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E-Book

Das Geschenk der Sterblichkeit

Wie die Angst vor dem Tod zum Sinn des Lebens führen kann

AutorJan Kalbitzer
VerlagBlessing
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783641216641
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Als junger Familienvater mit Ende dreißig entwickelt Jan Kalbitzer plötzlich eine diffuse, tief greifende Angst zu sterben, die sich zunächst in ausgeprägten körperlichen Stresssymptomen und dann in einer schweren Erschöpfung zeigt. Als Psychiater macht er sich auf die Suche nach den psychologischen Ursachen dieser Angst, da schulmedizinisch alles in Ordnung ist. Er spricht mit Freunden, Kollegen und Geistlichen, um zu lernen, wie man Zufriedenheit und das Leben aushält und ob es möglich ist, einfach so vor sich hin zu leben und aus dieser Haltung heraus ein erfülltes, glückliches Leben zu führen. Gleichzeitig tritt er mit den großen Psychologen und Lebenskennern Eva Jaeggi, Steven C. Hayes und Irvin Yalom in Kontakt und lässt sich von ihnen therapeutisch begleiten.




Jan Kalbitzer, Jahrgang 1978, ist promovierter Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Er arbeitet als Psychotherapeut in eigener Praxis und forscht an der Charité zu gesundem Umgang mit technischem Fortschritt und gesellschaftlichem Wandel. 2015 erhielt er für seine Forschung den Max-Rubner-Innovationspreis. 2016 erschien sein Buch Digitale Paranoia. Jan Kalbitzer lebt mit seiner Familie in Berlin

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Leseprobe

Wie mich, als ich alles erreicht zu haben glaubte, plötzlich eine seltsame Angst vor dem Tod überkam

Auch Ärzte und Therapeuten haben Krisen. Die meisten Psychiater und Psychotherapeuten haben sich ihren Beruf sogar ausgesucht, weil sie selbst sehr gut wissen, was eine psychische Krise ist. Nur wenn sie selbst in der Lage sind, Krisen zu überwinden, können sie anderen Menschen helfen. Sie brauchen eine eigene Therapie, um aus der Erfahrung eine Ressource zu machen. Sonst laufen sie Gefahr, dort, wo sie selbst verletzt wurden, übersensibel zu reagieren und ein Helfersyndrom zu entwickeln – oder abzustumpfen und ihren Patienten gegenüber zynisch zu werden. »Selbsterfahrung« heißt die Psychotherapie, die deshalb jeder Therapeut im Rahmen der eigenen Ausbildung aus gutem Grund machen muss.

Mit Patienten über die eigene Krise reden sollten Therapeuten jedoch nur wohldosiert. Der Raum in der Therapie gehört den Patienten, er soll nicht der Erleichterung eines mitteilungsbedürftigen Therapeuten dienen. Sinn macht es dort, wo es Patienten beim eigenen Verständnis, bei der eigenen Entwicklung hilft. Mehr über ihre Krisen sprechen sollten Therapeuten hingegen in der Öffentlichkeit. Denn wenn wir es ernst meinen mit dem Kampf gegen die Stigmatisierung und dem Argument, dass aus Krisen neue Kraft und Kompetenz erwachsen kann, dann müssen wir mit eigenem Beispiel vorangehen und die große Bedeutung der Krise für die eigene Entwicklung benennen. Auch wenn gerade wir Ärzte dazu den weißen Kittel ablegen müssen, dessen Funktion viel zu häufig darin besteht, sich vom Leid der Patienten abzugrenzen. Gerade auf psychiatrischen Stationen, auf denen ärztliche Arbeit oft vorwiegend im Sprechen besteht, ist der weiße Kittel mittlerweile vor allem nur noch eins: ein Fetisch – und nichts, was man der Hygiene wegen tragen muss.

