2. Das freie Neutron - ein kurzer Exkurs durch die Physik- und Kulturgeschichte
Die Idee ist hier, einige Begebenheiten, Weisheiten und Leitsätze aufzugreifen und zu kommentieren, die dem freien Neutron gewidmet worden sind. Selbstverständlich bleibt es nur bei einer Auswahl.
Es ist nicht lange her, da rangen die Physiker noch um das Verständnis des Atomkerns, von dessen Existenz sie inzwischen überzeugt waren. Denn wie ist es möglich, dass sich die positiv geladenen Protonen im Kern nicht abstoßen? Welche Kräfte halten zusammen, welche stoßen ab? Das waren damals wirklich wichtige Fragen. Ernest Rutherford postulierte zwar bereits im Jahr 1920 ein vermittelndes neutrales Kernteilchen2.1), doch da war die Struktur des Atomkerns noch umstritten und experimentelle Nachweise fehlten weitgehend. Ausgerechnet der unscheinbare Beryllium-Atomkern, dem nach späterer Erkenntnis so manches natürlich-freie Neutron tatsächlich sein kurzes Leben verdankt, verführte zudem die deutschen Physiker im Jahr 1930 zu einer für sie ruhmschwächenden Fehlinterpretation: Aber sie hatten doch zumindest schon seinerzeit das Neutron anhand seiner Wirkung definitiv im Visier!
Selbst der eigentliche Entdecker, James Chadwick, war zwei Jahre später noch ziemlich verunsichert, wie wir gemäß Abschnitt 1 wissen. Es ist daraufhin dennoch ein naturwissenschaftlicher Dammbruch erfolgt, und trotz des schier Unmöglichen erwuchs aus dem winzigen Kernteilchen ein Wirkungsriese, der insbesondere die Physik noch heute bis in die Grundfesten beschäftigt. Bald reifte freilich die Erkenntnis, dass sich dieses Neutron und das Proton, sein Partner im Atomkern, ihrerseits aus Quarks-Elementarteilchen zusammensetzen, die sich mit einer ungeheuren Bindungsenergie aneinanderklammern: Die Starke Kernkraft - neben der Gravitation und der elektromagnetischen die dritte Grundkraft der Natur - geriet nun in den Fokus der Physik. Und wieder entschlüpfte das elektrisch neutrale Ding sprichwörtlich durch ein Schlüsselloch dieser Disziplin bis diese die Lösung in der Gleichung seines sogenannten Beta-Minus-Zerfalls (ß--Zerfall) fand, denn das Neutron in gewissen instabilen Kernen wandelt sich letztlich spontan in ein Proton, ein Elektron und ein Antineutrino um. Inzwischen steht aber fast alles fest, und man weiß sogar, dass Neutronen diesem ß--Zerfall nicht nur gelegentlich im angedeuteten Bindungszustand, sondern gerade auch in der Freiheit unterliegen, siehe Abschnitt 5. Dort, also auch in der Biosphäre, haben sie allerdings nur eine Lebensdauer von ca. 15 Minuten2.2). Und fast nebenbei kam man so der verantwortlichen vierten Grundkraft der Physik, der Schwachen Kernkraft, auf die Spur. Außerdem erkannte man, dass Neutronen doch einer elektromagnetischen Wechselwirkung unterliegen und somit elektronische Wirkungsquerschnitte aufweisen, denn sie haben ein magnetisches Moment (μn)2.3), was ihren Quarks zuzuschreiben ist. Diese Eigenschaft in Verbindung mit ihrer Ladungsneutralität nach außen macht die freien Neutronen z.B. in Konkurrenz mit Röntgen- und Elektronenstrahlen in der Materialstruktur-Diagnostik einzigartig2.4, 2.5), denn ihr μn korrespondiert auch mit den Elektronen der Atomhüllen. Jene kombinierte Wechselwirkung mit Bindungselektronen und mit Atomkernen ist infolge der zum Teil sehr großen Wirkungsquerschnitte vielleicht zudem die eigentliche Existenzgrundlage biologischer Materie, indem sie deren strukturelle Stabilität und die Lebensdauer vielleicht entscheidend bestimmt, siehe unten.
Wenn wir auf die Waage treten, so wissen wir heute als gebildete Menschen, dass etwa 50 % des angezeigten Gewichts die in den Atomkernen gebundenen Neutronen leisten. Sie sind für uns unverzichtbar, unschädlich und halten sogar als Bindungspartner der Protonen unseren Feuertod im Krematorium aus, denn die atomaren Kernkräfte sind so unvergleichlich viel stärker als die elektromagnetische Coulomb-Kraft, die der Flamme zugrunde liegt.
