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E-Book

Das Gute leben

Von der Freundschaft mit sich selbst

AutorClemens Sedmak
VerlagTyrolia
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl128 Seiten
ISBN9783702234690
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Wenn man unser Leben mit einer Stadt vergleicht, so kann dieses Buch mit einem Stadtführer verglichen werden. Was sind die Sehenswürdigkeiten meines Lebens? Was zählt und was bleibt? Was sind unverzichtbare Bausteine für ein gutes Leben? Haben wir ein Leben oder leben wir ein Leben? Was möchte ich am Ende meines Lebens nicht bedauern müssen? Was verliere ich, wenn ich mein Leben verliere? Das Leben kann nicht nach einem vorgegebenen Lebensplan gelebt werden; es gibt Brüche, Krisen und stets die Möglichkeit eines Neuanfangs. Ein gutes Leben führt, wer das Gute zu leben versucht, sagt der Philosoph und Ethiker Clemens Sedmak. Und das Gute leben heißt auch, eine klare Richtung zu haben und das Leben als Weg zu sehen. Das Buch zeigt Wege auf für die Entwicklung von menschlicher Reife und für persönliches Wachstum. Es geht der Frage nach: Wie kann ich gut mit mir selbst auskommen? Und zeichnet Konturen der Freundschaft mit sich selbst. Die Kunst, mit sich selbst befreundet zu sein, beinhaltet, sich selbst zu kennen und sich selbst im Wachsen fördern zu wollen. Clemens Sedmak

DDDr. CLEMENS SEDMAK, geb. 1971, ist Theologe und Philosoph. Er ist Professor für Sozialethik am King's College der Universität London und leitet das Zentrum für Ethik und Armutsforschung in Salzburg. Der Vater dreier Kinder ist Autor zahlreicher Bücher, die sich mit den Fragen nach dem Sinn des Lebens beschäftigen: u. a. veröffentlichte er gemeinsam mit Erzbischof Alois Kothgasser bei Tyrolia Geben und Vergeben, Quellen des Glücks und Jedem Abschied wohnt ein Zauber inne und bei Ecowin die Bücher Wie man (vielleicht) in den Himmel kommt und Jeder Tag hat viele Leben.

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Leseprobe

1
ISSA


Im Februar 2014 hielt ich in einer kleinen amerikanischen Stadt ein kleines Mädchen in den Armen – Issa Grace, damals acht Monate alt. Sie war mit Trisomie 18 auf die Welt gekommen, ein winzig kleines Geschöpf; ihre Verdauungsorgane hatten sich aufgrund der Krankheit nicht ausbilden können, sie konnte deswegen nie flach liegen, sondern musste unablässig, 24 Stunden am Tag, gehalten werden. Viele Menschen wechselten sich darin ab, das Baby zu halten. Issa starb am 24. März 2014.

Sean und Felicia, ihre Eltern, sowie die drei Geschwister Sophie, Lucy und Seamus schrieben in einem kleinen Nachruf: „Ihre Reise war kurz, aber ihr Leben war voll von Bedeutung und Sinn und hat uns alle in Weisen geprägt, die sich erst in ihrer Abwesenheit offenbaren werden.“ 290 Tage lang hatte Issa gelebt; sie war Anfang Juni 2013 auf die Welt gekommen und die Ärztinnen und Ärzte hatten ihr nur wenige Stunden gegeben. Sie überlebte den ersten Tag, dann den zweiten Tag, den ersten Monat, den zweiten Monat. Stets mussten Issas Eltern die Geschwister darauf vorbereiten, dass sie wohl nicht mehr den Sommer, das Ende des Sommers, Halloween, den Advent, Weihnachten, das Jahresende … erleben würde. Issa schwebte zwischen Leben und Tod, viele Stunden ihres Lebens. Jeder Tag konnte der letzte sein. Dass sie dann mehr als neun Monate gelebt hat, ist schier ein Wunder.

