Daheim im Defereggen
Die Bedeutung, die ein Ort für unser Leben besitzt, hängt nicht allein von der Länge der Zeit ab, die wir dort verbringen, sondern mehr noch davon, in welcher Lebensphase wir uns dort aufhalten. So sind die Eindrücke und Erlebnisse der Kindheit und Jugend viel tiefer und nachhaltiger als die späterer Zeiten. Das gilt auch für Reimmichl, der am 28. Mai 1867 als Sebastian Rieger am Eggerhof in St. Veit-Inneregg in Defereggen das Licht der Welt erblickte. St. Veit und das Defereggental bildeten die nächsten Jahre die geografischen Grenzen seines kindlichen Lebensraumes.
Als Dreizehnjähriger verließ er dann das Tal, zuerst um die nächsten acht Jahre das Gymnasium in Brixen zu besuchen und anschließend, um sich vier Jahre im Theologischen Seminar auf das Priesteramt vorzubereiten. In dieser Zeit verbrachte er nur mehr die Sommerferien daheim. Später kehrte er überhaupt nur noch zu gelegentlichen Kurzbesuchen ins Elternhaus zurück. Dennoch blieb Reimmichl zeitlebens dem Defereggental und seinen Menschen tief verbunden. Darauf verweisen auch viele seiner späteren Romanfiguren, für die Menschen aus seiner engeren Heimat als Vorlage dienten.
Heute erreicht man das Osttiroler Defereggental problemlos mit dem Auto, entweder über die Felbertauernstraße, über Lienz oder – im Sommer von Südtiroler Seite aus – über den 2000 m hohen Staller Sattel. Vor 150 Jahren war das noch ganz anders. In Reimmichls Geburtsjahr 1867 fuhr noch kein Auto auf den Straßen und auch die Eisenbahn kannte man in Osttirol nur vom Hörensagen, denn die Bahnstrecke durch das Pustertal wurde erst 1871 eröffnet.
Somit war der Schritt das Entfernungs- und Zeitmaß jener Tage. Man ging zu Fuß, selten stand ein Fuhrwerk oder eine Kutsche zur Verfügung. Nachrichten übermittelte man schriftlich durch die Post oder durch Boten bzw. Botinnen. Und das blieb noch einige Jahrzehnte so.
Wer 1867 von Lienz ins Defereggental wollte, wanderte durch das Iseltal nordwärts und erreichte nach etwa vier Stunden den kleinen Ort Huben. Für dieselbe Strecke benötigt man heute mit dem Auto 20 Minuten. In Huben münden dann zwei Täler: rechts führt eine Straße nach Kals am Fuße des Großglockners und links verschließt zuerst einmal eine enge, dunkle Schlucht, durch die die Schwarzach hervorbricht, den Blick ins Defereggental. Die Straße ins Tal umfährt diese Schlucht in einem weiten Bogen und erklimmt so den Beginn dieses Hochtales. Schon seit Jahrhunderten führte zwar ein schmaler, rauer Karrenweg durchs Defereggental, aber erst 1910 wurde die heutige Straße errichtet und seither ständig weiter ausgebaut.
Die Deferegger Talstraße verbindet die Gemeinden Hopfgarten (1100 m, 800 Ew.), St. Veit (1500 m, 800 Ew.) und St. Jakob (1400 m, 1000 Ew.). Die drei Orte setzen sich auf einer Länge von über 20 km aus einer Vielzahl von Weilern – hier Rotten genannt – zusammen. Der Großteil der Siedlungen liegt aber nicht im Talgrund, sondern 300 bis 400 m höher auf Geländestufen des sonnseitigen Talhanges. Die Schattseite hingegen besteht aus einem geschlossenen Waldgürtel ohne Siedlungen. Fahrzeugtaugliche Verbindungen zwischen den einzelnen Höhensiedlungen und zu den Talorten wurden erst nach dem Zweiten Weltkrieg errichtet. Bis dahin musste alles Notwendige auf dem Rücken getragen werden. Übrigens: Zur Zeit Reimmichls siedelten im Tal dank guter Wirtschaftslage um 40 Prozent mehr Menschen als heute.
Reisen war im Jahre 1867 noch recht beschwerlich. Von St. Veit in Defereggen nach Matrei in Ostttirol, lange Zeit Verwaltungs- und Gerichtssitz für das Defereggental, sind es 22 km, eine Strecke von vier Stunden Gehzeit, hin und zurück also acht Stunden. Sollte ein St. Veiter gar eine „Weltreise“ nach Brixen oder Innsbruck geplant haben, musste er gut zu Fuß sein. Als Reimmichl 1880 zum Studium nach Brixen aufbrach, nahm er den damals gewohnten – nämlich kürzesten – Weg über das Gsieser Törl (2205 m) ins Südtiroler Gsiesertal nach Welsberg, wo er nach acht Stunden (!) Fußmarsch den Zug durchs Pustertal besteigen konnte.
Der Eggerhof, Reimmichls Geburtshaus in St. Veit-Inneregg im Defereggental. 1962 wurde am Haus eine Gedenktafel angebracht.
