Kapitel 2 – Warum greifen wir uns selbst an?
Nach außen hin war Lucy die erfolgreiche Einkäuferin einer Modekette. Doch auf einmal merkte sie, dass sie in einer Sackgasse steckte: Es war drei Uhr nachmittags, und sie saß da und starrte aus dem Fenster. Sie war gestresst und erschöpft und fühlte sich hundeelend.
»Warum komme ich mit meiner Arbeit nicht voran?«, fragte sie sich. »Normalerweise kann ich die paar Zahlen doch im Handumdrehen auswerten. Warum kann ich mich nicht entscheiden? Was stimmt nicht mit mir? Ich bin so müde, dass ich keinen klaren Gedanken fassen kann …«
Seit über einer Stunde hatte sie sich mit solchen Fragen gequält. Davor hatte sie ein langes, ernstes Gespräch mit der Erzieherin im Kindergarten gehabt. Ihre Tochter Emily weinte, als Lucy gehen musste. Dann rief sie noch eben schnell den Installateur an, um nachzufragen, warum er sich noch immer nicht um die defekte Toilette gekümmert hatte. Und jetzt starrte sie auf ein Blatt voll Zahlen, fühlte sich völlig erledigt und stopfte einen Schokomuffin in sich hinein, statt richtig zu Mittag zu essen.
Die Anforderungen und Belastungen in Lucys Leben waren seit Monaten ständig gewachsen. Die Arbeit wurde immer stressiger und zog sich abends in die Länge, sodass sie nie pünktlich Feierabend machen konnte. Nachts konnte sie nicht schlafen, tagsüber war sie dauernd müde. Ihr tat der ganze Körper weh. Es gab keine Freude mehr in ihrem Leben. Schon den Tag hinter sich zu bringen war zu einem Kampf geworden. Es hatte bereits früher immer wieder kurze Phasen gegeben, in denen sie sich ähnlich fühlte, während ihres Studiums etwa, kurz vor Prüfungen, aber sie waren stets vorbeigegangen. Sie hatte nie gedacht, dass dies einmal ein solcher Dauerzustand für sie werden könnte.
Immer wieder fragte sie sich: »Was ist nur aus meinem Leben geworden? Warum fühle ich mich ständig so ausgebrannt? Ich sollte eigentlich glücklich und zufrieden sein. Das war ich doch früher auch. Wo ist das alles geblieben?«
Lucy existiert in einer Schattenwelt der Überarbeitung. Ihr Dasein ist von einem unterschwelligen Gefühl der Verstimmtheit, Unzufriedenheit und Überforderung geprägt. Ihre geistigen und körperlichen Ressourcen sind erschöpft, und seit einiger Zeit empfindet sie sich als zunehmend orientierungslos. Sie sehnt sich verzweifelt danach, mit sich selbst ins Reine zu kommen und ihren inneren Frieden zu finden, aber sie hat keine Ahnung, wie sie dies erreichen soll. Ihre Verstimmtheit und Unzufriedenheit sind nicht so gravierend, dass sie einen Besuch beim Arzt rechtfertigen würden, doch belastend genug, um ihr Leben vieler seiner Freuden zu berauben. Sie vegetiert mehr, als dass sie wirklich lebt.
Lucys Geschichte ist alles andere als ein Einzelfall. Sie gehört zu dem Millionenheer derer, die zwar im medizinischen Sinne weder als depressiv noch als phobisch eingestuft würden, aber dennoch nicht wirklich glücklich sind. Wir alle machen in unserem Leben emotional und kräftemäßig unsere Höhen und Tiefen durch. Oftmals stellen sich solche Stimmungsschwankungen aus heiterem Himmel ein. In einem Augenblick schlendern wir noch frohen Mutes durch die Gegend, hängen unseren Tagträumen nach, sind munter und vergnügt, doch dann kommt es zu einer subtilen Störung, und ehe wir’s uns versehen, fühlen wir erste Anzeichen von Stress. Es gibt zu viel zu tun und zu wenig Zeit, und wir haben den Eindruck, kaum mit unseren Anforderungen Schritt halten zu können. Wir fühlen uns müde und sind selbst dann nicht wirklich erfrischt, wenn wir in der Nacht gut geschlafen haben. Und auf einmal halten wir inne und fragen uns: Wie konnte das nur passieren? Es ist auch gut möglich, dass es in unserem Leben noch nicht einmal irgendwelche größeren Veränderungen gegeben hat. Wir haben weder Freunde verloren, noch wachsen uns die Schulden über den Kopf. Nichts ist passiert, und doch hat sich irgendwie die Freude aus unserem Alltag geschlichen, und an ihre Stelle ist ein allgemeines Gefühl von Verstimmtheit und Lustlosigkeit getreten.
Die meisten Menschen kommen aus dieser Abwärtsspirale von allein wieder heraus. Es sind Phasen, die in aller Regel tatsächlich vorübergehen. Manchmal aber können sie uns tagelang zusetzen oder, wie im Fall von Lucy, auch ganze Wochen oder Monate andauern, ohne dass es irgendeinen ersichtlichen Grund dafür gäbe. Im schlimmsten Fall können solche Stimmungstiefs sich sogar zu einer klinischen Depression oder Angstattacke ausweiten.