Issa zu halten war für mich eine ganz besondere Erfahrung: Sie atmete ein wenig mühsam, machte kleine Bewegungen, zeigte sich zerbrechlich und doch so stark, kämpferisch in ihrem Lebenswillen, vertrauensvoll und ausgeliefert. Als ich Issa hielt, ging etwas in mir vor, die Erfahrung machte etwas mit mir, das schwer zu beschreiben ist. Es gibt die Phrase „Etwas bringt das Beste aus dir heraus“; etwas in dieser Art geschah in diesem Moment und für diesen Moment. Empfindungen von Schutzwillen und Ehrfurcht stiegen in mir auf; ich hatte das Gefühl, etwas in sich Bedeutungsvolles zu tun, etwas zu machen, das keine großen Begründungen und Erklärungen verlangte: Issa halten. So gesehen war nicht klar: Wer hält wen?

Hält das Starke das Schwache oder hält das Schwache das Starke? Im März 2015 durfte ich einen Gottesdienst anlässlich des ersten Todestages von Issa mitfeiern und lernte eine Reihe von Menschen kennen, die Issa regelmäßig gehalten hatten. Sie alle waren erfüllt von dieser Erfahrung, einer in sich ruhenden und transformativen Erfahrung, die die Menschen verändert hat. Issa hatte tatsächlich eine Stärke, wie sie nur das Schwache kennt – die Stärke nämlich, Hartes und Unerbittliches zu erweichen, Unbarmherziges und Gnadenloses zu vermenschlichen, das Gute in einem Menschen freizulegen. In der Bibel, im Buch Ezechiel, gibt es diese berühmte Stelle, die in der Osternachtsliturgie verlesen wird: „Ich entferne das Herz aus Stein aus eurem Leib und gebe euch ein Herz von Fleisch“ (Ezechiel 36,26).

Das beschreibt durchaus die Wirkung, die Issa auf Menschen ausübte. Sie hatte eine Macht, über die die Machthabenden dieser Welt nicht verfügen. Für mich war Issa eine Erinnerung daran, worum es im Leben eigentlich geht. Das scheinen große Worte zu sein – „worum es eigentlich geht“; damit möchte ich jedoch ausdrücken, dass ich nicht glaube, dass es im Leben darum geht, viel zu eilen und viel zu erreichen und viel zu leisten. „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es“, hatte Erich Kästner einmal geschrieben; es gilt aber auch: „Es gibt nichts Gutes, außer man lässt es zu“ – und um das Gute zuzulassen, muss man dem Guten Raum geben, und das heißt auch: sich zurücknehmen.

Issa eröffnete Räume für das Gute; ihre Eltern hatten erfahren, was es bedeutet, ein Kind zu lieben, das man gleichzeitig halten und loslassen muss; man muss dem Kind Halt geben, Stabilität, Unterstützung – und das alles im Wissen, dass jeder Tag der letzte Tag sein könnte. „Wir kennen nicht den Tag und nicht die Stunde“, sagte Felicia in Anspielung auf ein Wort Jesu im Matthäusevangelium (25,13) zu mir. Mit dieser Einstellung war Issas Familie gezwungen, im Augenblick zu leben, Tag für Tag, jeden Tag als besonderen Tag zu feiern.

„Issa bleibt ein Mysterium“, sagten die Eltern, ihr Leben hat etwas Kraftvolles wie Unergründliches, „sie ist ein Geschenk“. Immer wieder äußerte Felicia diesen Gedanken: Issa ist ein Mysterium, das wir nicht verstehen, sie ist ein Geschenk, schöner als alles, was sie sich je als Geschenk hätte vorstellen können oder träumen lassen. Ein Geschenk, das große Schmerzen verursacht: den Schmerz, Issa leiden zu sehen, den Schmerz, Issa nicht heilen zu können, den Schmerz, Issa zu verlieren; den Schmerz auch, Issas Geschwister leiden zu sehen. Sophie, Lucy und Seamus litten nicht nur mit ihrer Schwester mit, sie konnten auch weder in den Sommerferien 2013, noch zu Thanksgiving, noch zu Weihnachten irgendwo hinfahren. „Das ist nicht fair!“ – „Ja“, sagten die Eltern, „es ist nicht fair, aber so ist es, wenn man einen Menschen liebt und Opfer bringen muss.“

„Das ist nicht fair!“ – dieser Satz kann auf vieles, was Issas Leben ausmacht, angewandt werden. Ihr ganzes Leben war nicht fair; es war nicht fair, dass sie mit Trisomie 18 auf die Welt kam, es war nicht fair, dass sie Schmerzen hatte, es war nicht fair, dass sie nie sprechen, lesen oder schreiben lernen konnte oder tanzen oder singen. Und doch hatte Issas Leben eine Tiefe, wie sie mit der Kategorie „Fairness“ nicht vermessen werden kann. Hier sagt die Kategorie „Mysterium“ mehr aus als die Kategorie „Gerechtigkeit“.

