2 Die klassische Definition und Theorie des Archetypenkonzepts bei Jung
Der Begriff Archetyp, in Kombination mit dem Begriff des Kollektiven Unbewussten sowie dem des Individuationsprozesses, ist sicherlich das zentrale Konzept der Analytischen Psychologie Carl Gustav Jungs. Die Archetypen bilden das theoretische Fundament der Jung’schen Psychologie, sie machen ihre Besonderheit gegenüber allen anderen psychotherapeutischen Schulen aus, und bedingen im Grunde die spezifische Vorgehensweise in der Psychotherapie mit ihren verschiedenen Methoden der Traumdeutung, Arbeit mit Bildern und anderem symbolischem Material, der aktiven Imagination usw. Das Konzept der Archetypen war – neben persönlichen Konflikten – ein hauptsächlicher Grund für die theoretischen Differenzen und den nachfolgenden Bruch zwischen Freud und Jung und markieren den Beginn der Ausformulierung von Jungs eigenem psychologischen Theoriegebäude.
2.1 Definition
Der Begriff Archetyp lässt sich am besten mit dem Wort Urbild übersetzen. Diese Urbilder, so nimmt Jung an, gehören quasi zur Ausstattung der menschlichen Psyche (Jungs eigene Publikationen zum Konzept des Archetypus finden sich hauptsächlich im Band 9/1 der gesammelten Werke). Archetypen sind Strukturelemente der kollektiven Psyche und geben psychischer Energie eine bestimmte Form, wobei sie selbst unanschaulich und gestaltlos sind. Als selbst inhaltsleere Gestaltungsfaktoren liegen sie vor jeder Erfahrung und präformieren menschliche Vorstellungen, Erleben und Handeln. Archetypen kreisen um die elementaren und allgemeinen Erfahrungen des Lebens wie Geburt, Ehe, Mutterschaft, Tod, Trennung, Krisen usw. Sie haben dabei folgende Merkmale:
1. Nach Jungs Verständnis sind Archetypen angeborene Muster des Erlebens und Verhaltens, die er sich in Analogie zu den Instinkten bei Tieren vorstellt (zur Frage des Angeborenseins der Archetypen siehe ausführlicher Kap. 4.3.1). Sie sind sozusagen apriorischen Formen der Wahrnehmung und Organisationen von Welterfahrung des Menschen, das heißt sie steuern das Erleben des Menschen in seiner Umwelt. Als Beispiel sei hier genannt: ein Kind kann eine Betreuungsperson als Mutter bzw. mütterlich erfahren, nicht nur weil diese Person sich in einer bestimmten Weise verhält, sondern weil im Kind eine Bereitschaft vorhanden ist, die Erfahrung mit dieser Person in einer bestimmten Weise, eben als Mutter, zu organisieren. Hier wird deutlich, dass Jung explizit die Auffassung der behavioristischen Lerntheorie, die zu seiner Zeit im Aufstreben begriffen war und in den folgenden Jahrzehnten praktisch die Herrschaft über die wissenschaftliche Psychologie erlangte, ablehnte, dass nämlich ein Kind eine »Tabula rasa« sei, also eine leere Tafel. Damit ist gemeint, dass das Kind bei seiner Geburt keine spezifischen Eigenschaften oder Vorstrukturierung mitbringt, sondern alles, was die Psyche später ausmacht, durch Erfahrung und Lernen in sie hinein kommt. Hier war Jung dezidiert anderer Auffassung, seine Psychologie markiert sozusagen den Gegenpol zum Behaviorismus. Sein Archetypenkonzept besagt, dass Menschen schon bei der Geburt mit einem umfassenden Wissen sowie einer Art und Weise, wie sie psychisches Erleben organisieren, ausgestattet sind. Diese Ausstattung der Psyche manifestiert sich im Lebensverlauf in typischen menschlichen Verhaltensweisen, z. B. der Tendenz, sich monogam an einen Partner zu binden, dies mit einem Ritus, genannt Heirat, zu formalisieren und auf dieser Basis eine Familie zu gründen. Diese Grundausstattung der Psyche des Menschen führt dazu, dass es bei allen Menschen in allen Völkern zu allen Zeiten typische menschliche Verhaltensweisen, Entwicklungsverläufe, Riten, Symbole und Überzeugungen gibt.
2. Dies ist gleichbedeutend damit, dass Archetypen universell sind, d. h. sie sind kulturunabhängig und finden sich sowohl in den Verhaltensweisen als auch den Überzeugungen und dem innerpsychischen Erleben aller Menschen an allen Orten der Welt zu allen Zeiten in gleicher Form.
