1. TEIL: MONSTER IN DER REALITÄT UND IM VOLKSGLAUBEN
KAPITEL 1
VOM ABERGLAUBEN ZUR TERATOLOGIE
Anfänglich waren menschliche und tierische Monster nur ein Gegenstand des Aberglaubens, mit dem sich die Priester beschäftigten, um in ihnen Zeichen der Götter zu finden. Doch auch die antiken Philosophen und Ärzte suchten nach einer natürlichen Erklärung für die Entstehung solcher Fehlbildungen. Der griechische Philosoph Platon prägte für abnorme Wesen den Begriff „Teratolos“, abgeleitet von dem griechischen Wort „Teras“ für Wunder. Daraus prägte Geoffrey Saint-Hilaire (1772-1844) den Begriff „Teratologie“, die Bezeichnung für die wissenschaftliche Beschäftigung mit anatomischen Fehlbildungen.
Die Zeichnungen von Monstergestalten, meistens Mischwesen zwischen Menschen und Tieren, in den steinzeitlichen Höhlen Europas, deren Alter auf 20.000 – 25.000 Jahre geschätzt wird, sind die ersten Zeugnisse der Faszination, Furcht und zugleich der Verehrung von Kreaturen, denen die Menschen in ihrer Umwelt begegneten. Dass man diesen Tieren menschliche Züge verlieh, konnte ein Hinweis auf die fortgeschrittene Entwicklung des menschlichen Bewusstseins sein, das sich bildhaft ausdrückte. Die Fähigkeit, das Bild eines Menschen mit dem eines Tieres zu verbinden, ist ein Ausdruck von Kreativität, einer typisch menschlichen Fähigkeit. Aus derselben Zeit stammen Frauenfiguren, die einen fettleibigen Körper mit auffallend stark entwickelten Extremitäten und Brüsten haben, sodass von Medizinhistorikern die Vermutung geäußert wurde, die enorme Fettgewebsbildung beruhe auf Wachstumsstörungen und sei somit eine körperliche Fehlbildung. Dagegen spricht aber die weite Verbreitung dieser Frauenfiguren im eurasischen Raum, sodass eher von einem Schönheitsideal oder besser einer Idealfigur der Frau auszugehen ist. Vielleicht stellten diese Figuren eine weibliche Göttin dar, die als Erdgöttin bzw. Fruchtbarkeitsgöttin noch vor dem Aufkommen von männlichen Göttern verehrt wurde.
In Stein gehauene Monstergestalten finden sich bereits seit dem 3. Jahrtausend in den Hochkulturen am Nil und im Zweistromland. Die Ägypter verehrten die Sphinx, ein Mischwesen mit einem Tierkörper und einem menschlichen, meistens weiblichen Gesicht. Die zahlreichen Darstellungen unterscheiden sich in der Wahl des Tierkörpers, die vom Löwen, über den Stier und die Schlange bis zum Pferd reichte. Am berühmtesten ist die Sphinx, welche die Große Pyramide von Gizeh bewacht. In der langen Geschichte Ägyptens wurden Sphinxen auch manche guten Eigenschaften zugeschrieben, so zum Beispiel, dass sie Schätze und religiöse Kultobjekte bewachten. Dennoch galt ihr Charakter als bösartig, worauf schon ihr Name, „Würger“, hinweist. Sie galten als den Menschen feindlich gesonnen und als Verkörperung des Bösen. Die griechische Sphinx wurde nach der Legende von Hera, der Gemahlin des Zeus, nach Theben geschickt, um einen Frevel zu rächen. Jedem, der ihr begegnete, stellte sie eine Frage, die als Rätsel der Sphinx sprichwörtlich wurde: „Wer hat eine Stimme, ist am Morgen vierfüßig, am Mittag zweifüßig und am Abend dreifüßig?“ Wer keine Antwort geben konnte, wurde verschlungen. Nur Ödipus löste das Rätsel, indem er die richtige Antwort gab: „Das ist der Mensch in seinen 3 Lebensphasen: Kindheit, Reife und Alter.“ Hierauf stürzte sich die Sphinx von einem Felsen und starb.
Darüber hinaus siedelten die Ägypter zahlreiche grauenhafte Monstergestalten und Ungeheuer im Totenreich an.
Zur gleichen Zeit war auch in Mesopotamien die Liste der bedrohlichen Ungeheuer lang. So übte das Monster Tiamat eine große Faszination auf die Babylonier aus. Tiamat stellte man sich in der Gestalt eines Drachen vor. Sie, verkörpert das Chaos schlechthin und ist ein erklärter Feind der Menschen, die von dem Gott Marduk Unterstützung gegen sie erhalten. Moderne Deutungen sehen in Monstern wie Tiamat und der Sphinx Sinnbilder der Eltern, und der Urerfahrungen der Menschen. Die Auseinand ersetzung des Ödipus mit der Sphinx und der Kampf des Marduk mit Tiamat wäre demnach eine symbolische Darstellung des Generationenkonflikts, den die Jüngeren mit den Älteren, die Kinder mit ihren Eltern ausfechten. Die Loslösung aus dem Familienverband wird als Kampf angesehen. Bezeichnenderweise sind beide Monster weiblich, was ein Hinweis auf die ursprüngliche matriarchalische Gesellschaftsform ist, in der die Frau eine zentrale Rolle spielte. Eine solche weiblich dominierte Gesellschaft kann für die Frühzeit Ägypten und des Zweistromlandes angenommen werden. Die beiden Monster Sphinx und Tiamat, Symbole für die elterliche Gewalt, die von Kindern als feindlich und furchterregend empfunden wurde, lebten im kollektiven Unterbewusstsein der Ägypter und Babylonier fort, wenngleich man ihren Ursprung völlig vergaß.