Der Begriff der Fairness ist zu einem Schlüsselbegriff in modernen Gerechtigkeitstheorien geworden. Da heißt es, das gesellschaftliche Leben müsse so gestaltet werden, dass „faire Verhältnisse“ herrschten. Das kann man sich vor allem mit Blick auf Fußball klar machen. „Fairplay“ ist eine Abkürzung für gerechtes Gestalten. Ein Spiel ist fair, wenn weitgehend die gleichen Bedingungen für alle gelten und so etwas wie Chancengleichheit herrscht. Das Attribut „fair“ kann als „frei von Verzerrungen“ oder auch als „klar“, „unbehindert“ oder „moderat“ übersetzt werden. „Fairness“ hat insofern mit Unparteilichkeit zu tun, als zwei gegnerische Mannschaften dann auf faire Verhältnisse stoßen, wenn diese von einem unparteiischen Dritten bestimmt werden. Der Standard der Fairness setzt, um gediegen zu funktionieren, ein bestimmtes Maß an Gleichheit voraus. „Fairness“ ist ein wichtiger Begriff in einem Wettkampfgeschehen, also dort, wo Konkurrenz herrscht, wo Menschen um das Gleiche wetteifern.

Fairness hat nicht nur mit expliziten Regeln, sondern auch mit ungeschriebenen Regeln und Einstellungen zu tun. Fußballfans in Österreich erinnern sich an den 26. August 2000, als Christian Mayrleb im Dress von Austria Wien im Bregenzer Casinostadion ein Tor erzielte, das ungeschriebene Fairplay-Regeln und den fußballerischen Ehrenkodex verletzte: Er missachtete die Idee, dass der Ball nach der Behandlung eines verletzten Spielers wieder an jene Elf zurückgegeben wird, die den Ball ins Out geschossen hatte, um die Spielunterbrechung zu ermöglichen. Zur Verblüffung auch der eigenen Mannschaft schnappte sich Mayrleb den Ball und beförderte ihn ins gegnerische Tor, anstatt ihn galant an Bregenz abzugeben. Der damalige Austria-Wien-Präsident war dermaßen ob dieser Verletzung von Fairness-Standards aufgebracht, dass das Spiel neu ausgetragen wurde.

„Fairness“ ist ein gewichtiger Begriff, ein hoher Wert. Es verwundert nicht, dass „Gerechtigkeit als Fairness“ ein beliebter Gedanke ist. Fairness ist ein verständliches und gut begründbares Anliegen, aber Issas Leben spricht eine andere Sprache, muss in einer anderen Sprache gefasst werden, erzählt von Dimensionen, die mit dem Begriff „Fairness“ nicht ausgelotet werden können. Hier stoßen wir an eine Grenze, ähnlich der Grenze, die der berühmte Theologe Gustavo Gutiérrez in seinem Werk Von Gott sprechen in Unrecht und Leid über das biblische Buch Hiob beschrieben hat: Hiob ringt mit Gott und findet sich unfair behandelt, erhält aber keine Antworten auf seine Frage und sein Ringen um Gerechtigkeit. Hiob muss, so Gutiérrez in seiner Deutung, eine neue Sprache lernen, die Sprache des „Mysteriums“, die anerkennt, dass es Dimensionen gibt, die nicht mit Begriffen wie „Fairness“ oder „Gerechtigkeit“ vermessen werden können (ähnlich verhält es sich mit dem berühmten Gleichnis der Arbeiter im Weinberg [Matthäusevangelium 20,1–16], die alle „unfairerweise“ denselben Lohn erhalten, obwohl sie unterschiedlich lang gearbeitet haben). Issa war ein Mysterium und lehrte etwas über das Mysterium des Lebens.

Issas Leben schenkte den Eltern die, wie diese es beschrieben, „demutgebende Erfahrung, auf andere angewiesen zu sein“; die Familie hätte nicht leben können ohne Dutzende Menschen, die gekocht und geputzt, eingekauft...

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