Orientierung finden
Die Lebensprinzipien beherzigen
C. G. Jung ging davon aus, dass die erste Lebenshälfte der Natur vorbehalten ist und die zweite der Kultur. Im Gegensatz zu anderen Lebewesen wie Tieren erhalten nur wir Menschen dieses Geschenk einer langen zweiten Lebenshälfte. Diesem Gedanken folgend wird deutlich, dass unsere erste Lebenshälfte (nur) die Vorbereitung der zweiten sein kann. Alles läuft auf das Alter hinaus, das wir nach persönlichen Vorstellungen mit Inhalten füllen und gestalten können. Das wird angesichts der heute steigenden Lebenserwartung, die eigentlich Alterserwartung ist, umso wichtiger.
Was wirklich wächst, ist die Zeitspanne ab der Lebensmitte und damit die Zeit der Reife und des Alters. Auf den damit verbundenen hohen Stellenwert des Alters sollten wir uns vorbereiten. In der klassischen indischen Kultur sah man dafür ein Modell vor, bei dem das Leben wie das Jahr geviertelt und in vier Quadranten zu jeweils 21 Jahren unterteilt wird. Demnach umfasst der Frühling die Kindheit und Jugend mit den Themen Säen und Lernen. Der Sommer ist die Aufbauzeit im Leben bis zum Alter von 42 Jahren. Im dritten Quadranten, dem Herbst, geht es um Ernte und Absicherung des Lebenswerks, die Übergabe von Verantwortung(en) und Pflichten, um sich mit 63 von der geschäftigen Welt zurückziehen zu können. Der vierte Quadrant, der Winter des Lebens, steht im Zeichen des Rückzugs und der Ruhe. Dieser Lebensabschnitt sollte dann der inneren Einkehr und spirituellen Entwicklung und Vollendung gewidmet sein.
Zwar ist anzumerken, dass im modernen Indien im Zuge des gewaltigen Umbruchs von einer traditionellen in eine Industriegesellschaft auch dieses Ideal von Lebenskultur verfällt und rasch vergessen wird. Aber es mag uns dennoch weiterhin Orientierung bieten und dazu inspirieren, dem Alterselend zu entkommen, indem wir nicht länger verleugnen, dass das Alter Ziel des Lebens ist und spezifische Aufgaben an uns stellt. Diese zu lösen könnte die natürlichste Sache der Welt sein, und es wird uns wie wenig anderes bereichern.
Die zentrale Lernaufgabe des heute meist negativ als grau empfundenen und erfahrenen Alters ist die Aussöhnung mit jenem Grau(en). Ergreifen wir also eine weitere Gelegenheit, uns mit dem Alter konstruktiv auseinanderzusetzen und den Tod als Gewissheit und Chance eines Übergangs in eine andere Welt zu erkennen – in eine geistige Welt, von der alle Traditionen und Religionen Positives zu berichten wissen. Die Kenntnis und praktische Anwendung archetypischer Lebensprinzipien ist nach meiner Erfahrung die wichtigste Grundlage für diesen persönlichen Entwicklungsprozess und für unser Heilwerden.
Um die Welt in ihrer unglaublichen Vielfalt zu verstehen, ist es hilfreich, sie in Kategorien zu unterteilen. Die naturwissenschaftliche Welt entwickelte beispielsweise das Periodensystem der Elemente (nach Mendelejew), das heißt, alle Materie auf dieser Erde besteht aus dessen etwas über 100 Elementen oder Urprinzipien. Naturwissenschaftlern gibt dieses System Sicherheit. Für unsere Persönlichkeitsentwicklung und Lebensorientierung kann die Lehre von den zwölf Lebensprinzipien, wie wir sie archetypisch im Tier- oder Entwicklungskreis dargestellt finden, in spiritueller Hinsicht Perspektive und Geborgenheit bieten.
Diese Lebensprinzipien spiegeln Urmuster der Seele wider, sogenannte Archetypen, ein zentraler Begriff im Werk von C. G. Jung. Bei unserer psychotherapeutischen und beratenden Arbeit stützen wir uns auf diese zwölf Archetypen, auch Lebensprinzipien oder -bühnen genannt, derer sich schon Paracelsus bediente. Sie lassen sich leicht überschauen: Basis der zwölf ist die Polarität. Dass es die beiden Pole weiblich und männlich (Anima und Animus oder Yin und Yang) gab, war den Menschen wohl immer klar aus dem Erleben ihrer gegensätzlichen Geschlechtlichkeit. Aus dieser Polarität ergaben sich die beiden weiblichen Elemente Wasser, das Fließende, und Erde, das Strukturgebende, sowie die männlichen Elemente Feuer, das Begeisternde, und Luft, das Beflügelnde.
Jedes dieser vier Elemente, mit denen sich die Welt schon besser, aber noch nicht ausreichend beschreiben lässt, wird weiter in drei Entwicklungsstufen eingeteilt. Zum Beispiel das Element Feuer: Hier erleben wir das lodernde stürmische Feuer des Anfangs, das sich auf der ersten Lebensbühne des Aggressionsprinzips (im Tierkreis durch Mars und Widder symbolisiert) zeigt, das strahlende Feuer des Sonnenprinzips (Löwe) der fünften Lebensbühne und die innere Glut der neunten Lebensbühne des Wachstumsprinzips (Jupiter/Schütze). Ganz ähnlich lassen sich die anderen drei Elemente in drei Stufen unterteilen, und so ergeben sich: vier Elemente mal drei Entwicklungsstufen gleich zwölf Lebensprinzipien oder -bühnen.
