiert, das sind Anhäufungen von Nervenzellen, die sämtliche Funktionen – Wahrnehmung, Kommunikation und Output – ausüben können. Das heißt, in jedem Ganglion sind Motor-, Sensor- und Interneurone gleichzeitig vorhanden. Dadurch kann ein Verlust von Nervenzellen durch eine Verletzung oder Krankheit gut kompensiert werden. Die Kommunikation zwischen verschiedenen Abschnitten des Verdauungstrakts, zum Beispiel zwischen Dickdarm und Magen, verläuft über separate Schaltzentren im Bauchraum (etwa der gastrokolische Reflex), die über Interneurone verbunden werden.
Im Gehirn hingegen sind die Nervenzellen sehr eng gepackt, in spezialisierte Funktionseinheiten (Nuclei) von Nervenzellkörpern, wie zum Beispiel die Amygdala oder das Sprachzentum. Das macht das Gehirn anfälliger nach Verletzungen, ermöglicht ihm aber auch eine sehr dichte Kommunikation zwischen unterschiedlichsten Regionen und in drei Dimensionen – zum Beispiel, wenn das Geruchszentrum eine abgespeicherte Erinnerung wachruft und diese in der Großhirnrinde bewertet wird.
Im Bauchhirn gibt es hingegen nur zwei Funktionseinheiten, die miteinander kommunizieren: den Plexus myentericus (Auerbach-Plexus) und den Plexus submucosus (Meissner-Plexus).
Wie das Gehirn besitzt das neuronale Netz im Bauch eine Barriere gegen schädigende Einflüsse. Im Gehirn ist dies die sogenannte Blut-Hirn-Schranke, die Undurchlässigkeit der Gefäßwände für die meisten Substanzen. Diese Aufgabe übernimmt im Bauchhirn eine Haut, die das Netzwerk umhüllt und schützt. Allerdings lässt sie eine größere Zahl Botenstoffe durch, die über die Blutgefäße angeliefert werden.
Brechen die Barrieren im Bauch- oder Kopfhirn zum Beispiel durch eine Infektion zusammen, können Immunzellen eindringen, die dann zu Nervenentzündungen des Gehirns (Encephalitis) oder des Bauchhirns (Ganglionitis) führen. Insgesamt aber ist das Netzwerk des Bauchhirns so strukturiert, dass es durch die ständige Bewegung nicht geschädigt wird. Das Kopfhirn ist viel empfindlicher gegenüber Erschütterungen (Trauma).
Das Bauchhirn liegt an der Schnittstelle des Körpers, wo sich die Außenwelt – in Form von Nahrung – mit der Innenwelt, dem Stoffwechsel, trifft. Seine Nervennetzwerke reagieren auf jede Veränderung des Milieus im Verdauungstrakt. Das ist wichtig, denn das Bauchhirn kontrolliert in Kooperation mit den zahlreich im Darm vorhandenen Immunzellen, ob Stoffe passieren dürfen – oder aber durch heftigen Durchfall oder Erbrechen aus dem Körper getrieben werden.
Im Gegensatz zum Kopfhirn ist das Bauchhirn ständig in Bewegung – das ist seine wichtigste Funktion. Seine Anatomie aufzuklären, ist deshalb eine besondere Herausforderung. Bildgebende Verfahren leisten hier im klinischen Alltag viel weniger als beim Kopf. Stattdessen nutzt die Neurogastroenterologie Sondenmessungen, vor allem die sogenannte Manometrie (Druckmessung), um die Funktionen des Verdauungstraktes zu testen.
Wie wir bereits gesehen haben vermittelt das eine Netzwerk des Darms vor allem die motorischen (Bewegungs-)Impulse des Verdauungssystems, während das andere, innen unter der Schleimhaut gelegene, vor allem Sekretion und Resorption des Darms überwacht (Bild 6). Beide miteinander gekoppelten Systeme registrieren rund um die Uhr, was in ihrem Umfeld gerade passiert. Diese Informationen werden über Nerven der Darm-Hirn-Achse an das Gehirn gesandt (Bild 1). Aber – davon dringt kaum etwas in unser Bewusstsein. Das Gehirn mischt sich auch als übergeordnete Steuerzentrale kaum ein, wenn es um die Verdauung geht. Deshalb verlaufen auch neunzig Prozent des Datenaustausches afferent, das heißt aufsteigend. Nur zehn Prozent der Signale wandern als Befehle vom Kopf zum Darm.
Das Bauchhirn sorgt dafür, dass die Verdauung in vielen Bereichen autonom verläuft. Wie In-vitro-Versuche (isolierte Darmpräparate in der Petrischale, Bild 7) zeigen, hat das Nerven-Netzwerk in seiner Struktur verankerte Muster, die ihm erlauben, auch ohne Kontakt zum Kopf seine Funktionen den Gegebenheiten anzupassen. Zum Beispiel verlangsamen sich Magenentleerung und Darmtransport, wenn die Speisen Nährstoffe enthalten, um dem Verdauungssystem Zeit zu geben, seine Funktionen zu erfüllen.
Kopfhirn an Bauchhirn!
Wenn ein Lebewesen in Gefahr ist, wird seine Verdauung schlagartig lahmgelegt: Der Blutfluss wird von den inneren Organen abgezogen, um verstärkt das Herz zu versorgen, aber auch die Extremitäten, Beine und Arme, die helfen zu fliehen oder zu kämpfen. Wir selbst sind zum Glück nur noch selten in so einer Situation, doch nehmen wir das Beispiel einer Gazelle: In dem Moment, wo sie die sich anpirschende Löwin wahrnimmt, ergreift sie die Flucht. Ihr Überlebensinstinkt mobilisiert alle Energiereserven in ihr. Stress peitscht ihren Organismus zu Höchstleistungen. Sie hat jetzt keine Zeit, sich um ihre Verdauung zu kümmern, wenn sie nicht ausgeweidet werden will. Das Gleiche gilt für die Löwin, wenn sie erfolgreich jagen will.
Unter Stressbedingungen wird ein Teil des vegetativen Nervensystems, nämlich der Sympathikus, stark aktiviert. Sein Überträgerstoff, das Noradrenalin, lähmt den Verdauungstrakt, da es die aktivierenden Mechanismen im Bauchhirn unterdrückt. Somit werden Magen-Darmbewegung und -sekretion heruntergefahren. Zusätzlich aktiviert der Sympathikus die Ausschüttung des Adrenalins aus der Nebenniere. Adrenalin hat dieselbe Wirkung wie das Noradrenalin.
Stress kann aber auch den gegenteiligen Effekt haben: Jeder von uns kennt das Phänomen des Stressdurchfalls. Der Gastroenterologe Thomas P. Almy hat dazu bereits in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts folgendes Experiment durchgeführt: Er führte eine Enddarmspiegelung bei einem 24-jährigen gesunden Probanden durch und gab noch während der Untersuchung vor,...