Dabei vereint uns Menschen nichts so sehr wie das Wissen um die Unausweichlichkeit des eigenen Todes. Und für die meisten Menschen führt diese Erkenntnis zunächst in eine Krise mit schweren Ängsten und Depressionen. Manche Menschen tragen diese Angst seit ihrer Kindheit mit sich herum, und andere trifft sie erst im hohen Alter, wenn die Freunde um einen herum anfangen, krank zu werden und zu sterben – oder wenn bei einem selbst die ersten Symptome einer schwerwiegenden Erkrankung auftreten. Und fast alle fühlen sich sehr einsam mit dieser Angst – bis sie anfangen, darüber zu sprechen. Gerade ältere Menschen berichten mir manchmal, wie sie von ihren Bekannten Tabletten zugesteckt bekommen, die diese schon seit Jahren aufgrund genau der gleichen Ängste, der Schwindelgefühle, des Herzrasens und der schlaflosen Nächte nehmen. Das Teilen eines Tablettenblisters mit Beruhigungsmitteln wird so zum Aufnahmeritual einer verschworenen Gemeinschaft.

Mich traf die Angst vor dem Tod mit Ende dreißig. Einer von vielen typischen Zeitpunkten. Manche entwickeln die Erkenntnis der bedrohlichen Endlichkeit der Welt schon als Kind, wenn zum Beispiel wichtige Bezugspersonen wie die Großeltern oder Urgroßeltern sterben oder sie ein Umzug oder Schulwechsel aus vertrauten Bezügen reißt. Und neben den Ängsten in der Kindheit und der Lebensmitte gibt es auch die Angst der Älteren, die anfangen, Dinge in ihrem Leben aufzugeben – ohne die Perspektive zu haben, dass danach wieder etwas Neues kommen wird.

Die Mitte des Lebens ist insofern ein besonderer Zeitpunkt für diese Angst, weil sich die Perspektive langsam dreht, der Blick ist nicht mehr permanent nach vorne gerichtet und begegnet in der Wendung zu der oft vergangenheitsorientierten Sicht der älteren Menschen in großer Härte den Realitäten der Gegenwart. Rückblickend stellt dieser Moment für viele Menschen einen Zeitpunkt großer Aufrichtigkeit und Radikalität dar, der wichtigen Lebensentscheidungen vorausgeht. Aber da diese Einsicht meist erst im Nachhinein kommt, ist die Begegnung an sich für viele sehr qualvoll und zieht sich lange hin. Und meiner Erfahrung nach ist der beste Umgang mit Ängsten der, offen darüber zu sprechen, denn nur dann erzählen andere Menschen auch von sich. Die Einsicht, dass es sich bei diesen Ängsten um eine Erfahrung handelt, die viele Menschen machen, die also womöglich zum Leben dazugehört, und die Einsicht, dass diese Phase auch bei anderen Menschen vorbeigegangen ist und womöglich zu etwas Besserem geführt hat, erleichtert es, schneller in den produktiven Teil überzugehen, sodass aus dieser schmerzhaften Begegnung im besten Fall ein Geschenk werden kann.

Der Tag, an dem ich der Angst begegnete, war bis dahin eigentlich ein sehr schöner Tag gewesen – schöner als viele andere. Es war Mitte April, und ich hatte Berlin morgens mit dem ICE verlassen. In der letzten Zeit hatte ich viel gearbeitet, und nun genoss ich es, Musik mit Kopfhörern zu hören und dabei das Gefühl zu haben, ganz allein zu sein. Nichts zu hören, was ich nicht hören wollte. Nicht sprechen zu müssen, keine Antworten schuldig zu sein.

Während der Zug nach Süden sauste, ging die Sonne über der Brandenburger Landschaft auf, zog weiter durch den Himmel, und als ich in München ankam, war draußen ein warmer Frühlingsnachmittag. Ich war zum ersten Mal in München und hatte erst am nächsten Morgen einen Termin. Und obwohl ich pompöser Architektur in der Regel wenig abgewinnen kann, beeindruckten mich schon vom Hauptbahnhof aus die Gebäude der Stadt. Deshalb beschloss ich, zu Fuß zu meinem Hotel zu gehen. Ohne Ortskenntnis ging ich zunächst zum Stachus, dann in Richtung der berühmten Türme durch die belebte Fußgängerzone zur Frauenkirche und anschließend am Rathaus vorbei zu den Ständen und Geschäften des Viktualienmarkts. Am Isartor holte ich zum ersten Mal mein Telefon heraus, um auf die Karte zu schauen. Ich orientierte mich links in Richtung meines Hotels und folgte einer großen Verkehrsader, bog dann aber doch wieder ungeplant in die Maximilianstraße ein und landete anschließend beim imposanten Bayerischen Landtag. Schließlich hatte ich genug von der architektonischen Pracht und ging am Isarufer entlang zum Englischen Garten. Leicht bekleidete, lachende Menschen lagen auf den Wiesen, und die entgegenkommenden Spaziergänger lächelten mich freundlich an.