Tiamat
Unter den Keilschrifttexten aus der Bibliothek des assyrischen Königs Assurpanibal fanden sich zahlreiche Tafeln, die sich mit Missgeburten und ihrer Deutung beschäftigen. Da die Gestirne das Leben der Menschen beeinflussten, galten Fehlbildungen bei Neugeborenen als Resultat bestimmter astronomischer Konstellationen. Die folgenden Passagen aus Keilschrifttexten veranschaulichen, welche Deutungen man Missgeburten zuschrieb:
„Die Geburt eines menschlichen Zwitters bringt den Sohn des Königs an die Macht. Ein neugeborenes Kind mit einer Missbildung an einem Ohr führt zur Zerstörung des Hauses, wo das Kind geboren wurde. Fehlt der Mund, dann wird die Hausherrin sterben. Hat das Kind keine Nasenlöcher, dann wird der Hausherr sein Vermögen verlieren, was auch eintritt, wenn das Kind keine Zunge hat. Fehlen dem Kind die Geschlechtsteile, dann gerät das Land in Not. Drei Füße beim Neugeborenen bringen dem Land Reichtum. Eine Zwillingsgeburt eines Jungen und Mädchens vergrößert das Land. Ein Feind greift das Land an, wenn ein Kind mit sechs Fingern an der rechten Hand geboren wird. Dasselbe Schicksal ereilt das Land, wenn ein Kind mit sechs Zehen am rechten Fuß zur Welt kommt.“
Man muss sich jedoch davor hüten, eine solche Deutung auf alle „Monster“ zu übertragen. Für scheinbar monströse Kreaturen gibt es oft eine viel einfachere, medizinische oder biologische Erklärung, die „Monstergestalten“ mit Hilfe von Fehlbildungen bei Menschen und Tieren erklärt. Der Gynäkologe Friedrich Schatz (1841-1920) unternahm zuerst den Versuch, griechische Monster auf angeborene körperliche Anomalien zurückzuführen. Wenn heute etwa 3 % der Neugeborenen Fehlbildungen aufweisen, so muss man diesen Prozentsatz für die früheren Jahrhunderte erheblich höher ansetzen. Nach Kriegen und in anderen Zeiten schlechter hygienischer und gesundheitlicher Verhältnisse erhöhte sich diese Rate. Für die Antike waren „Missgeburten“ ein gewöhnliches Alltagsproblem. Ein missgestaltetes Neugeborenes konnte straflos getötet werden, was, wie wir aus griechischen Quellen wissen, sehr häufig vorkam. Seltene und als abscheulich empfundene Missbildungen waren Gegenstand abergläubischer Vorstellungen, weil sie Furcht und vor allem das Gefühl der Machtlosigkeit gegenüber höheren Gewalten hervorriefen. Auch wenn sich das Gefühl einer unmittelbaren Bedrohung allmählich abschwächte, beschäftigte sich die Fantasie weiter mit den Missbildungen. Leicht wurde das tatsächlich Beobachtete durch Ausschmückungen, Verallgemeinerungen und dichterische Zutaten verändert, eine Missgeburt zu einem feindlichen Wesen im Götterhimmel, einem der zahlreichen Halbgötter, gemacht. Wichtige Götter werden als makellose Vorbilder gesteigerter menschlicher Fähigkeiten wie Schönheit, Mut und Stärke dargestellt. Für die Halbgötter mit einem schlechten Charakter aber schienen seltene und groteske menschliche Fehlbildungen die geeigneten Modelle. Die antiken Schriftsteller geben uns Hinweise, wie dieser Vorgang ablief. So sollen nach Plinius die antiken Priester in den Tempeln wunderliche Dinge, zu denen auch Missgeburten gehörten, aufbewahrt haben, die bei Festen dem Volk gezeigt wurden. Es liegt nah, dass die Priester sich mit diesen „Wunderdingen“ beschäftigt haben und einem solchen furchterregenden Wesen eine Deutung gegeben haben.
MONSTER AUS DER MYTHOLOGIE
Die Beweise, die Friedrich Schatz vorbringt, um grausame Ungeheuer der griechischen Mythologie als Vergöttlichung von Menschen oder Tieren mit körperlichen Fehlbildungen zu erklären, sind überzeugend. So führt er den einäugigen Zyklopen Polyphem, der von Odysseus geblendet wurde, auf einäugige menschliche Fehlgeburten zurück.
Einäugige Menschen
Homer schilderte, wie Odysseus nach der Zerstörung Trojas nach Sizilien, dem Land der Zyklopen, kam und die Höhle eines solchen Riesen betrat. Nach seiner Rückkehr...