3. Nach Jung sind Archetypen stark affektiv aufgeladen, das heißt, wenn wir sie erleben, sind sie mit spezifischen und deutlich spürbaren Emotionen verbunden. Man könnte sogar sagen, dass sie Emotionen strukturieren und kanalisieren. Wenn wir archetypische Erfahrungen machen, erleben wir dies häufig als, wie Jung es nennt, »numinos«, d. h. irgendwie machtvoll, ehrfurchtgebietend, sogar beängstigend. Wir sind auf eine gewisse Weise überwältigt von der Erfahrung und empfinden eine Art Ehrfurcht wie vor religiösen Dingen. Die Erfahrung erscheint uns beeindruckend und übermächtig, ja geradezu übermenschlich. Ein gutes Beispiel dafür ist die in der Einleitung beschriebene Erfahrung der Initiation im Traum meines Klienten, von der sowohl er selbst als auch ich äußerst beeindruckt waren.
4. Die Archetypen sind uns unbewusst, sie kommen aus dem Unbewussten und wirken auch aus dem Unbewussten auf das bewusste Erleben. Jung geht sogar davon aus, dass der Archetyp an sich als solcher für das menschliche Bewusstsein niemals zugänglich ist, nur seine Manifestationen in Form von Bildern, Symbolen und ähnlichem.
5. Archetypen sind autonom, was sich hauptsächlich auf ihr Verhältnis zum Bewusstsein bezieht. Sie sind für das bewusste Ich weder machbar noch steuerbar, sondern entspringen dem Unbewussten, aus dem sie spontan hervorgehen und aus dem sie steuernd bzw. strukturierend auf das Bewusstsein wirken.
6. Archetypen drücken sich häufig in der Form von Symbolen aus, manifestieren sich aber auch in menschlichen Handlungen und Verhaltensweisen, sozialen Phänomenen und anderem. Für eine ausführliche Darstellung des Symbolbegriffs in der Analytischen Psychologie siehe Dorst (2014).
Ein Beispiel ist das Symbol des Kreuzes: Kreuzesdarstellungen finden sich bereits in der Jungsteinzeit; in vielen Kulturen auf der ganzen Welt und in unterschiedlichen Epochen findet sich das Kreuz als ein religiöses Symbol, z. B. bei den Germanen in Form der Swastika (Hakenkreuz, ein Symbol der Verehrung der Sonne), ebenso aber auch in Indien, natürlich als das zentrale Symbol des christlichen Abendlandes, aber auch auf Felszeichnungen der Ureinwohner Australiens. Das Kreuz konnte aber auch außerhalb von Religionen in der Moderne in Form des Hakenkreuzes der Nationalsozialisten Massen ergreifen und Verehrung auslösen. Offenbar drückt sich im Kreuz ein sehr umfassender, ergreifender Inhalt aus, der sich nur schwer in Worte fassen lässt. Genau dies charakterisiert einen Archetyp.
Für die klassische Definition des Archetypus bei Jung muss an dieser Stelle auch hervorgehoben werden, dass in seiner ausdifferenzierten Konzeption Jung Wert darauf legt, dass der Archetyp als solcher inhaltsleer ist und nur eine allgemeine Struktur darstellt, die Inhalte bzw. Information organisiert, man könnte es auch einen allgemeinen Attraktor nennen. Jung benutzt zur Illustration dieses Aspektes das Bild der Kristallstruktur: wenn in einer Lösung sich ein Festkörper herauskristallisiert, so ist die Form oder Gestalt dieses Festkörpers jeweils individuell und einzigartig, auf der molekularen Ebene ist aber das Kristallgitter immer dasselbe. »Ihre Form ist etwa dem Achsensystem des Kristalls zu vergleichen, welches die Kristallbildung in der Mutterlauge gewissermaßen präformiert (der Archetypus per se), ohne selber eine materielle Existenz zu besitzen. Diese Existenz erscheint erst in der Art und Weise des Anschießens der Ionen und dann der Moleküle. Das Achsensystem bestimmt somit bloß die biometrische Struktur, nicht aber die konkrete Form des individuellen Kristalls. … und ebenso besitzt der Archetypus … zwar einen invariablen Bedeutungskern, der stets nur im Prinzip, nie aber auch konkret, seine Erscheinungsweise bestimmt« (Jung GW 9/1, § 95).
2.2 Archetypen im Leben des Individuums
»Archetypische Muster warten darauf, in einer Persönlichkeit verwirklicht zu werden; sie sind unendlicher Variationen fähig und auf individuellen Ausdruck angewiesen. Sie üben eine Faszination aus, die durch traditionell und kulturell bedingte Erwartungen verstärkt wird; so sind sie Träger eines starken und möglicherweise überwältigenden Energiebetrages, dem – abhängig vom jeweiligen Entwicklungsstadium und dem Grad an Bewusstheit – schwer zu widerstehen ist. Archetypen wecken Affekt, machen realitätsblind und Ergreifen Besitz vom Willen. Archetypisch Leben heißt, ohne Begrenzung leben (Inflation). Irgendetwas aber archetypischen Ausdruck zu verleihen, kann eine bewusste Interaktion mit dem kollektiven, historischen Bild bedeuten, die dem Spiel elementarer Polaritäten Raum gibt: Vergangenheit und Gegenwart, persönlich und kollektiv, typisch und einzigartig (Gegensätze)« (Samuels et al. 1991, S. 44).
Mit...