Über eine Brücke verließ ich den Park und gelangte zu einem kleinen Platz, an dem sich mein Hotel befand. Ich ging zur Rezeption und nannte meinen Namen. »Ihr Verlag hat ein schönes Zimmer für Sie reserviert, Herr Dr. Kalbitzer«, sagte der Mitarbeiter respektvoll. Mein Verlag. Leicht benommen nahm ich meinen Schlüssel und ging hinauf in das Zimmer. Es war schlicht und sauber, roch aber etwas nach Putzmitteln. Ich öffnete die Fenster, und von draußen strömte mit der frischen, warmen Frühlingsluft eine friedliche Mischung aus Vogelgezwitscher und Stimmengemurmel herein. Ich legte meine Jacke auf das Bett, setzte mich daneben und schaute hinaus.

Ich hatte noch amüsiert die Nachttischlampe fotografiert: Der Ständer der Lampe bestand aus kleinen Elefanten, die jeweils auf den Schultern der anderen standen. Bei einigen waren die Stoßzähne abgebrochen, was mich in Anbetracht des durchaus gepflegten Hotels überraschte. Ich schickte das Foto an meine Frau, mit der scherzhaften und zugleich stolzerfüllten Frage, ob die bekannteren Autoren des Verlages wohl auch in diesem Zimmer untergebracht würden. Dann ging ich zum Fenster, lehnte mich an den Fensterrahmen und atmete die Frühlingsluft ein. Ich nahm meine Jacke vom Bett auf, klopfte sie etwas ab und entdeckte an der Schulter die Reste des Frühstücksbreis, den unser Sohn bei der Verabschiedung noch am Mund gehabt haben musste. Der Fleck ließ sich nicht wegputzen, aber das war egal. »Orden der Vaterschaft« hatte ein befreundeter Vater diese Flecken einmal genannt. So fühlten sie sich auch an. Ich lächelte den Herrendiener an. Was für ein großartiges Gefühl, stolzer Vater zu sein und genau die Dinge im Leben tun zu können, die ich mir immer gewünscht hatte! Dann zog ich die Überdecke zurück, nur so weit, dass mein Kopf auf dem sauberen Kissen liegen konnte, und legte mich auf das Bett.

Von dort stürzte ich in die Tiefe. Nicht plötzlich und zunächst gar nicht unangenehm: Nachdem ich die Augen geschlossen hatte, entstand in meinem Kopf und meinem Oberkörper das Gefühl einer intensiven Leere. Dann schien das Bett auf einmal keinen Halt mehr zu bieten, und es fühlte sich an, als ob sich mein Körper in einem weiten dunklen Raum befände. Sobald ich die Augen schloss, war er da, und ich begann, rückwärts in ihn hineinzustürzen.

Ich hatte keinen Alkohol getrunken, nicht geraucht, und es gab auch sonst keine äußeren Umstände, mit denen ich mir das Erlebnis hätte erklären können. Ich war bei all dem komplett wach, konnte die Augen öffnen, mich normal bewegen. Es gab, soweit mir eine Selbstuntersuchung möglich war, auch keine neurologischen Auffälligkeiten. Es war eher so, dass ich durch das Schließen der Augen einfach losließ und sofort anfing zu stürzen. Es fühlte sich an, als ob langsam und tonlos alle Gewissheiten in mir splitterten. Ich konnte den Vorgang durch das Öffnen der Augen zwar kurzzeitig unterbrechen, aber ich wusste auch, dass es sinnlos war. Dass es weitergehen würde, sobald ich die Augen wieder schloss. Ich machte die Augen wieder zu und fragte mich, wie lange es dauern würde. Es waren ungefähr zwei Minuten.

Als der Sturz vorbei war, machte ich die Augen wieder auf. Ich fühlte mich unruhig und leer. Da ich den Zustand nicht begreifen konnte, versuchte ich, mich irgendwie dingfest zu machen, mich zu verorten. Ich nahm mein Telefon und schickte meiner Frau die Freigabe meines Standorts. So konnte sie jederzeit sehen, wo ich...

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