Unglück, Stress und Depression
In unserer modernen Welt fordern Depressionen einen hohen Preis. Etwa 10 Prozent der Bevölkerung muss damit rechnen, im Lauf des Jahres an einer klinischen Depression zu erkranken. Die Weltgesundheitsorganisation1 schätzt, dass dieses Krankheitsbild bis 2020 das zweitgrößte Gesundheitsproblem weltweit darstellen wird. Überlegen Sie einmal! In weniger als einem Jahrzehnt werden Depressionen für den Einzelnen wie die Gesellschaft zu einer größeren Bedrohung als Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Arthritis und viele Formen von Krebs!
Depressionen waren einmal eine Krankheit, unter der vor allem Senioren weit jenseits der Lebensmitte litten. Jetzt schlägt sie am häufigsten bei Menschen Mitte zwanzig zu. Eine erkleckliche Anzahl von Patienten erleidet bereits vor dem zwanzigsten Lebensjahr den ersten Schub.2 Auch die Dauer hat sich verlängert. Etwa 15 bis 39 Prozent der Patienten sind nach einem Jahr immer noch depressiv. Zirka ein Fünftel leidet zwei oder mehr Jahre an der Krankheit und erfüllt damit die Definition einer »chronischen« Depression.3 Das Beängstigendste aber ist, dass es bei Depressionen eine hohe Rückfallrate gibt. Wer einmal daran leidet, hat ein 50-prozentiges Risiko, in einen weiteren Schub zu geraten – selbst dann, wenn er als vollständig geheilt galt.
Depressionen mögen einen hohen Tribut fordern, aber auch ihr naher Verwandter, die chronische Angst, tritt mittlerweile mit alarmierender Häufigkeit auf. Die Durchschnittswerte für Ängste im Kindes- und Jugendalter liegen heute auf einem Niveau, das man in den fünfziger Jahren noch als »klinisch« eingestuft hätte.4 Es bedarf keiner großen Fantasie, um sich auszumalen, dass in wenigen Jahrzehnten nicht Freude und Glück, sondern emotionale Verstimmtheit, Depression und Angst zum normalen menschlichen Seinszustand werden.
Erst in den neunziger Jahren und Anfang des 21. Jahrhunderts hat man erkannt, dass im Hintergrund unseres Denkens bestimmte Prozesse ablaufen, die lang anhaltende Phasen der Verstimmtheit und Erschöpfung auslösen, welche aus dem Nichts zu kommen scheinen. Mit diesem neuen Verständnis ging die Erkenntnis einher, dass wir aus unseren Sorgen »heraustreten«, uns aus unserer negativen Grundstimmung befreien und Ängste, Stress, Erschöpfung und sogar Depression loslassen können.
Unser sorgengeplagter Geist
Hätte man Lucy gefragt, wie sie sich fühlte, als sie vor ihrem Computer saß und auf den Bildschirm starrte, hätte sie wahrscheinlich »erschöpft« oder »angespannt« gesagt. Auf den ersten Blick wirkt das wie eine eindeutige Feststellung von Tatsachen. Hätte sie aber ein wenig genauer in sich hineingeschaut, hätte sie gemerkt, dass es da keine einzige Emotion gab, die man als »Erschöpfung« oder »Anspannung« bezeichnen könnte. Es handelte sich vielmehr in beiden Fällen um »Gedankenbündel« von unverarbeiteten Gefühlen, körperlichen Empfindungen und Impulsen (etwa dem Wunsch, loszuschreien oder aus dem Raum zu stürmen). Genau das ist es, was wir unter Emotionen verstehen: Sie sind wie eine Hintergrundfarbe, die entsteht, wenn wir im Kopf all unsere Gedanken, Gefühle, Impulse und Körperempfindungen miteinander verschmelzen, sodass daraus ein umfassendes Leitthema beziehungsweise eine geistige Verfassung entsteht (siehe das Diagramm »Was macht eine Emotion aus?«). All diese unterschiedlichen Elemente bauen aufeinander auf und können dazu führen, dass sich unsere Stimmung hebt oder senkt. Wir haben es hier mit einem hochkomplexen Tanz von subtilen Interaktionen zu tun, den wir erst langsam zu verstehen beginnen.
Nehmen wir zum Beispiel unsere Gedanken. Wir wissen seit Jahrzehnten, dass sie unsere Stimmungen und Emotionen beeinflussen, aber erst in den achtziger Jahren stellte sich heraus, dass dieser Prozess auch in umgekehrter Richtung funktioniert. Unsere Stimmungen können Einfluss auf unsere Gedanken nehmen. Machen Sie sich das einmal klar. Ihre Stimmungen können Ihre Gedanken in eine bestimmte Richtung lenken. Das heißt in der Praxis, dass wenige flüchtige Momente der Traurigkeit genügen, um Ihre Sicht der Dinge und Ihre Interpretation der Welt zu färben. So wie der Anblick eines wolkenverhangenen Himmels bisweilen unsere Laune verdüstert, kann eine momentane Traurigkeit beunruhigende Gedanken und Erinnerungen zum Vorschein bringen, die unsere Negativität verstärken. Gleiches gilt auch für andere Stimmungen und Emotionen. Sind wir gestresst, liefert dieser Stress Nahrung für weiteren Stress. Und mit innerer Unruhe, Angst, Ärger und »positiven« Emotionen wie Liebe, Glück, Mitgefühl und Empathie verhält es sich nicht anders.
Was macht eine Emotion aus?
Emotionen sind »Gedankenbündel« von Gefühlen, Körperempfindungen und Handlungsimpulsen. Wenn Sie das nächste Mal irgendwelche angenehmen oder unangenehmen Emotionen empfinden, schauen Sie doch einmal, was in Ihrem Inneren passiert. Bestimmt fällt Ihnen dann auf, wie die einzelnen Aspekte miteinander...