(Foto: Lottersberger/Reimmichlmuseum, Hall)
Die Natur allein bestimmte den Lebensrhythmus im Defereggental. Die Arbeit war schwer, das Gottvertrauen groß, der karge Ertrag unsicher. So auch am Eggerhof in St. Veit, der mittleren Gemeinde des Hochtales. Dieses Anwesen liegt auf einem schmalen Geländeabsatz in der Fraktion Inneregg, eine halbe Stunde über der Talsohle und eine halbe Stunde von der Kirche St. Veit entfernt. Die Aussicht ist spärlich, denn auf der gegenüberliegenden Seite, jenseits des Talbaches, erhebt sich ein steiler, dunkler, felsdurchsetzter Berghang. Am Hof lebten drei Generationen der Familie Rieger unter einem Dach. Reimmichls Großvater hatte noch die Tiroler Freiheitskämpfe erlebt und erzählte dem kleinen Sebastian oft davon. Dr. Hans Brugger, Reimmichls Neffe und Biograf, war überzeugt, dass diese Geschichten, die der kleine Bub – er wurde allgemein „Wastl“ gerufen – von seinem Großvater hörte, einige der frühen Reimmichlgeschichten stark beeinflussten.
1827 wurde Johann Rieger, Reimmichls Vater, geboren. Er war Nebenerwerbsbauer, denn bereits in jungen Jahren zog er hinaus in die Fremde, um mit Decken, Teppichen und Hüten zu hausieren. Jeweils im Frühjahr und im Herbst schulterte er die Kraxe, um als Wanderhändler in der Fremde sein Glück zu versuchen. Damit trat er in die Fußstapfen vieler seiner Vorfahren, denn die Not zwang zahlreiche Deferegger bereits im 17. Jahrhundert zu einem Nebenerwerb. Dafür bot sich das Hausieren mit Waren aller Art an, zuerst in der näheren Umgebung und später, mit mehr Erfahrung, auch auf weiten Reisen durch Europa. „Über das Tal würde vielleicht niemand etwas wissen, wenn es nicht schon früh durch die Teppichhändler in der halben Welt bekannt geworden wäre“, erklärte der Heimatforscher Ludwig von Hörmann 1877.
Im 18. Jahrhundert begannen die Deferegger mit Teppichen und Decken zu handeln. „Kotzen“ oder „Deferegger Teppiche“ hieß diese grobe Ware aus Kuhhaar, die sie im Pustertal einkauften. Später, als die Hausierer auch in die Städte gingen, waren feinere und kostbarere Decken und Teppiche gefragt. Die bezogen sie aus dem schwäbischen Nördlingen. Es gab Zeiten, in denen jeder fünfte Deferegger als Hausierer unterwegs war. Auch Reimmichls Großvater mütterlicherseits gehörte dazu.
Es hätte sich für einen einzelnen Händler jedoch nicht gelohnt, die Ware, die er auf seine Kraxe gepackt hatte, vom Defereggental bis in weit entfernte Länder zu tragen. Deshalb taten sich jeweils mehrere Hausierer zusammen – meistens waren es Verwandte und Freunde – und gründeten eine Handelsgesellschaft, eine sogenannte „Kompanie“, in die jeder einen bestimmten Betrag (Einlage) einzahlte. Mit dem Geld wurden in fernen Gebieten Lager angelegt und der Transport der Ware zu den Lagern organisiert. Der einzelne Hausierer reiste dann zum jeweiligen Lager und betrieb den Handel von dort aus. Zusätzlich wurden noch Lohnknechte angestellt. Anführer einer „Kompanie“ war jeweils ein versierter, erfahrener Hausierer.
Kehrte die „Kompanie“ nach erfolgreicher Handelsfahrt wieder ins Tal zurück, wurden alle Rechnungen beglichen, die Knechte entlohnt und der Gewinn entsprechend der Einlage unter den Gesellschaftern aufgeteilt. Dabei hatten die Knechte die Möglichkeit, zu Gesellschaftsteilhabern aufzusteigen: Sie konnten ihren Lohn, oder einen Teil davon, in der gemeinsamen Kassa stehen lassen, um zukünftig bei den Handelsreisen bereits mit bescheidenem Kapital als Teilhaber zu hausieren und am Gewinn beteiligt zu sein. Diesen Karriereweg ging auch der Eggerbauer Johann Rieger. Er begann in den 1840er-Jahren als Kompanie-Knecht und brachte es durch Fleiß im Laufe entbehrungsreicher Jahre schließlich zum wohlhabenden Gesellschafter. 1884 – Reimmichl war zu dieser Zeit bereits Kooperator in Sexten – schied Johann Rieger aufgrund einer chronischen Krankheit aus und ließ sich auszahlen. Ein Teilhaber konnte nämlich jederzeit Abrechnung verlangen und aus der Kompanie ausscheiden.
Auf diese Handelsfahrten wurden oft bereits Halbwüchsige mitgenommen. Die Hausierer erwarben sich deshalb bereits früh Handels- und Sprachkenntnisse, sie zeigten gewandte Umgangsformen: Reimmichls Vater wurde ein ausgezeichneter Geschäftsmann, war geschätzt wegen seines klugen Rates und konnte sich in drei Sprachen sehr gut verständigen.
Die Deferegger Hausierer blieben aber Bauern – trotz des großen wirtschaftlichen und finanziellen Erfolges. Der Handel war immer nur ein Nebenerwerb. Dass sie aber erfolgreich waren, zeigten sie deutlich: Sie kleideten sich gern nach neuester Mode, die sie auf ihren Fahrten kennenlernten. Wenn sie aber daheim in städtischer Kleidung zur Heuarbeit schritten, löste das im Tal natürlich Kopfschütteln aus:...