Völlig anders sind dagegen die freien Neutronen einzuordnen, um die es im vorliegenden Buch geht: Wir werden unterscheiden kosmische Sekundärneutronen (nSek) und terrestrische Geoneutronen (nGeo). Die freien Neutronen gewannen seinerzeit so schnell an Popularität, dass der Schweizer Professor der Physiologischen Chemie, J. F. Miescher2.5), schon im Jahr 1947 seinen missverständlichen Beitrag „Das Neutronengas“ mit dem Satz „Das Neutronengas, das man auch das Element Null nennen kann, ist etwas außerordentlich interessantes.“ einleitete. Ganz klar, ihn und die übrige damalige physikalische Laienschaft faszinierte die Kernenergie: „… so sind diese Neutronengasfabriken zugleich technisch interessante Wärmequellen.“ O Gott, der ahnungslose Miescher rührte unbedarft am Thema der Kernkraftwerke (seit 1954) und hatte offenbar noch keine richtige Vorstellung von den radioaktiven Auswirkungen der schon vor Jahren über Hiroshima und Nagasaki abgeworfenen Bomben. Gerade dies müsste ihm nämlich zu denken gegeben haben, denn er war doch von Hause aus Mediziner! Nun, seine Kollegen unterschätzen wohl heute noch - auf Kosten der Gesundheit ihrer Patienten - die Kernkraft bei niedrigen Strahlungsdosen.
Einiges änderte sich freilich in den nächsten 20 Jahren nach dem phantasiegeladenen Ausflug J. F. Miescher`s. Ausdruck dessen ist zum Beispiel die Tatsache, dass der gesellschaftskritische Journalist A. A. Guha im Jahr 1977 - mitten im Kalten Krieg - seine berühmte Buchüberschrift „Die Neutronenbombe oder Die Perversion menschlichen Denkens“2.6) wählte. Dazu animierte ihn das inzwischen nicht nur unter Spezialisten verbreitete Wissen, wonach Neutronen mineralische Stoffe, wie Bausteine und Beton sowie sogar Stahl und Blei quasi zerstörungsfrei durchdringen, jedoch Menschen, die sich dahinter verbergen, töten können. Als man dies erfuhr, ist man damals sehr erschrocken, und das mysteriöse freie Neutron geriet einerseits auf den Index des Bösartigen, drang aber auch als lebensfeindliches Agens endgültig in das Bewusstsein der Menschheit ein. Es gibt jedoch aus dem medizinischen Umfeld zumindest für bestimmte Tumorerkrankungen auch scheinbar gute Nachrichten, denn „Neutronen haben sich bei der Behandlung … im nationalen und internationalen Vergleich mit anderen Strahlenarten als deutlich effektiver erwiesen, so dass etwa 15 % der radioonkologischen Patienten von der Neutronentherapie profitieren konnten.“2.7). Dieser positive Schein trügt aber, denn schließlich beruht ja das Verfahren auf der Zerstörung von Zellen mit Neutronen, denen der Unterschied bösartig/gutartig allfällig völlig gleichgültig ist! Daher bleibt die Neutronen-Therapie weiter umstritten. In neueren Veröffentlichungen der biophysikalischen Forschung und der Neutronen-Tumortherapie fielen nämlich inzwischen nicht weniger beunruhigende Sätze aus der Feder von Physikern auf, die das Grauen des A. A. Guha noch viel verständlicher machen:
* “Schon eine einzige Einfangreaktion beschädigt die Desoxyribonukleinsäure im Zellkern so stark, dass die Zelle abstirbt.“2.8)
* “Ein Photon (Röntgenstrahl) führt in der Zelle zu einer sehr lockeren Ionisation. Ein Neutron verursacht dagegen im Zellkern sehr viele, dichte Ionisationspunkte und damit auch mehr Schäden.“2.9)
* “Im Vergleich zu konventionellen Strahlen - gemeint sind Röntgen- und Gammastrahlungen - erzeugen Neutronen wesentlich mehr nicht oder schwer reparierbare DNS-Veränderungen (Doppelstrangbrüche).“2.10)
Es kam die Erkenntnis hinzu, dass die Zellfusion2.11) „auch durch Neutronen beeinflusst werden kann, die in der Erdkruste generiert werden“2.12). Das ist vor allem für Embryonen eine tödliche Gefahr. Um dieses lebenswichtige Phänomen zu verstehen, muss man sich einmal das biophysikalische Geschehen in einer lebenden Zelle wie folgt vergegenwärtigen: Das „elektronisch“ regierte Leben existiert in dem thermischen Fenster zwischen etwa -60o und +42o Celsius (wir schränken absichtlich etwas ein). Das entspricht etwa dem schmalen Energieband von 0,02 bis 0,03 eV, in dem sich die molekularen Bindungs-, Transport- und Massenaustausch-Prozesse abspielen. Bei zu niedrigen Temperaturen stoppen die Mechanismen der Zellteilung und des Wachstums. Um dies jedoch im mittleren Energiebereich zu ermöglichen, sind Massen- und vor allem Energieeinträge gleicher Größenordnung aus der Umgebung notwendig2.13). Wie wir später noch erfahren werden, siehe Abschnitt 5, befinden sich die meisten freien Neutronen in der Biosphäre durch die sogenannte Thermalisierung energetisch gerade in diesem Zustand. So kann man behaupten, dass diese Neutronen - die ja auch ständig in die Zellen gelangen - für die zellularen Lebensprozesse sogar notwendig sind, indem sie zwar infolge der Elektron-Neutron-Wechselwirkung schädliche Anregungszustände erzeugen oder Moleküle...