Im Laufe des Lebens werden alle zwölf Lebensbühnen, wie wir sie im Tierkreis (Zodiak) dargestellt sehen, wichtig. Das heißt,
- die ersten drei – 1. Mars/Widder, 2. Venus/Stier, 3. Merkur/Zwillinge – sind dem eigenen Körper gewidmet.
- Thema der nächsten drei – 4. Mond/Krebs, 5. Sonne/Löwe, 6. Merkur/Jungfrau – ist die Seele.
- Bei 7. Venus/Waage, 8. Pluto/Skorpion und 9. Jupiter/Schütze geht es um das Du, die Partnerschaft und den Geist.
- Der letzte Abschnitt mit den Lebensbühnen 10. Saturn/Steinbock, 11. Uranus/Wassermann und 12. Neptun/Fische entspricht dem Transpersonalen und unserer Bestimmung.
Im Alter haben wir uns mit diesen letztgenannten drei Lebensprinzipien und ihren Themen zu beschäftigen. Genauer gesagt, die zehnte Lebensbühne (Saturn) verlangt von uns, zum Wesentlichen zurückzukehren. Hier wacht der Hüter der Schwelle, der von uns erwartet, alles Unwesentliche, das nicht wirklich zu uns gehört, hinter uns zu lassen.
Die elfte Lebensbühne (Uranus) verlangt nach Entpolarisierung; das heißt, wir dürfen erkennen, dass jeder Pol und sein Gegenpol nur die zwei Seiten ein und derselben Medaille sind. Und spätestens hier darf auch Humor ins Leben einfließen. Wir werden dann die Fähigkeit entwickeln, über uns selbst und den eigenen Weg zu schmunzeln und schließlich vielleicht sogar zu lachen.
Auf der zwölften Lebensbühne (Neptun) schließt sich der Entwicklungskreis mit der Entdeckung der Allverbundenheit – dass wir alles in uns tragen und deshalb mit allem ständig in Beziehung stehen. Alle Menschen werden Brüder (wie es in Schillers »Ode an die Freude« heißt); wir erkennen Tiere als unsere jüngeren Geschwister, und die Einheit der fühlenden Wesen wird Wirklichkeit.
In Bezug auf die archetypischen Rollen oder Aufgaben ausgedrückt, begegnen wir auf der zehnten Lebensbühne in der Auseinandersetzung mit dem Saturnprinzip dem Alten Weisen, auf der elften Lebensbühne des Himmelsgottes Uranus dem Alten Narren. Auf der zwölften des Neptunprinzips werden wir mit der Aufgabe konfrontiert, über den alltäglichen Dingen stehend und vielleicht schon schwebend, uns von Weltlichem zu lösen und so die große endgültige (Los-)Lösung vorzubereiten.
Insgesamt betrachtet ist ein erfülltes Leben verwirklicht, wenn wir alle zwölf Lebensprinzipien (an-)erkennen und ihre Themen nicht nur leben, sondern auch von der destruktiven zur konstruktiven, von der unerlösten zur erlösten Seite wandeln. Heilwerden bedeutet, allen zwölf Lebensprinzipien in erlöster Form zu ihrem Recht im Leben zu verhelfen. Das Ergebnis ist jenes erfüllte Leben, das Christus uns ans Herz legt.
Das mag für uns im Alter heißen, mit dem Mut der ersten Lebensbühne zunächst noch einmal der vierten Lebensbühne des Inneren Kindes (Mond/Krebs) Aufmerksamkeit zu schenken und etwa von beleidigter Launenhaftigkeit zum Staunen der großen Augen des Kleinen Prinzen zu gelangen. Dann können wir bewusst die im Tierkreis gegenüberliegende zehnte Lebensbühne (Saturn/Steinbock) betreten und uns von der Angst, Starre und Sturheit im Alter zu Struktur, Klarheit, Ehrlichkeit und Bescheidenheit entwickeln. Wenn wir auf der neunten Lebensbühne zuvor Lebensphilosophie und Sinn gefunden hätten, wäre das eine große Erleichterung. Vielleicht besteht für uns ja auch die größte Herausforderung darin, Originalität und Unabhängigkeit und das Lachen wieder zu lernen (elfte Lebensbühne: Uranus/Wassermann), um letztlich unsere Allverbundenheit zu entdecken (zwölfte Lebensbühne: Neptun/Fische).
Die Zehn Gebote als Lebensstufen
Die Zehn Gebote können wir ebenfalls als Abbild unserer Lebensreise verstehen und daraus viel für den guten Einstieg ins Alter lernen. Jürgen Fliege beschreibt in Die Ordnung des Lebens5, wie jedes Gebot für einen Entwicklungsschritt von sieben Jahren steht. Das erste Gebot ist hierbei für uns, die wir in einer Welt der Polarität leben, das letzte und höchste; das zehnte das uns nächstliegende. Die Zehn Gebote gelten also für unseren Lebens-(Hin-)weg in der umgekehrten Reihenfolge.
Im zehnten Gebot – Du sollst nicht das Hab und Gut deines Nächsten begehren – und im neunten Gebot – Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus – geht es um unsere Gier, die anfangs ganz natürlich ist. Wir haben von Lebensbeginn an Hunger, brauchen ein Nest und verlangen als kleine Kinder schreiend danach. Doch auch als Erwachsene können viele ein Leben lang nicht genug kriegen und bleiben so auf »Anfängerniveau« hängen.
Auf unseren nächsten Entwicklungsstufen sollten wir lernen, nicht (über...